VI

Das Wunder. Das verborgene Licht. Erlösung einer Seele. Der Todesengel, welcher kommt, weil man ihn rief

Als ich diese Geschichte später einem »Aufgeklärten«, einem meiner früheren Schüler erzählte, lachte er, und noch wie! Es war, sagte er, gar kein Wunder, sondern nur ein Zufall oder eine Einbildung, oder vielleicht gar ein Traum oder dergleichen.

Was macht das?

Jitro, Moses' Schwiegervater, hatte bekanntlich sieben Namen, und doch gab es nur einen Jitro!

Nenne es, wie du willst: Zufall, Einbildung, Wunder, – Geschichte bleibt Geschichte!

Ich weiß nur, daß gerade in dem Augenblick, als ich, Gott behüte, in die tiefste Hölle hinabzustürzen glaubte, sich das ganze Bethaus mit Licht füllte! Es war eine so blaue Helle wie in den Lichtsäulen, die manchmal im Sommer von der Sonne durch ein Fenster schräg in die Stube fallen …

Man sieht ganz deutlich, daß eine solche Säule aus kleinen Lichttropfen besteht und daß jedes Tröpfchen in ihr strahlend herumwirbelt.

Und eine solche Säule erfüllte damals das ganze Bethaus.

Plötzlich werde ich ruhig … und alles Denken hört auf!…

Das Bethaus ist von einer süßen Helle erfüllt. Und ich – von einem süßen, lichten Gottvertrauen! Und alles in mir ist so rein, so klar, so kristallen!

Und wie ich nach der Ostwand blicke, von der die Lichtsäule kommt, sehe ich jemanden!

Wen, glaubt ihr, sehe ich?

Meinen Bruder, gesegneten Angedenkens, sehe ich! Und gerade auf dem Platze, wo er bei Lebzeiten immer zu sitzen und zu studieren pflegte.

Er hat vor sich ein Buch … Sein Gesicht kann ich nicht sehen, weil er den Kopf in die Hand stützt. Doch das Herz sagt mir, daß er es ist, mein Bruder Seinwel-Jechïel …

Und ich erschrak gar nicht!

Denn die Regel ist: wer vor Lebendigen keine Angst hat, der zittert vor Toten. Doch ich armer Wurm, der ich vor allem, was da lebt, zittere, was soll ich vor einem Toten Angst haben? Und vor wem? Vor meinem Bruder Seinwel-Jechïel, der auch bei Lebzeiten wie Seide war? Und ich frage ihn ganz einfach:

»Bist du es, Seinwel-Jechïel?«

»Ja, ich bin es!« antwortet er und nimmt die Hand von den Augen.

Ich erblicke sein Gesicht. Es strahlt in seltsamer Lieblichkeit, und in seinen Augen liegt eine eigentümliche Süße …

Und ich frage weiter:

»Was tust du da, Bruder?«

Und er antwortet:

»Was ich tue? Sehr viel tue ich! Als ich bei Lebzeiten hier saß und lernte, verwirrte mich oft der Satan; Nahrungssorgen mischten sich ein, und ich übersprang viele Stellen und lernte andre wiederum ohne große Andacht. Nun tue ich das, was man oben über mich verhängte, damit meine Seele endgültig erlöst werde: Ich wiederhole!«

»Und alles mit Andacht?«

Er nickt bejahend, und ich sage:

»Seinwel-Jechïel, du lernst mit Andacht, weil du nicht weißt, daß …«

Er unterbricht mich mit seiner süßen Stimme:

»Narr,« sagt er, »im Gegenteil: eben weil ich weiß, lerne ich jetzt mit solcher Andacht. Bei Lebzeiten wußte ich wenig und zweifelte viel, und darum übersprang ich viele Stellen ohne Andacht. Denn nur das, was man nicht weiß und woran man zweifelt, verwirrt … Doch jetzt, da ich weiß und keine Zweifel mehr habe, studiere ich immer mit Andacht.«

»Du weißt auch, daß Mojsche-Ißroel …?«

»Nach Amerika entlaufen ist? Ich weiß es! Ich weiß sogar, mit welchem Schiff er durchgebrannt ist … Verbotene Speisen ißt er auf dem Schiff. Ich weiß es!«

»Weißt du, daß Broche-Leë …«

»In schweren Kindsnöten liegt? Gewiß weiß ich es! Ich weiß sogar, daß sie einen Sohn haben wird …«

»Keine Zwillinge?«

»Nein, keine Zwillinge. Sie ist aber sehr zu bedauern! Das Kind wird ein Krüppel sein … Der Bösewicht hat sie gestoßen und dem Kinde Schaden zugefügt …«

Und ich frage weiter:

»Vielleicht weißt du auch, wovon sie leben werden?«

»Auch das weiß ich!« sagt er mild. Er kommt auf mich zu, legt mir seine Hand auf die Achsel und sagt:

»Schau durchs Fenster hinaus!«

Ich tue es.

»Nun, was siehst du?«

»Ich sehe jemanden vorbeigehen … Er ist weiß gekleidet, und sein Antlitz leuchtet, als ob Gottes Herrlichkeit darauf ruhte … Ganz unglaublich strahlt sein Antlitz … Er geht langsam … Mir ists, als ob ich eine süße, herzige Weise hörte, die ein Spielmann im Gehen spielte … Da ist er schon vorbeigegangen, der Mensch …«

»Es war kein Mensch – ein Engel wars!«

»Ein Engel?«

»Ein guter, sehr guter Engel … Der Todesengel!«

»Der Todesengel?« rufe ich erschrocken aus.

»Warum zitterst du so? Willst du ihm entfliehen?«

»Und wohin ging der Engel?«

»Wohin er ging? Zum reichen Reb Simche. Auch seine Tochter liegt in Kindsnöten …«

»Ich weiß es: ich habe ja heute früh mit noch andern Leuten für sie und das Kind Psalmen gelesen …«

»Das Gebet hilft nur zur Hälfte. Das Kind wird leben.«

»Und sie?«

»Hast doch eben gesehen …«

»Also zu ihr ging der Engel! Und so ohne Lust ging er, mit langsamen Schritten … Wohl aus Mitleid?«

»Vielleicht. Er hat keine Eile, weil er nicht Gottes Sendbote ist!«

»Was sagst du?« rufe ich erschrocken. »Wer hat denn noch zu bestimmen?«

»Auch der Mensch hat seinen Willen … Sie selbst hat ihn gerufen …«

»Sie selbst?!«

»Sie wollte kein Kind haben, keine Mutter sein! Hat dem Kinde Schaden zufügen wollen …«

»Herr der Welt!« rufe ich mit großem Schmerz aus. »Sie wird für ihre Sünde sterben … Aber was hat das Kind verbrochen? Das Kind wird doch ohne Mutter bleiben … Herr der Welt!«

»Schrei nicht!« sagt Seinwel-Jechïel und nimmt mich bei der Hand. »Schrei nicht! Broche-Leë wird des Kindes Amme sein. Und von heute an wisse: Der das Leben gibt, gibt auch wovon zu leben!«

Und im selben Augenblick zerrann er mir in der Luft, und die helle Lichtsäule verschwand. Durch das Fenster sah schon der bleiche Wintermorgen herein.

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