4.

Man mache einen Überschlag: es liegt nicht nur auf der Hand, dass die deutsche Cultur niedergeht, es fehlt auch nicht am zureichenden Grund dafür. Niemand kann zuletzt mehr ausgeben als er hat - das gilt von Einzelnen, das gilt von Völkern. Giebt man sich für Macht, für grosse Politik, für Wirthschaft, Weltverkehr, Parlamentarismus, Militär-Interessen aus, - giebt man das Quantum Verstand, Ernst, Wille, Selbstüberwindung, das man ist, nach dieser Seite weg, so fehlt es auf der andern Seite. Die Cultur und der Staat - man betrüge sich hierüber nicht - sind Antagonisten: "Cultur-Staat" ist bloss eine moderne Idee. Das Eine lebt vom Andern, das Eine gedeiht auf Unkosten des Anderen. Alle grossen Zeiten der Cultur sind politische Niedergangs-Zeiten: was gross ist im Sinn der Cultur war unpolitisch, selbst antipolitisch. - Goethen gieng das Herz auf bei dem Phänomen Napoleon, - es gieng ihm zu beiden "Freiheits-Kriegen"… In demselben Augenblick, wo Deutschland als Grossmacht heraufkommt, gewinnt Frankreich als Culturmacht eine veränderte Wichtigkeit. Schon heute ist viel neuer Ernst, viel neue Leidenschaft des Geistes nach Paris übergesiedelt; die Frage des Pessimismus zum Beispiel, die Frage Wagner, fast alle psychologischen und artistischen Fragen werden dort unvergleichlich feiner und gründlicher erwogen als in Deutschland, - die Deutschen sind selbst unfähig zu dieser Art Ernst. - In der Geschichte der europäischen Cultur bedeutet die Heraufkunft des "Reichs" vor allem Eins: eine Verlegung des Schwergewichts. Man weiss es überall bereits: in der Hauptsache - und das bleibt die Cultur - kommen die Deutschen nicht mehr in Betracht. Man fragt: habt ihr auch nur Einen für Europa mitzählenden Geist aufzuweisen? wie euer Goethe, euer Hegel, euer Heinrich Heine, euer Schopenhauer mitzählte? - Dass es nicht einen einzigen deutschen Philosophen mehr giebt, darüber ist des Erstaunens kein Ende. -

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