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Erst in der Schrift: „Menschliches, Allzumenschliches“ (1878) erscheint Nietzsche frei von dem Einflusse der Schopenhauerschen Denkweise. Er hat es aufgegeben, übernatürliche Ursachen für die natürlichen Ereignisse zu suchen; er strebt nach natürlichen Erklärungsgründen. Er sieht jetzt alles Menschenleben als eine Art natürlichen Geschehens an; in dem Menschen sieht er das höchste Naturprodukt. Man lebt „zuletzt unter den Menschen und mit sich wie in der Natur, ohne Lob, Vorwürfe, Ereiferung, an vielem sich wie an einem Schauspiel weidend, vor dem man sich bisher nur zu fürchten hatte. Man wäre die Emphasis los und würde die Anstachelung des Gedankens, daß man nicht nur Natur oder mehr als Natur sei, nicht weiter empfinden ..... es muß ein Mensch, von dem in solchem Maße die gewöhnlichen Fesseln des Lebens abgefallen sind, daß er nur deshalb weiter lebt, um immer besser zu erkennen, auf alles, ja fast auf alles, was bei den anderen Menschen Wert hat, ohne Neid und Verdruß verzichten können; ihm muß als der wünschenswerteste Zustand jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge genügen.“ (Menschliches I. § 84.) Nietzsche hat bereits allen Glauben an Ideale aufgegeben; er sieht in den menschlichen Handlungen nur noch Folgen natürlicher Ursachen, und in dem Erkennen dieser Ursachen findet er seine Befriedigung. Er findet, daß man eine unrichtige Vorstellung von den Dingen bekommt, wenn man bloß das an ihnen sieht, was von dem Lichte der idealistischen Erkenntnis beleuchtet wird. Es entgeht einem dann das, was von den Dingen im Schatten liegt. Nietzsche will jetzt nicht nur die Sonnen-, sondern auch die Schattenseite der Dinge kennen lernen. Aus diesem Streben ging die Schrift: „Der Wanderer und sein Schatten“ hervor (1879). Er will in diesem Buche die Erscheinungen des Lebens von allen Seiten erfassen. Er ist „Wirklichkeitsphilosoph“ im besten Sinne des Wortes geworden.

In der „Morgenröte“ (1881) schildert er den moralischen Prozeß in der Menschheitsentwickelung als einen Naturvorgang. Schon in dieser Schrift zeigt er, daß es keine überirdische sittliche Weltordnung, keine ewigen Gesetze des Guten und Bösen giebt, und daß alle Sittlichkeit entsprungen ist aus den in den Menschen waltenden natürlichen Trieben und Instinkten. Nun war die Bahn frei gemacht für den originellen Wandergang Nietzsches. Wenn keine außermenschliche Macht dem Menschen eine bindende Verpflichtung auferlegen kann, dann ist er berechtigt, das eigene Schaffen frei walten zu lassen. Diese Erkenntnis ist das Leitmotiv der „fröhlichen Wissenschaft“ (1882). Keine Fessel ist nun dieser „freien“ Erkenntnis Nietzsches mehr angelegt. Er fühlt sich berufen, neue Werte zu schaffen, nachdem er den Ursprung der alten erkannt und gefunden hat, daß sie nur menschliche, keine göttlichen Werte sind. Er wagt es jetzt, das zu verwerfen, was seinen Instinkten widerspricht, und anderes an die Stelle zu setzen, was seinen Trieben gemäß ist: „Wir Neuen, Namenlosen, Schlechtverständlichen, wir Frühgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft — wir bedürfen zu einem neuen Zwecke auch eines neuen Mittels, nämlich einer neuen Gesundheit, einer stärkeren, gewitzteren, zäheren, verwegeneren, lästigeren, als alle Gesundheiten bisher waren. Wessen Seele darnach dürstet, den ganzen Umfang der bisherigen Werte und Wünschbarkeiten erlebt und alle Künste dieses idealischen „Mittelmeeres“ umschifft zu haben, wer aus den Abenteuern der eigensten Erfahrungen wissen will, wie es einem Eroberer und Entdecker des Ideals zu Mute ist ... der hat zu allererst Eins nötig, die große Gesundheit .... Und nun, nachdem wir lange dergestalt unterwegs waren, wir Argonauten des Ideals, mutiger vielleicht, als klug ist ... will es uns scheinen, als ob wir, zum Lohn dafür, ein noch unentdecktes Land vor uns haben .... Wie könnten wir uns, nach solchen Ausblicken und mit einem solchen Heißhunger in Gewissen und Wissen, noch am gegenwärtigen Menschen genügen lassen!“ (Fröhliche Wissenschaft § 382.)

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