37.

Nietzsche hat den Einfluß, den die seinen Grundtrieben widersprechende Schopenhauersche Philosophie auf ihn genommen, selbst geschildert in seiner dritten „Unzeitgemäßen Betrachtung“, „Schopenhauer als Erzieher“ (1873), zu einer Zeit, als er noch an diese Philosophie glaubte. Nietzsche suchte einen Erzieher. Der rechte Erzieher kann nur der sein, der auf den zu Erziehenden so wirkt, daß dessen innerster Wesenskern sich aus der Persönlichkeit heraus entwickelt. Auf jeden Menschen wirkt seine Zeit mit ihren Kulturmitteln ein. Er nimmt auf, was die Zeit an Bildungsstoff bietet. Aber es frägt sich, wie er sich inmitten dieses von außen auf ihn Eindringenden selbst finden kann; wie er das aus sich herausspinnen kann, was er und nur er und kein anderer sein kann. „Der Mensch, welcher nicht zur Masse gehören will, braucht nur aufzuhören, gegen sich bequem zu sein; er folge seinem Gewissen, welches ihm zuruft: „„sei du selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt thust, meinst, begehrst““, so spricht der Mensch zu sich, der eines Tages findet, daß er sich immer nur damit begnügt hat, Bildungsstoff von außen aufzunehmen (Schopenhauer als Erzieher § 1). Nietzsche fand sich selbst, wenn auch zunächst noch nicht in seiner ihm ureigensten Gestalt, durch das Studium der Schopenhauerschen Philosophie. Nietzsche strebte unbewußt danach, einfach und ehrlich seinen Grundtrieben gemäß sich auszusprechen. Er fand um sich nur Menschen, die in den Bildungsformeln der Zeit sich ausdrückten, die ihr eigenes Wesen durch diese Formeln verhüllten. In Schopenhauer fand Nietzsche aber einen Menschen, der den Mut hatte, seine persönlichen Empfindungen der Welt gegenüber zum Inhalte seiner Philosophie zu machen: „Das kräftige Wohlgefühl des Sprechenden“ umfing Nietzsche beim ersten Lesen von Schopenhauers Sätzen. „Hier ist eine immer gleichartige, stärkende Luft, so fühlen wir; hier ist eine gewisse unnachahmliche Unbefangenheit und Natürlichkeit, wie sie Menschen haben, die in sich zu Hause und zwar in einem sehr reichen Hause Herren sind: im Gegensatze zu jenen Schriftstellern, die sich am meisten wundern, wenn sie einmal geistreich waren, und deren Vortrag dadurch etwas Unruhiges und Naturwidriges bekommt.“ „Schopenhauer redet mit sich; oder wenn man sich durchaus einen Zuhörer denken will, so denke man sich den Sohn, den der Vater unterweist. Es ist ein redliches, derbes, gutmütiges Aussprechen vor einem Hörer, der mit Liebe hört“ (Schopenhauer § 2). Daß er einen Menschen, der sich seinen innersten Instinkten gemäß ausspricht, reden hörte, das war es, was Nietzsche zu Schopenhauer hinzog.

Nietzsche sah in Schopenhauer eine starke Persönlichkeit, die nicht durch die Philosophie in einen bloßen Verstandesmenschen umgewandelt wird, sondern die das Logische nur zum Ausdrucke des Überlogischen, des Instinktiven in sich macht. „Die Sehnsucht nach starker Natur, nach gesunder und einfacher Menschheit war bei ihm eine Sehnsucht nach sich selbst; und sobald er die Zeit in sich besiegt hatte, mußte er auch, mit erstauntem Auge, den Genius in sich erblicken“ (Schopenhauer § 3). In Nietzsches Geist arbeitete schon damals das Streben nach der Idee des Übermenschen, der sich selbst sucht, als den Sinn seines Daseins, und einen solchen Suchenden fand er in Schopenhauer. In solchen Menschen sieht er den Zweck und zwar den einzigen Zweck des Weltdaseins erreicht; die Natur scheint ihm an einem Ziele angekommen zu sein, wenn sie einen solchen Menschen hervorgebracht hat. „Die Natur, die nie springt, macht hier ihren einzigen Sprung und zwar einen Freudensprung, denn sie fühlt sich zum erstenmal am Ziele, dort nämlich, wo sie begreift, daß sie verlernen müsse, Ziele zu haben.“ (Schopenh. § 5.) In diesem Satze liegt der Keim zur Konzeption des Übermenschen. Nietzsche wollte, als er diesen Satz niederschrieb, schon genau dasselbe, was er später mit seinem Zarathustra wollte; aber ihm fehlte noch die Kraft, dieses Wollen in einer eigenen Sprache auszusprechen. Er sah schon, als er sein Schopenhauerbuch schrieb, den Grundgedanken der Kultur in der Erzeugung des Übermenschen.

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