Meine Schüler. Wer ist mein Lehrer? Die Thora und ihr Lohn. Das Gleichnis vom Vogel. Schlimme Gedanken und Zweifel
Wenn ich manchmal selbst mit großer Freude studiere, können es meine Schüler aus den reichen Häusern nicht begreifen. Sie fragen mich, ob ich auch noch lernen muß? Und wer mein Rebbe ist?
Die Dummköpfe! Sie wissen nicht, daß die Welt ein guter Rebbe ist, und die Sorge ums Brot – ein gar vortrefflicher Rebbe! Leiden und Unglück sind gute Melameds .. Die Mücke, die ewig das Gehirn sticht mit der Frage: »Und was werden wir essen?«, ist ein gar feuriger Rebbe! Und dann sind auch meine Schüler selbst mitsamt ihren Vätern – meinen Brotgebern – sehr feine Lehrer, ausgezeichnete Lehrer!
Alles treibt zum Lernen. Aber wie die Thora, so auch ihr Lohn. Schlage ich den Talmud auf, so werde ich ein andrer Mensch. Ich fühle, daß sich mir der Himmel auftut! Daß der Herr der Welt mir in seiner großen Gnade Flügel, große und breite Flügel verliehen hat! Und ich fliege auf diesen Flügeln empor – ich bin ein Adler, und ich fliege in weite Fernen fort; nicht übers Meer fliege ich, sondern aus der Welt ganz hinaus! Aus der Welt voller Lüge, Verstellung und bösen Leiden …
Und ich schwinge mich in eine ganz andre Welt hinauf, in eine neue Welt, in eine Welt, wo es nur Gutes gibt. In eine Welt, wo weder dickbäuchige Hausbesitzer noch unwissende vornehme Herren etwas gelten; wo es weder Geld noch Nahrungssorgen gibt, weder schwere Kindsnöte, noch hungernde Kinder, noch schreiende Weiber!
Und dort bin ich, ich, der arme, kranke, unterdrückte, hungernde Melamed, ich ärmster Bettler, der ich hier stumm wie ein Fisch bin und von allen wie ein Wurm getreten werde, – dort bin ich der Mensch, der Vornehme, dessen Meinung gilt! Und ich bin frei, und mein Wille ist frei, und ich habe zu befehlen! Welten baue ich auf und Welten zertrümmere ich und baue mir neue an ihrer Stelle! Neue, schönere und bessere Welten! Und ich lebe in diesen Welten und schwebe in ihnen herum! Ich bin im Paradiese, im wirklichen Paradiese!
Und ich weiß, daß ich mehr weiß, als ich meinen Schülern mitteilen will und kann, mehr als ich mir selbst eingestehe. Ich ahne Dinge, die man mit den Lippen gar nicht aussprechen kann, die kein Auge sieht und kein Ohr hört, die nur im Herzen blühen, nur im Herzen leben und pochen!
Die »zwei, die zugleich nach einem Gebetmantel greifen«, deren Streit der Talmud untersucht, sind für mich nicht zwei beliebige Menschen von der Straße, nicht ein Schimen und ein Ruben, wie ich es meinen Schülern erkläre; und auch der Gebetmantel, um welchen der Streit geht, ist kein gewöhnlicher Gebetmantel, wie man ihn im Laden von Jossel Pesches kaufen kann … Ich fasse es tiefer an!
Ich fange alle die Funken auf, die zwischen den Zeilen, zwischen den Worten, zwischen den Buchstaben leuchten; meine Seele saugt sie ein wie ein Schwamm! Ich fühle, wie mich das Licht, das der Frommen im Jenseits wartet, ganz durchtränkt und erfüllt!
Ach, nur sitzen und studieren! Nur studieren!
Und das muß ich euch auch sagen: wenn ich in reiche Häuser komme und sehe, wie die Leute ganze Nächte hindurch Karten spielen, oder die Zeit mit Weibern oder andern Eitelkeiten verbringen; oder wenn ich durch die Straße gehe und durch die offene Tür einer Schenke einen Handwerker sehe, wie er in einer Wolke von Tabakrauch sitzt und trinkt und dummes Zeug spricht; wenn ich das alles sehe, sage ich euch, werde ich gar nicht böse … ich mache den Leuten gar keine Vorwürfe; im Gegenteil: mir tut das Herz weh vor Mitleid mit ihnen!
Denn wenn wir es so betrachten, was sollen sie ohne Thora tun?
Wie ich bereits erwähnte, gab ich einmal auch in einem Dorfe Unterricht. Mein Schüler zeigte mir, wie am Ende des Sommers alle Vöglein zusammenflogen, um unser Land noch vor Wintersanfang zu verlassen … Ich sah, wie sie sich zu ganzen Heeren versammelten und davonflogen in weite Fernen …
Die kleinen Vöglein können und wollen hier nicht bei Schnee und Frost bleiben … In dieser Zeit hat hier so ein armes Vöglein keinerlei Lebensmöglichkeit … Und die Vöglein wissen es, sie fühlen es, daß der Winter naht, daß ihr Todesengel kommt …
Doch einmal sah ich, wie ein armes verkrüppeltes Vöglein mit einem gebrochenen Flügel auf der nassen, kalten Erde herumhüpfte; es piepste und konnte sich nicht vom Boden erheben, um den großen Vögeln nachzufliegen. Es war wirklich ein Jammer, zu sehen, wie das arme Vöglein keinen Platz finden konnte, wie es immer hüpfte und hüpfte, und den andern freien Vögeln, die schon davonflogen, nachsah …
Damals sagte ich mir: diesem kranken Vögelchen gleicht die Seele des Unwissenden!…
Fliegen können sie nicht, denn sie haben keine Flügel – keine Thora! Gib ihnen Thora, gib ihnen Flügel, so werden auch sie fliegen in die fernen Welten!
Man hat ihnen aber die Flügel zerbrochen, und darum hüpfen sie immer im kalten Straßenschmutz herum … Darum müssen sie schamlose Reden führen oder Karten spielen: der Reiche im Salon, der Arme in der Schenke …
Doch wollen wir zur Sache zurückkehren!
Also ich sitze und studiere. Die paar Leute, die noch im Bethause waren, sind einer nach dem andern heimgegangen. Der Schuldiener ging als letzter fort.
Was geht es mich an? Ich sehe es ja gar nicht!
Bei Licht, im warmen Bethause, den offenen Talmudband vor mir, fürchte ich allein nichts! Ich bin vertieft, ganz wie es sich gehört.
Die Thora gleicht doch, wie ihr wißt, dem Meere. Die Wellen schlagen und wollen mich verschlingen … Doch ich kann schwimmen! Ich tauche unter und bin schon wieder oben! Zuweilen wird das Meer still; schön, rein und klar wie der Himmel liegt es da, und meine Seele badet im frischen, belebenden Wasser; sie gleitet wie über einen Spiegel dahin in Wonne und Schönheit … Und das Wasser wäscht sie, reinigt sie von allen Flecken, von den schwarzen irdischen Stäubchen …
Und rein und heilig wird meine Seele …
Doch plötzlich fühle ich einen brennenden Schmerz in den Fingern, und ich sitze im Finstern …
Der Lichtstummel, den ich in den Fingern hielt, ist ausgegangen!
Alleinsein im Finstern fürchte ich. Und es überfällt mich eine große Angst!
Wenn es um mich herum hell ist, bei Tage oder auch bei Nacht, fürchte ich nichts. Mir ist gut! Ich sehe die Welt, und ich spüre den Hausherrn über der Welt! Ich sehe die Welt, und die Welt sieht mich. Und ich weiß, daß ich ein Teil der Welt bin, und daß ihr Hausherr auch mein Hausherr ist; daß ohne seinen Willen mir kein Haar gekrümmt werden kann. Er wird es nicht dulden, und auch die Welt selbst wird es nicht dulden. Warum sollten sie es auch zulassen?
Aber wenn ich allein im Finstern bin und die Welt nicht sehe, dann – ach, dann höre ich überhaupt auf, Mensch zu sein! Mich befallen böse Gedanken, und es scheint mir – Gott möge mich dafür nicht strafen –, daß ich gar keinen Zusammenhang mit der Welt mehr habe, daß man mich von ihr losgetrennt und aus ihr weggeführt hat … Ich habe mit ihr nichts zu tun; weder ich, noch mein Weib, noch meine Kinder … Nichts haben wir mit ihr zu schaffen! Gleich wird man mich oder einen von uns ganz still wegtun, und niemand wird es sehen, niemand wird es wissen und gewiß niemand fühlen.
Kaum war das Licht ausgegangen, als mich gleich meine Festtagsseele, die nur während des Lernens in meinem Leibe ist, verließ und ich bei meiner zitternden, erschrockenen Werktagsseele blieb, bei der Seele des bettelarmen Melameds … Ich bin wieder ein Nichts, ein Wurm, ein verlorenes Ding …
Und meine Lippen zittern: Gott soll helfen! Gott soll helfen!
Und das Herz nagt und bangt: Broche-Leë wird gebären … gewiß wird sie gebären. Sie wird sogar Zwillinge haben. Denn ihre Mutter war wegen ihrer Zwillingsgeburten berühmt!
Du hast wohl zu wenig an eigen Weib und Kind? Also fällt dir noch Broche-Leë mit einem Kind zu, Broche-Leë mit zwei, mit drei Kindern … Seinwel-Jechïel ruht im Grabe; er sitzt jetzt im Paradiese und lernt Thora. Und du arbeite und ernähre seine Tochter!
Und böse Gedanken sagen mir: Wenn Gott sich erbarmen will, so hat er keinen andern Ausweg, als den Todesengel zu schicken … zu mir … zu der Gebärenden …
Barmherziger Gott! Barmherziger Gott!
Und ich weiß, daß ich vor Gott sündige, daß ich in Gotteslästerung verfalle. Ich weiß das, doch ich habe nicht die Macht, den bösen Gedanken aus dem Herzen zu vertreiben … Denn allein bin ich schwach und im Finstern noch schwächer!
Ich weiß, daß das einzige Mittel dagegen die Thora ist, und ich will sie auswendig studieren; ich will mich auf eines der Probleme besinnen, doch ich kann nicht: ich habe alles vergessen, habe die ganze Thora vergessen!
Und ich rief mit allen meinen Kräften aus:
»Herr der Welt! Hilf mir! Hilf mir!«
Und es geschah mir ein Wunder!