39.

In besonders starkem Grade wirkt der gesunden Entwickelung der Eigenpersönlichkeit jene Gesinnung entgegen, die in dem bürgerlichen Philister zur Erscheinung kommt. Ein Philister ist der Gegensatz zu einem Menschen, der in dem freien Ausleben seiner Anlagen Befriedigung findet. Der Philister will dieses Ausleben nur insoweit gelten lassen, als es einem gewissen Durchschnittsmaß der menschlichen Begabung entspricht. So lange der Philister innerhalb seiner Grenzen bleibt, ist gegen ihn nichts einzuwenden. Wer ein Durchschnittsmensch bleiben will, der hat das mit sich abzumachen. Nietzsche fand unter seinen Zeitgenossen solche, die ihre philisterhafte Gesinnung zur Normalgesinnung für alle Menschen machen wollten, die ihre Philisterhaftigkeit als das einzige, wahre Menschentum ansahen. Zu ihnen rechnet er Dav. Friedr. Strauß, den Ästhetiker Friedr. Theodor Vischer u. A. Vischer, glaubt er, habe das Philisterbekenntnis unumwunden abgelegt in einer Rede, die er zum Andenken Hölderlins gehalten hat. Er sieht es in den Worten: „Er (Hölderlin) war eine der unbewaffneten Seelen, er war der Werther Griechenlands, ein hoffnungslos Verliebter; es war ein Leben voll Weichheit und Sehnsucht, aber auch Kraft und Inhalt war in seinem Leben, Fülle und Leben in seinem Stil, der da und dort sogar an Aeschylus gemahnt. Nur hatte sein Geist zu wenig vom Harten; es fehlte ihm als Waffe der Humor; er konnte es nicht ertragen, daß man noch kein Barbar ist, wenn man ein Philister ist.“ (David Strauß § 2.) Der Philister will hervorragenden Menschen nicht geradezu die Existenzberechtigung absprechen; aber er meint: sie gehen an der Wirklichkeit zu Grunde, wenn sie sich nicht abzufinden wissen mit den Einrichtungen, die der Durchschnittsmensch seinen Bedürfnissen entsprechend geschaffen hat. Diese Einrichtungen seien einmal das Einzige, was wirklich, was vernünftig ist, und in sie müsse sich auch der große Mensch fügen. Aus dieser Philistergesinnung heraus hat David Strauß sein Buch „Der alte und der neue Glaube“ geschrieben. Gegen dieses Buch oder vielmehr gegen die in ihm zum Ausdruck gekommene Gesinnung wendet sich die erste der Nietzscheschen „Unzeitgemäßen Betrachtungen“: „David Strauß, der Bekenner und Schriftsteller“ (1873). Der Eindruck der neueren naturwissenschaftlichen Errungenschaften auf den Philister ist ein solcher, daß er sagt: „Der christliche Ausblick auf ein unsterbliches, himmlisches Leben ist, samt den andern Tröstungen der christlichen Religion, unrettbar dahingefallen.“ (David Strauß § 4.) Er will sich das Leben auf der Erde gemäß den Vorstellungen der Naturwissenschaft behaglich, d. h. so behaglich, wie es dem Philister entspricht, einrichten. Nun zeigt der Philister, wie man glücklich und zufrieden sein kann, trotzdem man weiß, daß kein höherer Geist über den Sternen waltet, sondern die starren, gefühllosen Kräfte der Natur über alles Weltgeschehen herrschen. „Wir haben während der letzten Jahre lebendigen Anteil genommen an dem großen nationalen Krieg und der Aufrichtung des deutschen Staates, und wir finden uns durch diese so unerwartete als herrliche Wendung der Geschicke unserer vielgeprüften Nation im Innersten erhoben. Dem Verständnis dieser Dinge helfen wir durch geschichtliche Studien nach, die jetzt mittelst einer Reihe anziehend und volkstümlich geschriebener Geschichtswerke auch dem Nichtgelehrten leicht gemacht sind; dabei suchen wir unsere Naturerkenntnisse zu erweitern, wozu es an gemeinverständlichen Hülfsmitteln gleichfalls nicht fehlt; und endlich finden wir in den Schriften unserer großen Dichter, bei den Aufführungen der Werke unserer großen Musiker eine Anregung für Geist und Gemüt, für Phantasie und Humor, die nichts zu wünschen übrig läßt. So leben wir, so wandeln wir beglückt.“ (Strauß, Der alte und neue Glaube § 88.)

Es ist das Evangelium des trivialsten Lebensgenusses, das aus diesen Worten spricht. Alles, was über das Triviale hinausgeht, nennt der Philister ungesund. Strauß sagt von der „Neunten Symphonie“ Beethovens, daß diese nur bei denen beliebt sei, welchen „das Barocke als das Geniale, das Formlose als das Erhabene gilt“ (Der alte und neue Glaube § 109); von Schopenhauer weiß der Messias des Philistertums zu verkünden, daß man an eine so „ungesunde und unersprießliche“ Philosophie wie die Schopenhauersche keine Gründe, sondern höchstens nur Worte und Scherze verschwenden dürfe. (David Strauß § 6.) Gesund nennt der Philister nur das, was der Durchschnittsbildung entspricht.

Als sittliches Urgebot stellt Strauß den Satz auf: „Alles sittliche Handeln ist ein Sichbestimmen des Einzelnen, nach der Idee der Gattung.“ (Der alte und neue Glaube § 74.) Nietzsche erwidert darauf: „Ins Deutliche und Greifbare übertragen heißt das nur: lebe als Mensch und nicht als Affe oder Seehund. Dieser Imperativ ist leider nur durchaus unbrauchbar und kraftlos, weil unter dem Begriff Mensch das Mannigfaltigste zusammen im Joche geht, z. B. der Patagonier und der Magister Strauß, und weil niemand wagen wird, mit gleichem Rechte zu sagen: lebe als Patagonier! und: lebe als Magister Strauß!“ (Dav. Strauß § 7.)

Es ist ein Ideal, und zwar ein Ideal jämmerlichster Art, das Strauß den Menschen vorsetzen will. Und Nietzsche protestiert dagegen; er protestiert, weil in ihm ein lebhafter Instinkt ruft: lebe nicht, wie der Magister Strauß, sondern lebe, wie es dir angemessen ist!

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