3.

In Nietzsches Persönlichkeit sind diejenigen Instinkte vorherrschend, die den Menschen zu einem gebietenden, herrischen Wesen machen. Ihm gefällt alles, was Macht bekundet; ihm mißfällt alles, was Schwäche verrät. Er fühlt sich nur so lange glücklich, als er sich in Lebensbedingungen befindet, die seine Kraft erhöhen. Er liebt Hemmnisse, Widerstände für seine Thätigkeit, weil er sich bei ihrer Überwindung seiner Macht bewußt wird. Er sucht die beschwerlichsten Wege auf, die der Mensch gehen kann. Ein Grundzug seines Charakters ist in dem Spruche ausgedrückt, den er der zweiten Ausgabe seiner „fröhlichen Wissenschaft“ auf das Titelblatt gesetzt hat:

„Ich wohne in meinem eignen Haus,

Hab’ niemandem nie nichts nachgemacht

Und — lachte noch jeden Meister aus,

Der nicht sich selber ausgelacht.“

Jede Art von Unterordnung unter eine fremde Macht empfindet Nietzsche als Schwäche. Und über das, was eine „fremde Macht“ ist, denkt er anders als mancher, der sich als „unabhängigen, freien Geist“ bezeichnet. Nietzsche empfindet es als Schwäche, wenn der Mensch sich in seinem Denken und Handeln sogenannten „ewigen, ehernen“ Gesetzen der Vernunft unterwirft. Was die allseitig entwickelte Persönlichkeit thut, das läßt sie sich von keiner Moralwissenschaft vorschreiben, sondern allein von den Antrieben des eigenen Selbst. Der Mensch ist in dem Augenblicke schon schwach, in dem er nach Gesetzen und Regeln sucht, nach denen er denken und handeln soll. Der Starke bestimmt die Art seines Denkens und Handelns aus seinem eigenen Wesen heraus.

Diese Ansicht spricht Nietzsche am schroffsten in Sätzen aus, um derentwillen ihn kleinlich denkende Menschen geradezu als einen gefährlichen Geist bezeichnet haben: „Als die christlichen Kreuzfahrer im Orient auf jenen unbesiegbaren Assassinenorden stießen, jenen Freigeisterorden par excellence, dessen unterste Grade in einem Gehorsame lebten, wie einen gleichen kein Mönchsorden erreicht hat, da bekamen sie auf irgend welchem Wege auch einen Wink über jenes Symbol und Kerbholzwort, das nur den obersten Graden, als deren Sekretum, vorbehalten war: „Nichts ist wahr, alles ist erlaubt!“ .... Wohlan, das war Freiheit des Geistes, damit war der Wahrheit selbst der Glaube gekündigt“ ... (Genealogie der Moral § 19). Daß diese Sätze die Empfindungen einer vornehmen, einer Herrennatur zum Ausdruck bringen, die sich die Erlaubnis, frei, nach ihren eigenen Gesetzen zu leben, durch keine Rücksicht auf ewige Wahrheiten und Vorschriften der Moral verkümmern lassen will, fühlen diejenigen Menschen nicht, die, ihrer Art nach, zur Unterwürfigkeit geeignet sind. Eine Persönlichkeit, wie die Nietzsches ist, verträgt auch jene Tyrannen nicht, die in der Form abstrakter Sittengebote auftreten. Ich bestimme, wie ich denken, wie ich handeln will, sagt eine solche Natur.

Es giebt Menschen, die ihre Berechtigung, sich „Freidenker“ zu nennen, davon herleiten, daß sie sich in ihrem Denken und Handeln nicht solchen Gesetzen unterwerfen, die von anderen Menschen herrühren, sondern nur den „ewigen Gesetzen der Vernunft“, den „unumstößlichen Pflichtbegriffen“ oder dem „Willen Gottes“. Nietzsche sieht solche Menschen nicht als wahrhaft starke Persönlichkeiten an. Denn auch sie denken und handeln nicht nach ihrer eigenen Natur, sondern nach den Befehlen einer höheren Autorität. Ob der Sklave der Willkür seines Herrn, der Religiöse den geoffenbarten Wahrheiten eines Gottes oder der Philosoph den Aussprüchen der Vernunft folgt, das ändert nichts an dem Umstande, daß sie alle Gehorchende sind. Was befiehlt, ist dabei gleichgültig; das ausschlaggebende ist, daß überhaupt befohlen wird, daß der Mensch sich nicht selbst die Richtung für sein Thun giebt, sondern der Meinung ist, es gebe eine Macht, welche ihm diese Richtung vorzeichnet.

Der starke, wahrhaft freie Mensch will die Wahrheit nicht empfangen — er will sie schaffen; er will sich nichts „erlauben“ lassen, er will nicht gehorchen. „Die eigentlichen Philosophen sind Befehlende und Gesetzgeber; sie sagen: so soll es sein! sie bestimmen erst das Wohin? und Wozu? des Menschen und verfügen dabei über die Vorarbeit aller philosophischen Arbeiter, aller Überwältiger der Vergangenheit, — sie greifen mit schöpferischer Hand nach der Zukunft, und alles, was ist und war, wird ihnen dabei zum Mittel, zum Werkzeug, zum Hammer. Ihr „Erkennen“ ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist — Wille zur Macht. — Giebt es heute solche Philosophen? Gab es schon solche Philosophen? Muß es nicht solche Philosophen geben?“ (Jenseits von Gut und Böse § 211.)

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