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Aus der in den vorstehenden Sätzen charakterisierten Stimmung heraus erwuchs Nietzsche das Bild seines Übermenschen. Es ist das Gegenbild des Gegenwartsmenschen; es ist vor allem das Gegenbild des Christen. Im Christentum ist der Widerspruch gegen die Pflege des starken Lebens Religion geworden. (Antichrist § 5.) Der Stifter dieser Religion lehrte: daß vor Gott das verächtlich ist, was vor den Menschen Wert hat. In dem „Gottesreich“ will der Christ alles verwirklicht finden, was ihm auf Erden mangelhaft erscheint. Das Christentum ist die Religion, die dem Menschen alle Sorge für das irdische Leben benehmen will; es ist die Religion der Schwachen, die sich gerne als Gebot vorsetzen lassen: „Widerstrebe nicht dem Bösen und dulde alles Ungemach“, weil sie nicht stark genug sind zum Widerstande. Der Christ hat keinen Sinn für die vornehme Persönlichkeit, die aus ihrer eigenen Wirklichkeit ihre Kraft schöpfen will. Er glaubt, der Blick für das Menschenreich verderbe die Sehkraft für das Gottesreich. Auch die vorgeschritteneren Christen, die nicht mehr glauben, daß sie am Ende der Tage in ihrer leibhaftigen Gestalt wieder auferstehen werden, um entweder in das Paradies aufgenommen oder in die Hölle verstoßen zu werden, träumen von „göttlicher Vorsehung“, von einer „übersinnlichen“ Ordnung der Dinge. Auch sie sind der Ansicht, daß sich der Mensch über seine bloß irdischen Ziele erheben und in ein ideales Reich einfügen müsse. Sie glauben, daß das Leben einen rein geistigen Hintergrund habe, und daß es erst dadurch einen Wert erhalte. Nicht die Instinkte für Gesundheit, Schönheit, Wachstum, Wohlgeratenheit, Dauer, für Häufung von Kräften will das Christentum pflegen, sondern den Haß gegen den Geist, gegen Stolz, Mut, Vornehmheit, gegen das Selbstvertrauen und die Freiheit des Geistes, den Haß gegen die Freuden der sinnlichen Welt, gegen die Freude und Heiterkeit der Wirklichkeit, in der der Mensch lebt. (Antichrist § 21.) Das Christentum bezeichnet das Natürliche geradezu als „verwerflich“. Im christlichen Gotte ist ein jenseitiges Wesen, d. h. ein Nichts vergöttlicht, es ist der Wille zum Nichts heilig gesprochen. (Antichrist § 18.) Deshalb bekämpft Nietzsche im ersten Buche seiner „Umwertung aller Werte“ das Christentum. Und er wollte im zweiten und dritten Buche auch die Philosophie und Moral der Schwachen bekämpfen, die sich nur in der Rolle von Abhängigen wohlgefallen. Weil der Typus des Menschen, den Nietzsche gezüchtet sehen will, das diesseitige Leben nicht gering schätzt, sondern dieses Leben mit Liebe umfaßt und es zu hoch stellt, um glauben zu können, daß es nur einmal gelebt werden solle, deshalb ist er nach „der Ewigkeit brünstig“ (Zarathustra, 3. Teil, die sieben Siegel) und möchte, daß dieses Leben unendlich oft gelebt werden könne. Nietzsche läßt seinen „Zarathustra“ den „Lehrer der ewigen Wiederkunft“ sein. „Siehe, wir wissen ....., daß alle Dinge ewig wiederkehren und wir selber mit, und daß wir schon ewige Male dagewesen sind, und alle Dinge mit uns.“ (Zarath. 3. Teil, der Genesende.) Eine bestimmte Meinung darüber zu haben, welche Vorstellung Nietzsche mit dem Worte „ewige Wiederkunft“ verknüpfte, scheint mir gegenwärtig nicht möglich zu sein. Man wird darüber erst Genaueres sagen können, wenn die Aufzeichnungen Nietzsches zu den unvollendeten Teilen seines „Willens zur Macht“ in der zweiten Abteilung der Gesamtausgabe seiner Werke vorliegen werden.

Pierer’sche Hofbuchdruckerei. Stephan Geibel & Co. in Altenburg.

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