36.

Einen Erneuerer des dionysischen Geistes glaubte Nietzsche in Richard Wagner zu erkennen. Er hat aus diesem Glauben heraus die vierte seiner „Unzeitgemäßen Betrachtungen“: „Richard Wagner in Bayreuth“, 1875, geschrieben. Er hielt in dieser Zeit noch an der Deutung des dionysischen Geistes fest, die er sich in Gemäßheit der Schopenhauerschen Philosophie gebildet hatte. Er glaubte noch, daß die Wirklichkeit nur menschliche Vorstellung sei und jenseits dieser Vorstellungswelt das Wesen der Dinge in Form des Urwillens liege. Und der schaffende dionysische Geist war ihm noch nicht der aus sich heraus schaffende, sondern der sich selbst vergessende, in dem Urwollen aufgehende Mensch. Bilder des waltenden Urwillens, von einem an diesen Urwillen hingegebenen dionysischen Geiste geschaffen, waren ihm Wagners Musikdramen.

Und da Schopenhauer in der Musik ein unmittelbares Abbild des Willens sah, so glaubte auch Nietzsche in der Musik das beste Ausdrucksmittel für einen dionysisch schaffenden Geist sehen zu sollen. Die Sprache der civilisierten Völker schien ihm erkrankt. Sie kann nicht mehr der schlichte Ausdruck der Gefühle sein, denn die Worte mußten allmählich immer mehr dazu verwendet werden, der Ausdruck für die zunehmende Verstandesbildung der Menschen zu werden. Dadurch aber ist die Bedeutung der Worte abstrakt, arm geworden. Sie können nicht mehr ausdrücken, was der aus dem Urwillen heraus schaffende dionysische Geist empfindet. Dieser kann daher in dem Wortdrama sich nicht mehr aussprechen. Er muß andere Ausdrucksmittel, vor allem die Musik, aber auch die anderen Künste zu Hilfe rufen. Der dionysische Geist wird zum dithyrambischen Dramatiker, „diesen Begriff so voll genommen, daß er zugleich den Schauspieler, Dichter, Musiker umfaßt“. „Wie man sich nun auch die Entwickelung des Urdramatikers vorstellen möge, in seiner Reife und Vollendung ist er ein Gebilde ohne jede Hemmung und Lücke: der eigentlich freie Künstler, der gar nicht anders kann, als in allen Künsten zugleich denken, der Mittler und Versöhner zwischen scheinbar getrennten Sphären, der Wiederhersteller einer Ein- und Gesamtheit des künstlerischen Vermögens, welches gar nicht erraten und erschlossen, sondern nur durch die That gezeigt werden kann“ (Richard Wagner in Bayreuth § 7). Als dionysischen Geist verehrte Nietzsche Richard Wagner. Und nur in dem von Nietzsche in der eben genannten Schrift angegebenen Sinne kann Wagner als dionysischer Geist bezeichnet werden. Seine Instinkte sind auf das Jenseits gerichtet; er will die Stimme des Jenseits durch seine Musik erklingen lassen. Ich habe bereits (S. 81 f.) darauf hingewiesen, daß sich Nietzsche später selbst fand und imstande war, seine auf das Diesseits gerichteten Instinkte in ihrer Eigenart zu erkennen. Er hatte ursprünglich die Wagnersche Kunst mißverstanden, weil er sich selbst mißverstanden hatte, weil er seine Instinkte durch die Schopenhauersche Philosophie hatte tyrannisieren lassen. Wie ein Krankheitsprozeß erschien ihm später diese Unterordnung seiner Instinkte unter eine fremde Geistesmacht. Er fand, daß er auf seine Instinkte nicht gehört hatte und sich durch eine ihm unangemessene Meinung hatte verführen lassen, eine Kunst auf diese Instinkte wirken lassen, die ihnen nur zum Nachteil gereichen konnte, die sie krank machen mußte.

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