X. Das Renntier.

Im Renntier (Rangifer tarandus), einem der jüngst erworbenen Haussäugetiere, das nur sehr oberflächlich gezähmt ist und sich noch weitgehender Freiheit und Selbständigkeit erfreut, haben wir den einzigen Vertreter der Familie der Hirsche vor uns, den der Mensch in seine Abhängigkeit brachte. Den Übergang von den eigentlichen Hirschen zum Renntier bildet der in den menschenleeren Einöden Nordchinas lebende Milu der Chinesen oder Davidshirsch (Elaphurus davidianus) der Europäer, so genannt, weil ihn 1865 der französische Missionar David durch einen Blick über die Mauer des kaiserlichen Wildparks bei Peking entdeckte. Dort wird dieses äußerst scheue und seltene Tier zum Vergnügen des Kaisers von China und seines Hofes in Gehegen gehalten. Durch die Vermittlung des damaligen deutschen Gesandten in Peking, v. Brandt, kamen von dort zwei Hirsche und ein Tier als außerordentliche Seltenheit in den Berliner Zoologischen Garten und von da auch in denjenigen von Köln. In seinem ganzen Bau, besonders der Füße, aber auch des Gehörns, erinnert der Milu viel mehr an das Renntier als an den Hirsch und läßt wie dieser bei jedem Schritt ein eigentümliches Knistern in den Fußgelenken hören, was sonst den Hirschen nicht zukommt.

Die geweihtragenden Wiederkäuer eigneten sich im allgemeinen deswegen nicht zur Domestikation, weil sie ausgesprochene Waldbewohner sind und sich deshalb zum dauernden Aufenthalt im offenen Lande nicht recht verwenden lassen. Davon macht nur das Renntier eine Ausnahme; denn schon im Wildzustande meidet es den Wald und bewohnt heute im Norden jenen Gürtel, der sich zwischen der Waldzone und dem Eismeer ausdehnt und den man als Tundra oder Moossteppe bezeichnet. Hier lebt es vorzugsweise von der Renntierflechte. Damit es nun mit seinen Füßen im moorigen Boden der Tundra nicht zu weit einsinke, besitzen die niedrigen, kräftigen Beine breit ausladende Hufe und bis auf den Boden hinabreichende Afterklauen. Auf dem dicken, wenig aufgerichteten Hals sitzt der nach vorn nur wenig verschmälerte Kopf mit dem ausnahmsweise in beiden Geschlechtern entwickelten, bei den Weibchen nur kleineren, zackigen Geweih. Das dunkelbraune Sommerkleid ist weniger dicht und lang als das grauweiße Winterkleid, das sehr warmhält und seinen Träger vor der großen Kälte seiner Heimat schützt. Der Vorderhals trägt eine bis zur Brust herabreichende Mähne.

Bild 32. Darstellung eines weidenden Renntierweibchens auf dem aus Renntierhorn verfertigten Bruchstück eines Kommandostabes aus dem Keßlerloch bei Thaingen. (Nach Photogramm von Dr. Nüesch.)

Das wilde Renn lebt durchschnittlich nördlich vom 60. bis zum 80. Breitengrad der Alten wie auch der Neuen Welt. Die nordamerikanische Form ist nur etwas größer und dunkler gefärbt und wird als Karibu bezeichnet. Von ihm leben im Tundrengebiet Nordamerikas und in Grönland stattliche Herden bis zu 200 Stück, denen die Indianer stark nachstellen, die sie mit Pfeil oder Gewehr erlegen oder in Hürden aus Buschwerk treiben, um sie nachher mit Speer und Keule niederzuschlagen. Das altweltliche Renn, von dem man das größere „Waldrenn“ vom kleineren „Tundrarenn“ unterscheidet, die beide domestiziert wurden, lebt noch in großer Zahl wild auf Spitzbergen. Auf Island wurde es im Jahre 1770 eingeführt, ist dort vollständig verwildert und hat sich bereits in namhafter Zahl über alle Gebirge der Insel verbreitet. Es liebt die Geselligkeit überaus und lebt in Herden von 200–300 Stück, die gern wandern, so im Sommer, um der Mückenplage zu entgehen, nach den höheren, kühler gelegenen Gebieten, im Winter dagegen nach den weniger hoch mit Schnee bedeckten Niederungen. Es wittert ausgezeichnet, ist scheu und vorsichtig, wo es unter den Verfolgungen des Menschen zu leiden hat, kommt aber vertrauensvoll an Kühe und Pferde heran, die in seinem Gebiete weiden, mischt sich auch da, wo es Zahme seiner Art gibt, gern unter diese, obschon es recht wohl weiß, daß es nicht mit seinesgleichen zu tun hat. Hieraus geht hervor, daß die Furcht und Scheu vor dem Menschen die Folge der bösen Erfahrung ist, die es mit ihm gemacht hat, daß es also kein dummes Tier sein kann. Ende September ist die Brunst und Mitte April wird das Junge geworfen und längere Zeit von seiner Mutter gesäugt.

Bild 33. Darstellung eines Renntiermännchens aus der Höhle von Combarelles, stark verkleinert.
(Nach Capitan und Breuil.)

Der europäische Diluvialjäger lebte vorzugsweise vom Renntier, das damals während der Kälteperiode bis gegen das Mittelmeer hinunter in großen Herden lebte und dem Menschen das weitaus wichtigste Beutetier war. Um es leichter in seine Gewalt zu bringen, zeichnete er es unter Murmeln von Zaubersprüchen, wie dies heute noch manche auf derselben Kulturstufe lebende Jägerstämme tun, an die Wände der Höhlen, die er bewohnte, und an allerlei Gegenstände seines Besitzes, wohl auch die aus gegerbtem Renntierfell bestehenden Zeltwände auf Stangen. Dabei galt der Glaube, daß, je naturgetreuer das Tier dargestellt werde, es um so sicherer in des Menschen Gewalt gelange. Außer dem Fell, das ihm seine Kleidung und Zeltumhüllung, wie auch Riemen und Schlingen aller Art lieferte, wurden nicht nur das Fleisch und alle Eingeweide vom hungrigen Renntierjäger verzehrt, sondern auch das Geweih und die Knochen des Tieres als bald noch wichtigeres Werkzeugmaterial als der Feuerstein benutzt. So war die ganze Kultur der Magdalénienjäger der frühen Nacheiszeit ganz wesentlich auf die Erbeutung des damals ausschließlich wildlebenden und durchaus noch nicht vom Menschen in Herden vereinigten Renntiers gegründet, wie solches heute noch von den auf der reinen Jägerstufe verbliebenen Indianern Kanadas und noch höherer Breiten geübt wird. Auch diese leben, wie King berichtet, fast ausschließlich vom Renn. Sie erlegen das Wild auf seinen Wanderungen mit der Feuerwaffe, fangen es in Schlingen, töten es beim Durchschwimmen der Flüsse mit Wurfspeeren, graben tiefe, mit dünnem Astwerk und Laub verdeckte Fallgruben oder errichten an den Furten, die sie durchschreiten müssen, zwei aufeinander zulaufende Zäune aus Stecken, die da und dort schmale Lücken lassen. In eine jede solche Lücke legen sie eine Schlinge. Wenn das Rudel zwischen die Zäune getrieben wird, fangen sich einzelne Individuen, die seitlich durchbrechen wollen, darin und werden abgestochen. Das Fleisch essen sie roh und braten und räuchern den nicht sofort zu bewältigenden Rest am Feuer. Aus den Geweihen und Knochen verfertigen sie ihre verschiedenen Knochenwerkzeuge, vor allem die Fischspeere und Angeln. Mit den gespaltenen Schienbeinen und anderen Teilen schaben sie, wie das Fleisch von den Knochen, so Fett und Haar von den Häuten ab, und mit Renntiergehirn reiben sie das Innere der Felle ein, um sie geschmeidig zu machen. Das durch Räuchern mit feuchtem Holze konservierte Leder alter Tiere hängen sie um ihre Zeltstangen, während sie aus dem pelzartig weichen Fell jüngerer Tiere ihre Kleidung herstellen, die sie mit Nadeln aus Renntierhorn vermittelst Sehnenfäden vom Renntier nähen. Vom Kopf bis zu den Füßen sind sie in Renntierpelze gehüllt, werfen ein weichgegerbtes Renntierfell auf den Schnee, decken sich mit einem andern solchen zu und sind so imstande, der grimmigsten Kälte Trotz zu bieten. Kein Teil des Renntiers bleibt von ihnen unbenutzt, nicht einmal der aus aufgeweichten und halb aufgelösten Renntierflechten bestehende Mageninhalt, der mit Blut vermischt ein ihnen höchst schmackhaft vorkommendes Gericht liefert, von dem sie nur ihren besten Freunden anbieten.

Bild 34. Von Magdalénienjägern auf ein Knochenstück eingeritzte Renntiere, worunter ein Männchen ein Weibchen beschnüffelnd, aus dem abri von La Madeleine in der Dordogne. (Etwa natürl. Größe.)

Das wilde Renntier hat aber auch noch andere Feinde als den Menschen. Der gefährlichste von ihnen ist der Wolf, der stets, besonders im Winter, die Rudel umlagert. In Norwegen mußten die Renntierzuchten, welche man auf den südlichen Gebirgen anlegen wollte, der Wölfe wegen aufgegeben werden. Auch Vielfraß, Luchs und Bär stellen den Renntieren nach. Sonst setzen ihm hauptsächlich die Mückenschwärme stark zu und peinigen es im Sommer auf höchst unangenehme Weise.

Jung eingefangene Renntiere werden bald zahm. „Man würde sich aber“, sagt Brehm, „einen falschen Begriff machen, wenn man die Renntiere, was die Zähmung anlangt, den in den Hausstand übergegangenen Tieren gleichstellen wollte. Nicht einmal die Nachkommen derjenigen, welche seit undenklichen Zeiten in der Gefangenschaft leben, sind so zahm wie unsere Haustiere, sondern befinden sich immer noch in einem Zustande von Halbwildheit. Nur Lappen und deren Hunde sind imstande, solche Herden zu leiten und zu beherrschen.“

Bild 35. Aus Renntierhorn geschnitzter Dolch eines Magdalénienjägers, dessen Griff ein Renntier darstellt, das, um die Hand beim Fassen der Waffe nicht zu behindern, die Schnauze erhebt und sein Gehörn in den Rücken drückt. Aus dem gleichen Grunde sind seine Vorderfüße unter den Bauch gebogen, als ob es davonspringen wolle. Aus dem südfranzösischen abri von Laugerie basse in der Dordogne. (1⁄3 natürl. Größe.)

Das Renntier ist sehr spät vom Menschen zum Haustier erhoben worden und ist im ganzen jetzt noch recht mangelhaft domestiziert. Wann dies geschah, läßt sich nicht mehr bestimmen; doch kann dies vor nicht viel mehr als 500 Jahren geschehen sein. Nach Frijs in Christiania waren die Lappen im Norden Skandinaviens im 9. Jahrhundert noch Fischer und Jäger, die außer dem Hund noch keinerlei Nutztiere besaßen und das Renn nur als Wild kannten. Erst im 16. Jahrhundert gibt uns Olaus Magnus Kenntnis von zahmen Renntieren, die in ihrem Besitze waren. Julius Lippert hält es für wahrscheinlich, daß die Renntierzucht von Skandinavien ausging, während sie Eduard Hahn in ihrem Ursprung nach Nordasien verlegt und der Meinung ist, sie habe sich später von dort nach Westen ausgedehnt. Uns scheint diese letztere Annahme die allein richtige, da dort sicher die Renntierzucht eine ältere ist als in Nordeuropa.

Für die am Nordrande der Alten Welt lebenden Fischervölker, für deren Lebensweise der Hund zwar wichtig, aber nicht ausreichend war, wurde der Erwerb des Renns als Haustier von unschätzbarem Werte. Es war das einzige Wildmaterial, das ihnen für die Gewinnung eines nützlichen Haustiers zu Gebote stand, und so wurde es herdenweise in Pflege und Aufsicht genommen und trat dadurch in lose Verbindung mit dem Menschen, den es bis dahin als seinen ärgsten Feind geflohen hatte. Die Unterordnung unter das menschliche Joch ist aber heute noch eine sehr bedingte. Wohl werden die Herden durch wachsame Hunde zusammengehalten, indessen wenden sie sich doch dahin, wo es ihnen gerade paßt und die Weide günstig ist. Der Besitzer kann seine Tiere nicht beeinflussen und nach seinem Willen lenken, sondern er muß ihnen einfach folgen, wohin sie ihn führen. Günstig für ihn ist es, daß die Renntiere ein ausgeprägtes Herdenbewußtsein haben und stets geschlossen gehen, so daß sie sich nicht zerstreuen, was ihm das Hüten wesentlich erleichtert. Das Melkgeschäft ist durchaus keine Annehmlichkeit, da die störrischen Tiere beständig durchgehen wollen und nur mit einem Strick zum Ausharren bei diesem Geschäfte festgehalten werden können. Die Renntiermilch ist, wenn sie auch neben dem süßen einen starken Beigeschmack hat, sehr fettreich und nahrhaft; doch ist der Milchertrag gering.

Bild 36 und 37. Dolchgriff aus Renntierhorn, einen Renntierkopf, und ein ebensolcher aus Mammutelfenbein, ein nur scheinbar liegendes Renntier darstellend, beide aus der Höhle von Bruniquel in Westfrankreich, jetzt im Britischen Museum in London. (1⁄3 natürl. Größe.)

Die von den Nomaden des Nordens zusammengehaltenen Renntierherden halten sich jahraus jahrein im Freien auf, da selbstverständlich Unterkunftsräume für so ausgedehnte Herden fehlen. Bei starkem Schneefall geraten sie allerdings in Not und gehen vielfach an Nahrungsmangel und Entkräftung zugrunde, so außerordentlich genügsam sie auch an sich sein mögen, indem sie sich von selbst aus dem Schnee hervorgescharrten Renntierflechten ernähren und als Flüssigkeitszufuhr den Schnee im Munde zergehen lassen.

Außer den Lappen geben sich auch die Finnen und zahlreiche sibirische Volksstämme mit der Zucht des Renntiers ab, das das Ein und alles, der Inbegriff von Glück und Reichtum dieser Menschen bildet. Mit Mitleid schaut der Fjeldlappe, der eigentliche Renntierzüchter, auf seine Volksgenossen herab, die das Nomadenleben aufgegeben und sich entweder als Fischer an Gewässern niedergelassen oder gar als Diener an Skandinavier verdingt haben. Er allein dünkt sich diesem gegenüber ein freier Mann zu sein; er kennt nichts Höheres als sein „Meer“, wie er eine größere Renntierherde zu nennen pflegt. Immerhin gehört eine beträchtliche Zahl von Renntieren dazu, um den Lappen und seine Familie zu ernähren. Erst etwa 200 sollen ausreichen, um ihn selbständig zu machen. Wer weniger sein eigen nennt, pflegt sich an einen reicheren Besitzer anzuschließen und dafür in ein Dienstverhältnis zu ihm zu treten. Eine Herde von etwa 500 Renntieren bedeutet Wohlhabenheit, die viele Lappen erreicht haben. Nur wenige bringen es zu einem in ihren Augen fabelhaften Reichtum von 2000–3000 Stück. Man berechnet die Gesamtzahl der den Lappen Norwegens gehörenden Renntiere auf rund 80000, in die sich 1200 Besitzer teilen sollen. Die Renntierlappen leben ganz nomadisch, indem sie sich gewöhnten, ihren Herdentieren zu folgen. Im Sommer ziehen sie mit ihnen hinauf zu den großen baumlosen Fjeldern (Hochflächen), wo diese am leichtesten ihre Nahrung finden und der sehr lästigen Mückenplage entweichen können. Im Winter dagegen wandern sie mit ihnen in die waldreicheren Regionen hinab, die weniger den rauhen Stürmen ausgesetzt sind. Dank ihrer breitausladenden Hufe können die Renntiere ebensogut über die sumpfigen Stellen wie über die Schneedecke hinweggehen und sogar an den Halden herumklettern. Ihre Fährten erinnern weit mehr an die einer Kuh als eines Hirsches.

Bild 38 und 39. Zwei Harpunen des Magdalénienjägers aus Renntierhorn mit Giftrinnen aus Südfrankreich. (4⁄9 natürl. Größe.)

Eine Renntierherde bietet ein höchst eigentümliches Schauspiel. Die Renntiere gehen geschlossen wie die Schafe, aber mit behenden, federnden Schritten und so rasch, wie sonst keins unserer Haustiere. Ihnen nach wandelt der Besitzer mit seinen Hunden, die eifrig bestrebt sind, die Herde zusammenzuhalten. Durch ihr Hin- und Herlaufen und durch ihr ewiges Blöken erinnern die Renntiere an Schafe, obgleich ihr Lautgeben mehr ein Grunzen genannt werden muß. Bei weitem die meisten, die in Herden gehalten werden, sind sehr klein und man sieht unter Hunderten nur sehr wenig starkgebaute, große Tiere. Dabei fällt die Unregelmäßigkeit ihrer Geweihe unangenehm auf.

Mancherlei Seuchen richten oft arge Verheerungen unter den Renntieren an. Außerdem trägt das rauhe Klima das seinige dazu bei, daß sich die Herden nicht so vermehren, wie es, der Fruchtbarkeit des Renns angemessen, der Fall sein könnte. Junge und zarte Kälber erliegen der Kälte oder leiden unter den heftigen Schneestürmen, so daß sie, vollkommen ermattet, der Herde nicht mehr folgen können und zugrunde gehen. Ältere Tiere können bei besonders tiefem Schnee nicht mehr hinreichende Nahrung finden. So können schneereiche Winter zuvor für reich geltende Lappen geradezu arm machen, so daß sie sich erst in vielen Jahren von ihrem Schaden erholen können.

Bild 40. Pfeife der Magdalénienjäger aus der Höhle von Bruniquel in Westfrankreich, nördlich der Dordogne. (2⁄3 nat. Größe.) An der dünnsten Stelle einer Renntierphalange ist mit einem Steinmesserchen ein Loch gebohrt worden, welches beim Anblasen einen scharfen, hohen Ton hören läßt.

Alles am Renntier wird von diesen Leuten benutzt, nicht bloß die Milch und der daraus bereitete wohlschmeckende Käse, das Fleisch und das Blut, sondern auch jeder einzelne Teil des Leibes. Aus dem weichen Fell besonders der Renntierkälber verfertigt man warme Pelzröcke und Pelzstiefel; die Sehnen benutzt man zu Zwirn, die Gedärme zu Stricken. Wie zur Renntierzeit werden auch heute noch aus Horn und Knochen allerlei Gerätschaften, besonders Fischhaken und Angeln hergestellt. Außerdem wird das Tier zum Tragen der Gerätschaften, besonders der Zeltbestandteile und Effekten seines Besitzers verwendet. In Lappland benutzt man das Renn hauptsächlich zum Fahren, weniger zum Lasttragen, weil ihm letzteres, des schwachen Kreuzes wegen, sehr beschwerlich fällt. Nur die Tungusen reiten auch auf den stärksten Rennhirschen, indem sie einen kleinen Sattel gerade über die Schulterblätter legen und sich mit abstehenden Beinen daraufsetzen. Auf diese Weise reiten sie selbst über Moorgebiete, in die Pferde und Menschen tief einsinken müßten, mit erstaunlicher Sicherheit hinweg. Der Korjäke dagegen fährt im Renntierschlitten und Wettfahrten gehören zu seinem Hauptvergnügen. Weder zum Fahren, noch zum Reiten werden die Tiere besonders abgerichtet, sondern man nimmt dazu ohne viel Umstände ein beliebiges, starkes Tier aus der Herde und schirrt es zum Ziehen des bootartigen Schlittens oder zur Aufnahme des kunstlosen Sattels an. Ein gutes Renntier legt mit dem Schlitten in einer Stunde etwa 10 km zurück und zieht 120–140 kg, wird aber gewöhnlich viel geringer belastet. Schont man solche Zugtiere, indem man sie nur morgens und abends einige Stunden ziehen, mittags und nachts aber weiden läßt, so kann man erstaunlich große Strecken zurücklegen, ohne sie zu übermüden. Doch ist auf die Dauer der Zughund leistungsfähiger als sie; deshalb haben die Kamtschadalen im Gegensatz zu ihren Nachbarn, den Korjäken, ihre Hunde zum Ziehen der Schlitten nicht mit dem Renntier vertauscht. Auch die Giljaken im Mündungsgebiet des Amur sind vom Renntiergespann wieder zum Hundeschlitten, als dem leistungsfähigeren Fortbewegungsmittel, zurückgekehrt. Allerdings muß man den Hunden für Nahrung sorgen, während das Renntier sich sein Futter selbst sucht.

Außer im Norden von Skandinavien ist das Renntier in Finnland stark verbreitet. In Rußland ist das Gouvernement Archangelsk am reichsten daran; auch die Gouvernemente Perm und Orenburg besitzen noch starke Bestände davon. Durch ganz Sibirien haben die Nomadenstämme der Samojeden, Ostjaken, Tungusen, Tschuktschen und wie sie sonst heißen mögen, große Herden von Renntieren, von denen sie neben der Jagd auf die wilden Renntiere leben. Als Proviant wird Renntierfleisch getrocknet; solchergestalt läßt es sich lange Zeit aufbewahren ohne zu faulen. In neuester Zeit hat man versucht, von Sibirien aus Renntiere in Alaska einzubürgern, um die soziale Lage der dortigen Einwohner zu heben. Ob dieser Versuch tatsächlich geglückt ist, steht dahin; doch wird dies wohl der Fall sein, da dieses Tier keine Schwierigkeiten bei der Haltung macht.

Da das Renntier erst so kurze Zeit im Haustierstande ist, hat es sich noch nicht in verschiedene Rassen spalten können. Immerhin sind bei der zahmen Art, abgesehen von der geringeren Größe, der größeren Häßlichkeit und der unregelmäßigen Bildung des Geweihs, das auch später abgeworfen wird, bereits kleine Farbenunterschiede bemerkbar. Bei vielen ist die Färbung des Felles schon ziemlich rein weiß, bei anderen scheckig geworden. Das wohlschmeckende Wildbret des Renns ist bei uns so beliebt geworden, daß es im Winter von Skandinavien aus regelmäßig auf unseren Markt gelangt und willige Abnehmer findet.

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