Der kranke Knabe

Mameschi, ich will dir ein Geheimnis erzählen; doch der Vater soll davon nichts erfahren!

Du fragst mich: warum? Weil der Vater mich weniger lieb hat …

Nein, Mameschi, ich sündige mit den Lippen: er hat mich nicht weniger lieb, er hat mich nur anders lieb!

Er ist ja der Vater und muß streng sein …

Vater hat einen langen Bart; Vaters Gesicht fühlt sich beim Streicheln nicht so an wie Mutters atlasglattes Gesicht … Er hat auch ganz andre Augen und einen ganz andern Blick. Wenn du mich anschaust, hast du so lachende und dabei so feuchte, so gütige und dabei so traurige Augen … Du bist Mutter und zugleich Kamerad … Vor dir kann ich keine Geheimnisse haben … Mit deinen Augen ziehst du mir jedes Geheimnis aus dem Herzen heraus …

Vater schaut ganz anders: immer ernst, beinahe kalt …

Nein, Mameschi, es sind ganz andre, wirklich ganz andre Augen!

Als ich noch klein war, hatte ich vor dem Vater weniger Angst. Ich weiß noch, wie ich ihm auf die Knie zu springen pflegte, wie ich ihm das Haar zerzauste, den Bart zerteilte und zu Zöpfen flocht, die Lippen übereinanderbog; und wenn er mich böse anschauen wollte, drückte ich ihm die Lider hinunter und schloß ihm einfach die Augen … Heute kann ichs nicht mehr …

Einmal – hörst du, Mameschi? – einmal, als ich krank war, erwachte ich und sah euch beide an meinem Bette stehen … Du hast so still, so herzensstill geweint; und der Vater … Mameschi!… Vater hatte damals ein so schreckliches Gesicht, und ich sah, daß er Gott böse war! Vor Schreck schloß ich wieder die Augen …

Und seit damals kann ich dem Vater nicht mehr nahe kommen wie früher … Etwas hält mich zurück! Oft will mir das Herz aus der Brust springen und ihm zufliegen, und doch kann ich es nicht!

Glaubst du, daß ich den Vater weniger lieb habe? Gott behüte! Ich habe Vater sehr lieb und gewinne ihn mit jedem Tag, mit jeder Minute noch lieber … Wenn er auf mich zugeht, hüpft mir das Herz vor Freude, und es bebt in mir die Seele vor Hoffnung: gleich wird er mich bei der Hand fassen und an sein Herz drücken …

Vor dir zittere ich nicht: du hast mich immer und gleich lieb … Du hast für mich immer Zeit, und du umarmst und küßt mich jeden Augenblick … Du bist immer, immer mein … Vater hat so viel Geschäfte!

Ich weiß: er will, daß ich einmal reich sein soll!

Jetzt willst du wohl, Mameschi, mein Geheimnis hören?

Ich schäme mich!

Vor der Mutter, sagst du, soll man sich nicht schämen? Es ist wahr … Und doch … Weißt du was, Mameschi? Setz dich hier auf diesen Stuhl vor dem Fenster … Gut so!

Ach, wie schön die Sonne untergeht! Wie schön fallen ihre rötlichen Strahlen auf dein edles, blasses Gesicht!…

Ach, Mameschi, wie schön, wie schön und edel bist du!

Warte … Nun will ich mich dir zu Füßen setzen … Und du sollst mir, wenn ich erzähle, nicht ins Gesicht schauen … Ich will mich auf den Fußschemel setzen und beim Erzählen zum Fenster hinausschauen …

Nein!… So ists nicht gut! Ich werde mich vor der Sonne schämen … Siehst du: am Tage strahlt sie, doch am Abend nimmt sie von uns so traurig Abschied, daß ich mich schäme, von mir zu sprechen …

Ich will meinen Kopf an deinen Schoß lehnen … Ich will meine Augen schließen, und du … du leg mir noch deine Hand auf die Stirn … Ist es dir nicht zu schwer, Mameschi, wenn ich meinen Kopf so an dich lehne? Nein?

Sechzehn Jahre ist dein Kind alt und hat ein so leichtes, ein so kleines Köpfchen … Und ich selbst …

Seufze nicht, Mameschi! Gott hat mich nicht zu karg bedacht: er gab mir zwar wenig Fleisch, dafür aber viele andre gute Gaben: dich, den Vater … Tage und Nächte mit wunderlichen Träumen … Und nun – das Geheimnis …

Nun sehe ich nichts … Mit geschlossenen Augen werde ich es vielleicht doch erzählen können … Ich wills versuchen …

Es fällt mir so schwer!…

Wenn ich es mir so überlege – so ist es nichts: ein Netz aus einigen wunderlichen Strahlen, – und doch lastet es mir auf dem Herzen wie ein Stein … Es ist kein Kieselstein, kein Stein von der Gasse oder vom Felde …

Es ist ein kostbarer Stein; er strahlt und leuchtet …

Er liegt mir tief in der Brust und erfüllt mein ganzes Wesen, alle meine Glieder mit seinen Strahlen, mit seinem heimlichen, warmen, lebendigen Licht …

Das Licht soll nicht verlöschen, Mameschi!

Es verlischt so vieles!…

Hörst du, Mameschi!

Nein, warte, so einfach und geradeaus beginnen kann ich doch nicht …

Hör aber! Weißt du noch, Mameschi, daß du mir gestern etwas Kleingeld gabst? Weißt du es noch?

Ich habe davon noch nichts ausgegeben, und doch fehlt mir schon etwas …

Es fehlt mir ein Zehnerl!

Ob ich es verloren habe? Nein … Du gibst mir doch das Geld, damit ich davon armen Leuten, armen Kindern, denen ich bei meinen Spaziergängen begegne, Almosen gebe … Armengeld werde ich doch nicht verlieren!

Ob ich es weggegeben habe? Gewiß. Ob einem Armen? Ich weiß es nicht … Vielleicht ja, und vielleicht auch nicht … Hör nur zu, vielleicht wirst du es selbst verstehen!

Gestern ging die Sonne ebenso schön unter … Vielleicht noch schöner …

Du hast mich schauen gelehrt, und ich schaue und sehe, was andre meinesgleichen nicht sehen … Darum gehe ich am liebsten ganz allein spazieren … Gestern ging ich hinter die Stadt, du weißt, zu der Stelle am Flusse, von wo aus man sie ganz überblickt. Die Häuser türmen sich übereinander, immer höher und höher; und die Häuser, die weiter stehen, wollen über die andern hinüberschauen und auch etwas von Gottes Welt sehen; darum ragen sie, je weiter sie stehen, um so höher hinauf. Und die Sonne sieht im Untergehen auf sie herab und übergießt sie mit ihrem Lichte … nimmt Abschied von ihnen … küßt sie …

Und ich sehe, wie die Schatten diesen letzten Strahlen nachjagen, wie sie sich immer mehr und mehr verdichten und wie sie fließen und überall eindringen, wo sie nur können. Sie erfüllen alle Zwischenräume zwischen den Häusern, alle freien Plätze zwischen den Mauern, und sie heben und jagen das letzte rötliche Sonnenlicht hinauf, in den Himmel, aus dem es kommt … »Geht zur Ruhe, ihr Strahlen, jetzt ist unsre Zeit!… Gute Nacht!…«

Und es wird allmählich dunkler und dunkler und der Himmel immer tiefer und tiefer … Bald werden, einer nach dem andern, die Sterne aufleuchten … Und wie ich das alles sehe, komme ich zur Schreinergasse, zu der letzten Gasse der Stadt, die so steil hinuntergeht … Und so kam ich zum Fluß, wo die alte Schul steht …

Und ich kam ganz nahe an die alte Schul heran.

Am Tage sieht sie schrecklich aus: armselig, baufällig, ganz schwarz vor Alter … Die Spinnen wollen aus Mitleid die eingeschlagenen Fensterscheiben überweben … Und auf dem Hügel gegenüber, am andern Ende der Gasse, steht die schlanke, spitze Christenkirche und lacht …

Doch am Abend sah die alte Schul ganz anders aus … Zum ersten Male sah ich sie gestern so … Ein leichter, lieblicher, dunkelblauer Nebel umhüllte sie … Die Fenster ohne Scheiben waren gar nicht blind … Sie blickten ernst und tief in die Welt hinaus … Und die Gesimse oben lebten und rührten sich beinahe. Die gemalten Löwen wollten sich von der Mauer losreißen … Gleich werden sie zu brüllen anfangen!

Glaubst du, daß das mein Geheimnis ist? Nein, Mameschi! Das alles sehe ich erst jetzt, wie ich es dir erzähle; mit den gestrigen Augen sehe ich es.

Ach, Mameschi, wenn ich reich wäre!

Was ich dann täte?

Ich würde die alte Schul wieder aufrichten!

Ich will, daß auch sie hoch ist und in den Himmel hinaufragt! Und sie muß höher sein, weil sie tiefer steht! Und ein goldenes Dach soll sie haben und kristallene Fensterscheiben!

Hörst du, Mameschi, so denke ich es mir: man kann ja auch ohne Schul auskommen; denn Gott ist überall … Wo nur eine Träne fällt, die merkt er! Wo jemand die Augen zu ihm hebt, den sieht er! Wo nur ein bekümmertes Herz seufzt, das hört er!… Wenn man aber schon eine Schul hat, so soll sie hoch, schön, strahlend und würdig sein.

So dachte ich es mir auch gestern. Und plötzlich hörte ich ein Weinen! Ein leises und trauriges Weinen, süß und traurig und so seltsam ergreifend …

Wenn du spielst, kommen manchmal aus dem Klavier solche weinende Töne …

Und ich glaubte – Mameschi, die Wahrheit zu sagen, wollte ich es glauben, und ich wandte mich absichtlich nicht um, um es möglichst lange glauben zu können – ich glaubte, daß das Weinen und Schluchzen aus der alten Schul kommt … daß dort drinnen, in dunkelblauen Nebel gehüllt, die Seele der alten Schul sitzt und weint …

Und sie beklagt sich, daß die Sonne ihr unrecht tut …, daß sie ganze Garben ihres goldenen Lichtes auf das Kirchendach ausschüttet und ihr kaum einen Strahl gönnt … Sie wirft ihr am hellsten Mittag nur einen blassen Strahl wie ein Almosen zu … Und dieser Strahl gleitet über sie weg und stiehlt sich fort, wie verschämt!…

Aber es war nicht die Schul …

Es war ein kleines Mädchen … Es lag im Sande, suchte etwas und weinte …

Als ich mich umwandte, sah ich erst nur ihr abgetragenes Kleidchen wie einen dunkelgrauen Fleck auf dem gelben Sande und ein Paar ausgetretene Schuhe!

Und noch etwas sah ich …

Mameschi, ich schäme mich … es wird mir so warm … Stelle dir vor: eine Flut rote, ganz feuerrote Haare … Funken stoben aus ihnen …

»Was weinst du, Mädchen, und was suchst du im Sand?«

Ihre Mutter hatte sie etwas kaufen geschickt und ihr ein Zehnerl mitgegeben. Jemand stieß sie im Vorbeigehen an, und das Zehnerl fiel in den Sand … Darum weint sie …

Ich – wenn ich Gott weiß was verloren hätte, ich täte nicht weinen!

Ich frage sie: »Wars ein großer Zehner oder ein weißes Zehnerl?«

»Ein weißes!« sagt sie und wendet sich nach mir gar nicht um.

»Ich will dir suchen helfen,« sage ich.

Ich bücke mich, tue so, als ob ich suchte, und finde ihr ein weißes Zehnerl.

»Hier hast du es!«

Sie sprang vor Freude auf und warf sich mit einem Ruck des Kopfes die rote Haarflut in den Nacken … Und unter den Haaren kam wie unter einer Wolke ein kleines alabasterweißes Gesichtchen zum Vorschein … Und Augen waren darin, Mameschi, Augen …

Nein, Mameschi, die Augen kann ich nicht beschreiben!…

So viel Freude leuchtete in ihnen …

Die ganze Nacht träumte ich von diesen Augen, die ganze Nacht …

Das ist mein ganzes Geheimnis, Mameschi!

Du lächelst?

Lache nicht, Mameschi! Die Augen vergesse ich niemals …

Mameschi …

Darf ich wieder einmal in die Schreinergasse gehen, mir wieder … die alte Schul anschauen?…

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