Sechs und zwanzigstes Kapitel.

Zugleich mit Julien war auch Woldemar auf freyen Fuß gestellt worden. Sie suchte ihn jetzt selbst in seiner Zelle heim und hörte nicht ungern daß Herr von Wessen während dem, die Aufmerksamkeit der Wächter und Schildwachen getäuscht und sich aus dem Staube gemacht habe. Woldemar hielt der Lieblosen eine ausführliche Straf-Predigt. Er rieth ihr, sich nun ohne Zögern um Pässe zu bewerben und in die Arme ihrer Schwiegermutter zurückzukehren, wo die Verkündigung der Existenz des Sohnes, der vielleicht bereits auf dem Wege nach der Heimath sey, der verlohrnen Tochter eine günstige Aufnahme verschaffen werde; sie aber setzte sich auf seinen Schooß und sprach —

Da sey Gott für, daß ich einem Verrückten nachziehen sollte, dessen Hand mir ein unglückliches Verhältniß aufdrang; den die Erfahrung, daß es keine Rose ohne Dornen gebe, zu einem erklärten Widersacher machte und der über Verrath und Treulosigkeit schrie, wenn ich mich wohlwollender zu den geistreichen, theilnehmenden Freunden als an den Schöpfer der Pein und der Zwietracht hinneigte. Ich bin wie ich bin, guter Woldemar, und Liebe nur vermag die Flügel des flüchtigen Sinnes zu binden, der mich so oft schon durch den Himmel zur Hölle, und wieder empor trug. Wollte das Gemüth jeden wirklichen oder möglichen Unfall, das Herz jeden Schmerz und jede Verirrung nach Würden berechnen, betrauern und festhalten, so würde unser Auge vom Weinen erblinden, der Selbstmord ansteckender als der Schnupfen und die Schwermuth der allgemeine Charakter des Menschen-Geschlechts werden. Wer in der Narbe noch die Wunde sieht, wird das Wundfieber nie verlieren, und nur der unnütze Rückblick auf vergangene Schrecken versteinerte Loths Ehehälfte. Ich bin vergnügt das Leben aus dem Sturme gerettet zu haben. Was er mir raubte, verschlingt der Lethe; er ist vergessen.

Sie lächelten wo Männer bebten „entgegnete Woldemar“ und machten den Tyger zum sehnsüchtigen Kinde. Aber nicht alle sind zähmbar und unser Leben schwebt noch immer, nach wie vor, auf eines Haares Spitze.

So mög’ es hinabfallen! ist doch dieses Stündchen noch unser. Willst Du lachen oder weinen? Ich will es auch. Die frühern Rechte geltend machen? Da sind meine Lippen. Küsse Dich satt, treuloser Bräutigam, denn daß Du hienieden noch lachen und weinen und küssen kannst, ist ja mein Werk. Ich habe Dich erlöst von dem Uebel; komm, bete mich an. Erröthend wendete er das Gesicht von ihr ab, doch Julie schlang den Arm um des Spröden Hals, strich das Haar aus seiner Stirn und gedachte jetzt der schlaflosen Nächte, die ihr die Narbe dieser Stirn gekostet hatte; gedachte der süßen, berauschenden Situationen auf der Wessenburg, der Blüthen und der Früchte die sie dort in den Kranz seines Lebens webte. Er aber wand sich aus dem Arm der Versucherin und sprach „Bedauern Sie den albernen Thoren, der nur das Achtungswerthe lieben kann, doch Blumen die für Jeden blühn, wie die benagte Frucht verschmäht.“

Julie sah ihn mit blitzenden Augen und glühenden Wangen an. „Benagt? Verschmäht?“ fragte sie, schnell empört. So bedaure denn auch das Geschlecht das sich nie ungerochen verschmähen ließ.

Ein Officier unterbrach sie; er forderte den Gefangenen vor die Schranken des Ausschusses, um dort über seinen geflüchteten Unglücks-Gefährten Auskunft zu geben.

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