Ein besonderes Zeichen menschlicher Schwäche sieht Nietzsche in jeder Art von Glauben an ein Jenseits, an eine andere Welt, als die ist, in der der Mensch lebt. Man kann, nach seiner Ansicht, dem Leben keinen größeren Schaden thun, als wenn man sein Leben im Diesseits im Hinblick auf ein anderes Leben im Jenseits einrichtet. Man kann sich keiner größeren Verirrung hingeben, als wenn man hinter den Erscheinungen dieser Welt Wesenheiten annimmt, die der menschlichen Erkenntnis unzugänglich sind, und die als der eigentliche Urgrund, als das Bestimmende alles Daseins gelten sollen. Durch eine solche Annahme verdirbt man sich die Freude an dieser Welt. Man würdigt sie zum Scheine, zu einem bloßen Abglanz eines Unzugänglichen herab. Man erklärt die uns bekannte Welt, die für uns allein wirkliche, für einen nichtigen Traum und schreibt die wahre Wirklichkeit einer erträumten, erdichteten anderen Welt zu. Man erklärt die menschlichen Sinne für Betrüger, die uns Scheinbilder statt Wirklichkeiten liefern.
Nur aus der Schwäche kann eine solche Ansicht stammen. Denn der Starke, der fest in der Wirklichkeit wurzelt, der seine Freude am Leben hat, wird es sich nicht in den Sinn kommen lassen, eine andere Wirklichkeit zu erdichten. Er ist mit dieser Welt beschäftigt und bedarf keiner andern. Aber die Leidenden, die Kranken, die unzufrieden sind mit diesem Leben, nehmen ihre Zuflucht zum Jenseits. Was ihnen das Diesseits entzogen hat, soll ihnen das Jenseits bieten. Der Starke, der Gesunde, der entwickelte und taugliche Sinne hat, um die Gründe dieser Welt in ihr selber aufzusuchen, der bedarf zur Erklärung der Erscheinungen, innerhalb deren er lebt, keiner jenseitigen Gründe und Wesenheiten. Der Schwache, der mit verkrüppelten Augen und Ohren die Wirklichkeit wahrnimmt, der braucht Ursachen hinter den Erscheinungen.
Aus dem Leiden und der kranken Sehnsucht ist der Glaube an das Jenseits geboren. Aus dem Unvermögen, die wirkliche Welt zu durchschauen, sind alle Annahmen von „Dingen an sich“ erwachsen.
Alle, welche Grund haben, das wirkliche Leben zu verneinen, sagen Ja zu einem erdichteten. Nietzsche will ein Jasager gegenüber der Wirklichkeit sein. Diese Welt will er durchforschen nach allen Richtungen, er will sich einbohren in die Tiefen des Daseins; von einem andern Leben will er nichts wissen. Ihn kann selbst das Leiden nicht veranlassen, Nein zum Leben zu sagen; denn auch das Leiden ist ihm ein Mittel der Erkenntnis. „Nicht anders, als es ein Reisender macht, der sich vorsetzt, zu einer bestimmten Stunde aufzuwachen, und sich dann ruhig dem Schlafe überläßt: so ergeben wir Philosophen, gesetzt, daß wir krank werden, uns zeitweilig mit Leib und Seele der Krankheit — wir machen gleichsam vor uns die Augen zu. Und wie jener weiß, daß irgend etwas nicht schläft, irgend etwas die Stunden abzählt und ihn aufwecken wird, so wissen auch wir, daß der entscheidende Augenblick uns wach finden wird, — daß dann etwas hervorspringt und den Geist auf der That ertappt, ich meine auf der Schwäche oder Umkehr oder Ergebung oder Verhärtung oder Verdüsterung, und wie alle die krankhaften Zustände des Geistes heißen, welche in gesunden Tagen den Stolz des Geistes wider sich haben. Man lernt nach einer derartigen Selbstbefragung, Selbstversuchung, mit einem feineren Auge nach allem, worüber überhaupt bisher philosophiert worden ist, hinsehen ...“ (Vorrede zur zweiten Ausgabe der „fröhlichen Wissenschaft“.) —