38.

In der Entwickelung der persönlichen Instinkte der Einzelmenschen sieht also Nietzsche das Ziel aller menschlichen Entwickelung. Was dieser Entwickelung entgegenarbeitet, erscheint ihm als die eigentlichste Versündigung an der Menschheit. Es giebt aber etwas im Menschen, das auf ganz natürliche Weise seiner freien Entwickelung widerstrebt. Der Mensch läßt sich nicht allein durch die in jedem einzelnen Augenblicke in ihm thätigen Triebe bestimmen, sondern auch durch alles das, was in seinem Gedächtnisse sich angesammelt hat. Der Mensch erinnert sich an seine eigenen Erlebnisse, er sucht sich ein Bewußtsein der Erlebnisse seines Volkes, Stammes, ja der ganzen Menschheit durch den Betrieb der Geschichte zu verschaffen. Der Mensch ist ein historisches Wesen. Die Tiere leben unhistorisch; sie folgen den Trieben, die in dem einzelnen Augenblicke in ihnen wirken. Der Mensch läßt sich durch seine Vergangenheit bestimmen. Wenn er irgend etwas unternehmen will, frägt er sich: welche Erfahrungen habe ich oder ein anderer mit einem ähnlichen Unternehmen schon gemacht? Der Antrieb zu einer Handlung kann durch die Erinnerung an ein Erlebnis vollständig abgetötet werden. Für Nietzsche entsteht aus der Beobachtung dieser Thatsache die Frage: inwiefern wirkt das Erinnerungsvermögen des Menschen auf sein Leben fördernd, und inwiefern wirkt es nachteilig ein? Die Erinnerung, die auch Dinge zu umfassen sucht, die der Mensch nicht selbst erlebt hat, lebt als historischer Sinn, als Studium des Vergangenen in dem Menschen. Nietzsche fragt: inwiefern wirkt der historische Sinn lebenfördernd? Die Antwort auf diese Frage sucht er zu geben in seiner zweiten „Unzeitgemäßen Betrachtung“: „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ (1843). Die Veranlassung zu dieser Schrift war Nietzsches Wahrnehmung, daß der historische Sinn bei seinen Zeitgenossen, namentlich bei den Gelehrten unter denselben, ein hervorstechendes Charaktermerkmal geworden war. Die Vertiefung in die Vergangenheit fand Nietzsche überall gepriesen. Nur durch Erkenntnis der Vergangenheit soll der Mensch imstande sein, zu unterscheiden, was ihm möglich, was ihm unmöglich ist: dieses Glaubensbekenntnis drang ihm in die Ohren. Nur wer weiß, wie sich ein Volk entwickelt hat, kann ermessen, was für seine Zukunft förderlich ist: diesen Ruf hörte Nietzsche. Ja selbst die Philosophen wollten nicht mehr Neues erdenken, sondern lieber die Gedanken ihrer Vorfahren studieren. Dieser historische Sinn wirkt lähmend auf das gegenwärtige Schaffen. Wer bei jedem Impuls, der sich in ihm regt, erst zu bestimmen sucht, wozu ein ähnlicher Impuls in der Vergangenheit geführt hat, in dem erschlaffen die Kräfte, bevor sie gewirkt haben. „Denkt euch das äußerste Beispiel, einen Menschen, der die Kraft zu vergessen gar nicht besäße, der verurteilt wäre, überall ein Werden zu sehen: ein solcher glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein, glaubt nicht mehr an sich, sieht alles in bewegte Punkte auseinander fließen und verliert sich in diesem Strome des Werdens. ... Zu allem Handeln gehört Vergessen, wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört. Ein Mensch, der durch und durch nur historisch empfinden wollte, wäre dem ähnlich, der sich des Schlafens zu enthalten gezwungen wäre, oder dem Tiere, das nur vom Wiederkäuen und immer wiederholtem Wiederkäuen fortleben sollte“ (Historie § 1). Nietzsche ist der Meinung, daß der Mensch nur so viel Geschichte vertragen kann, als dem Maße seiner schöpferischen Kräfte entspricht. Die starke Persönlichkeit führt ihre Intentionen aus, trotzdem sie sich an die Erlebnisse der Vergangenheit erinnert, ja sie wird vielleicht gerade durch die Erinnerung an diese Erlebnisse eine Stärkung ihrer Kraft erfahren. Die Kräfte des schwachen Menschen aber werden durch den historischen Sinn ausgelöscht. Um den Grad zu bestimmen und durch ihn dann die Grenze, „an der das Vergangene vergessen werden muß, wenn es nicht zum Totengräber des Gegenwärtigen werden soll, müßte man genau wissen, wie groß die plastische Kraft eines Menschen, eines Volkes, einer Kultur ist, ich meine jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben“ (Historie § 1).

Nietzsche ist der Ansicht, daß das Historische nur insofern gepflegt werden soll, als es für die Gesundheit eines Einzelnen, eines Volkes oder einer Kultur nötig ist. Worauf es ihm ankommt, ist: „besser lernen, Historie zum Zwecke des Lebens zu treiben“ (Historie § 1). Er spricht dem Menschen das Recht zu, die Geschichte so zu treiben, daß sie möglichst zur Förderung der Antriebe einer bestimmten Gegenwart wirkt. Von diesem Gesichtspunkte aus ist er ein Gegner jener Geschichtsbetrachtung, die nur in der „historischen Objektivität“ ihr Heil sucht, die nur sehen und erzählen will, wie es in der Vergangenheit „thatsächlich“ zugegangen ist, die nur die „reine, folgenlose“ Erkenntnis oder deutlicher „die Wahrheit, bei der nichts herauskommt“, sucht (Historie § 6). Eine solche Betrachtung kann nur aus einer schwachen Persönlichkeit entspringen, deren Empfindungen nicht flut- und ebbeartig auf- und abwogen, wenn sie den Strom der Ereignisse an sich vorübergehen sieht. Eine solche Persönlichkeit „ist zum nachtönenden Passivum geworden, das durch sein Ertönen wieder auf andere derartige Passiva wirkt: bis endlich die ganze Luft einer Zeit von solchen durcheinander schwirrenden zarten und verwandten Nachklängen erfüllt ist.“ (Historie § 6.) Daß aber eine solche schwache Persönlichkeit wirklich die Kräfte nachempfinden kann, die in den Menschen der Vergangenheit gewaltet haben, glaubt Nietzsche nicht: „Doch scheint es mir, daß man gleichsam nur die Obertöne jedes originalen und geschichtlichen Haupttons vernimmt: das Derbe und Mächtige des Originals ist aus dem sphärisch-dünnen und spitzen Saitenklange nicht mehr zu erraten. Dafür weckte der Originalton meistens Thaten, Nöte, Schrecken, dieser lullt uns ein und macht uns zu weichlichen Genießern; es ist, als ob man die heroische Symphonie für zwei Flöten eingerichtet und zum Gebrauch von träumenden Opiumrauchern bestimmt habe.“ (Historie § 6.) Nur der kann die Vergangenheit wirklich verstehen, der auch in der Gegenwart machtvoll lebt, der kräftige Instinkte hat, durch die er die Instinkte der Vorfahren erraten und erschließen kann. Dieser kümmert sich weniger um das Thatsächliche, als um das, was aus den Thatsachen sich erraten läßt. „Es wäre eine Geschichtsschreibung zu denken, die keinen Tropfen der gemeinen empirischen Wahrheit in sich hat und doch im höchsten Grade auf das Prädikat der Objektivität Anspruch machen dürfte.“ (Historie § 6.) Der Meister einer solchen Geschichtsschreibung wäre der, der überall in den historischen Personen und Ereignissen das aufsuchte, was hinter dem bloß Thatsächlichen steckt. Dazu muß er aber ein mächtiges Eigenleben führen, denn Instinkte und Triebe kann man unmittelbar nur an der eigenen Person beobachten. „Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangene deuten: nur in der stärksten Anspannung eurer edelsten Eigenschaften werdet ihr erraten, was in dem Vergangenen wissens- und bewahrenswürdig und groß ist. Gleiches durch Gleiches! Sonst zieht ihr das Vergangene zu euch nieder.“ „Alle Geschichte schreibt der Erfahrene und Überlegene. Wer nicht einiges größer und höher erlebt hat als alle, wird auch nichts Großes und Hohes aus der Vergangenheit zu deuten wissen.“ (Historie § 6.)

Dem Überhandnehmen des historischen Sinnes in der Gegenwart gegenüber macht Nietzsche geltend, „daß der Mensch vor allem zu leben lerne, und nur im Dienste des erlernten Lebens die Historie gebrauche“. (Historie § 10.) Er will vor allen Dingen eine „Gesundheitslehre des Lebens“, und die Historie soll nur insoweit getrieben werden, als sie einer solchen Gesundheitslehre förderlich ist.

Was ist an der Geschichtsbetrachtung lebenfördernd? Diese Frage stellt Nietzsche in seiner „Historie“, und er steht damit bereits auf dem Boden, den er in dem S. 9 f. angeführten Satz aus „Jenseits von Gut und Böse“ bezeichnet.

Share on Twitter Share on Facebook