»Gnade der milde Christ nach seiner Gütigkeit denen Allen, so in Unglück gerathen sind – und uns!« sagt’ ich, und gar sehr war ich bewegt im Herzen von der Geschichte, die ich gehört hatte.
141 Wohl trieb’s mich, noch ferner mit Brun davon zu reden, und von Bruno, was denn aus ihm geworden, ob er noch lebe und wo er weile. Aber ich ersah, der Alte wollte ungefragt sein, denn er stund auf und sagte: »Auf, Diether! – Schon ist Mitternacht vorüber, denn sieh, der Mond neigt sich auf seiner Bahn dort den Bergen zu. Kühl hat sich der Nachtwind aufgemacht und der Thau fällt stark. Lang’ schon solltest Du, junger Knabe, unter Dach geborgen sein.«
Und so stieg er mir voran den Bergeshang abwärts. Wie wir schweigend giengen und über uns die Wipfel der Tannen rauschten, bald lauter, bald leiser und sich gegen einander bogen, und unter uns die Wellen brausten, jetzt heller klingend, jetzt dumpfer murmelnd, war mir’s, als erzählten auch sie sich in der Sommernacht die traurige Mär’ von dem ewigen Geheimniß des Menschenherzens, das wähnet, das Paradies zu gewinnen, und die Schmerzen der Hölle sich bereitet.
Bald lag ich auf meinem Lager drinnen in der Klause. Ich weiß nicht, wie mir da geschah und ob ich schon eingeschlafen war oder just die Augen zum Schlummer sich senkten: ich sah Brun nahe bei mir stehen und unverwandt mich betrachten.
Zuweilen beugte er sich hernieder und bewegte seine Hand, mich zu berühren. Dann wich er wieder ein wenig zurück, als scheute er sich zu thun, wozu doch sein Sinn ihn zog, oder er fürchtete, ich möchte erschreckt werden und erwachen. Nach einer Weile ließ er ab von diesem Streit. Aber eine größere Unruhe schien in seiner Seele sich anzuheben. Es war, als ob mein Anblick davon die Ursache wäre. Er sah 142 noch einmal lang’ nach mir hin, schauderte dann jählings zusammen und sank in seinen Sitz nieder, sein Angesicht von mir gewendet und mit beiden Händen verhüllend.
»Nein, nein, HErr!« hört’ ich ihn murmeln. »Nicht dieses Bild jetzt neben die süße Erinnerung!«
Ein breiter Strahl des Mondes drang durch das dichte Gitter der Bäume draußen und das kleine Fenster und glitt durch den engen Raum hin zur Wand dem Alten gegenüber. Wie es dort hell das Bild der Gottesmutter umspielte, ward sein Blick, da er sein Haupt wieder erhob, dorthin gelenkt. Irgend etwas an dem Bilde mußte ihn erschrecken. Denn er erzitterte auf’s Neue. Und doch konnt’ er nicht widerstehen, dahin zu blicken, was der lichte Schein ihm wies.
»Und Du drohest immer wieder«, sagt’ er dabei mit Flüstern, »und ewig blutet die Wunde?«
Da sah ich ihn aufspringen und das Schwert aus der Seite des Bildes ziehen, darin es stak. Er trat damit in das Licht und ließ den Stahl darin blitzen.
»Ja«, rief er dann mit leisem Stöhnen, »sie sind noch immer da – die blutigen Flecken, und keine Zeit hat Rost genug, sie zu verzehren!«
Und jetzt schwang er die Waffe mit wilder Gebärde, und es hatte das Ansehen, als wollt’ er sie gegen sich selber richten und es schüfe ihm Mühe, davon abzulassen, und ich hört’ ihn dabei klagen: »Verloren all’ – all’ verloren!«
»Hilf, Herr!« dacht’ ich. »Er ist von Sinnen kommen!« und richtete mich in die Höh’.
Da wandt’ er sich und wie er mich ersah, schüttelte er heftig sein Haupt, streckte die Arme gegen mich und 143 rief mit drohender Stimme: »Du da? Du bist der Bringer schrecklicher Dinge! Du weckst auf zur Mitternacht, was mit Mühe begraben war!«
Und als ich weiten Auges und sprachlosen Staunens voll nach ihm blickte, rief er wieder: »Sieh nicht so her mit diesen Augen! Es ist nicht! Es ist Lug auch dies, und nimmer heilt die Wunde!«
Aber plötzlich sprang er auf mich zu, und, eh’ ich’s hindern konnte, hatte er von meiner Schulter das Linnen gestreift, das ich trug. Als er, die Waffe in der Hand, sich dicht über mich beugte, wähnt’ ich nicht anders, denn daß der Rasende mich morden wollte. Und ich schrie laut.
Im selben Augenblick aber war er zur Seite meines Lagers in die Knie’ gesunken und seine Arme hielten mich umschlungen. »O Gott, o Gott!« rief er mit einer Stimme, weich wie die eines Kindes. Und seine Hand strich mir kosend über Stirn und Wangen und seine Thränen tropften auf mich nieder. »Schlaf, Diether, schlaf!« sprach er wieder, »kein Schrecken des Ortes müsse Dir nahen, und Engel des Friedens müssen Dich beschirmen.«
Darnach ergriff er meiner Hände eine und hielt sie an sein Herz, als würde von der Berührung der Sturm sich legen in seiner Seele. Als er so gethan, beharrte er eine Weile, wie mich däuchte, im Gebet, bekreuzigte dann sich und mich, stund auf und gieng der Thür zu. Bevor er hinausschritt, kehrte er sich noch einmal zu mir und sagte wieder: »So schlaf denn, Diether! und zürne dem Alten nicht um sein wirres Wesen, damit er Dich erschreckt hat; Du siehst, es ist vorüber.«
144 Aber wie hätt’ ich nach dem Allen vermocht, jetzt nach seinem Wunsch zu thun. Mich trieb’s dem Alten nach zu seh’n. Ich erblickt’ ihn durch’s Fenster, wie er ein nahes Gestein erstieg, unter dem das Wasser breiter und stiller dahinfloß als anderwärts. Dort stund er eine kurze Weile unbeweglich und warf die Waffe, die er mit sich genommen, hinab in die Tiefe. Vorgebückt sah er ihr nach, wo sie versunken war. Dann gieng er festen Schrittes die Höhe hinan. Ich konnte nicht ersehen, wohin er seinen Weg nahm.
Aber da ich leise das Fenster geöffnet hatte und, wie ich mich hinauslehnte, den ersten bleichen Schimmer des Tages über die Berge aufdämmern sah, tönt’ es wie ferner Gesang in mein Ohr. Und bald unterschied ich heilige Klänge und Orgelton.
Da trat ich hinaus.
Laut und lauter ertönte der Gesang und deutlicher erscholl der Orgelton; und jetzt schwangen sich die Töne auf, wie nächtliche Nebel aus der Tiefe zu lichten Morgenwolken werden, und ich hörte vernehmlich den Lobgesang St. Ambrosii. Aus voller Brust stimmt’ auch ich ein und sang die sel’gen Klänge mit. Da schienen mir die Waldvöglein, die davon erwachten, auch mit uns Gott zu loben in ihrer Weise; und wie ich hinaufsah nach St. Wigbert’s Kirchlein, gieng der erste Sonnenstrahl über sein Dach, die nächtlichen Schatten entflohen und ich grüßte das süße Licht.
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