Advent von Achtzehnhundertsieben

In memoriam Minchen Herzlieb

… Und war es nur ein Schein, —
Sie lag in meinen Armen.
War sie drum weniger mein?

Goethe

Jena im November. Um den »Hanfried«, Johann Friedrichs des Großmütigen ehrwürdiges Denkmal mit dem altmodischen Eisengitter, raschelt das letzte welke Laub — freigebig verstreuen es die Bäume des Marktes, und nicht lange mehr, so stehen sie kahl, und allein die grauen, verwitterten Häuserrahmen dann den weiten Platz.

Früh kommt die Dämmerung. Sie kriecht von den Bergen her durch die engen, winkligen Gassen der Stadt, umschattet die Türme, hängt feuchte Schleier um Giebel und Dächer und hockt sich in die Tür- und Fensternischen. Sie kommt auch zu dem Fremdling, der bei Göhre sitzt und auf den Markt herabschaut, vom schweren roten Wein ein wenig müde. Setzt sich zu ihm in das dunkle Fenster und erzählt von der Vergangenheit. Die zu suchen, ist hier der Fremdling von Weimar, der gnadenreichen Stadt, herübergefahren, und blasse Mittagssonne hat auf stiller Wanderung alle Wunder des »lieben närrischen Nestes« enthüllt. Nun, da der Abend nahe, lockt die schattenhafte Stadt zu neuer Wanderung. Vielleicht, so raunt die dunkle Stunde, daß sich ein Wunder begibt und, was die[104] langen Jahre friedlich in Gräbern und in Grüften ruht, für kurze Zeit lebendig wird und wandelt … vielleicht, daß die Legende einmal aufersteht, die diese Stadt und diese Straßen verklärt!

Dunkel die Häuser, dunkel der Weg. Laternenlicht huscht über schwarze Mauern. Merkwürdig stehen, wo sich die Gassen kreuzen, die Giebel gegen den blassen Himmel — Kulissen zu Szenen und Geschichten, wie sie der Geist zuweilen in Nächten ohne Schlaf aufbaut und die im Hirn der Dichter als Träume leben. Einmal steht man auf hochgewölbter Brücke und blickt versonnen auf eines Flusses ruhevolles Gleiten, Baumwipfel spiegeln sich, ein helles Fenster. Dann wieder Gassen hin und her, Parkanlagen, aus denen herber Duft steigt, in schwarzem Rasen leuchtend eine weiße Herme, hinter schwarzen Bäumen hell der Sandsteinbau der Universität.

Hier stand einst das Schloß. Goethe hat oft darin gewohnt, in Knebels »alter Stube«, in der er sich immer so wohl gefühlt hat. Es muß ein düsterer, winkelreicher Bau aus Urvätertagen gewesen sein, dies alte Schloß, halb verfallen schon zu Goethes Zeiten. Daß es abgerissen wurde, ist trotzdem ein Unrecht, die Tat einer pietätlosen Zeit, der Erinnerungen Schall und Rauch. Ein Bürger Jenas hat damals den Torbogen gerettet, durch den Goethe und Schiller und auch Carl August so oft geschritten sind, und hat ihn in die Mauer seines Gartens einfügen lassen, weit draußen vor den Toren der Stadt, im Mühltal. Auch in dem Winter auf 1808 hat Goethe hier gewohnt, jenem Winter, in dem das Herz des fast Sechzigjährigen sich in jäher Liebe Minchen Herzlieb zuwandte, der schönen Pflegetochter des Buchhändlers Frommann, und wenn Goethe da nachmittags oder abends zu Frommanns ging, so hatte er keinen Weg zu machen: sie wohnten nur ein paar Schritte ab, gleich schräg gegenüber.

Nur ein paar Schritte ab, gleich schräg gegenüber … das schlichte Haus steht noch da, niedrige Mauer trennt es von der Straße, an die es nur mit dem einen Flügel heranreicht, der andere, mit jenem durch einen fensterreichen Mittelbau verbunden, endet in einem Gärtchen. Der frühe Abend, nun schon ganz zu Dunkelheit geworden, läßt nur Umrisse erkennen, doch über Dach und First fliegt ab und zu ein blasser Glanz, wenn der Mond für Augenblicke aus den eilig wandernden Wolken[105] hervortritt: Theater, das Beschwörung haucht. Und irgendwo rauscht Wind, irgendwo schlägt eine Uhr, langsam und bedächtig, der Fremdling zählt die Schläge … fünf, sechs, sieben. Stille. Sieben Uhr! Da gleitet ein Schatten vorüber, eine große Gestalt, »im weiten Mantel bis ans Kinn verhüllt«, auf dem Kopfe einen niedrigen Zylinder. Traum! Denn dies, das Herz setzt aus und klopft dann wilden Takt, ist Goethe! Auferstanden von den Toten … also hat sich der Zeiger der Weltuhr gedreht, hat sich das Wunder begeben, sind hundert Jahre ein Nichts geworden?

Gleichviel … auf fliegt der eine Torflügel, wie von Geisterhand berührt, Schritte hallen über den Hof, ein Klopfen zerreißt die abendliche Stille, Fenster werden hell, eine Türe tut sich auf, und im warmen Lampenschein steht eine Mädchengestalt, rührend, lichtumflossen, Gretchen in der Mode von 1800, ein Häubchen deckt das dunkle Haar. Dem Lauscher vor dem finsteren Tor wird heiß … »Guten Abend, Exzellenz!« Willkommenssingsang, lieblichster, aus Mädchenmund. Und die dunkle Gestalt im Mantel breitet froh die Arme: »Lieb Kind! Mein artig Herz!«

Und die Türe fällt zu, die Fenster werden wieder dunkel, schweigend liegt das Haus. Goethe und Minchen Herzlieb! Der Fremdling schauert. Wind fährt die Straße herauf, feuchter Wind von den Saalewiesen, der frösteln macht, Ziegeln klappern, an der Mauer scheuern sich ächzend Zweige.

[106]

War's Spuk?

Ein Traum erregter Sinne? Vision aus Büchern?

Gassen, nun schon schwarze Nacht, führen wieder zum Markt, zu Göhre … mit dem putzigen kleinen Zigarrenladen, mit der Wendeltreppe, mit den alten Stuben und den alten Sofas: Raabe-Klima. Das läßt gut weiterträumen.

Jena im November. Tage der Versunkenheit. Der spürenden Erinnerung erschließt sich die Vergangenheit, und der Jenaer »Advent von Achtzehnhundertsieben«, der sich in Goethes Brust nach eigener Konfession mit Flammenschrift eingeschrieben, ersteht aufs neue.

Wie war das doch mit Minchen Herzlieb?

Am 13. Dezember 1812 empfiehlt Zelter Goethe in einem Briefe einen Berliner Gymnasialprofessor namens Pfund, der nach Weimar kommen werde. Goethe antwortet am 15. Januar 1813 dem Freunde: »Herrn Pfund habe ich gern und freundlich, obwohl nur kurze Zeit gesehen. Er empfahl sich mir besonders durch seine Anhänglichkeit an Dich. Seine Braut fing ich an als Kind von acht Jahren zu lieben und in ihrem sechzehnten Jahr liebte ich sie mehr als billig. Du kannst ihr auch deshalb etwas freundlicher sein, wenn sie zu Euch kommt.«

Das Haus des Buchhändlers Frommann zu Jena
Im Querbau oben die Fenster des Wohnzimmers

Diese Braut, von der Goethe spricht, war Minchen Herzlieb. Er lernte sie tatsächlich schon früh kennen, wenn auch nicht als Kind von acht, so doch von neun Jahren. Sie war eine Pflegetochter des Buchhändlers Friedrich Ernst Frommann in Jena, in dessen Haus Goethe seit 1798, wo dieser kluge und tiefgebildete Mann von Züllichau nach Jena übergesiedelt war, viel und freundschaftlich verkehrte. Denn er fand dort fast das ganze geistige Jena jener Zeit, und es ist nicht allein Frommann selbst gewesen, der sein Haus zu diesem Sammelpunkt von Dichtung und Wissenschaft zu machen verstand, sondern vor allem wohl auch seine Frau, die mit aller bürgerlichen Bescheidenheit Grazie und Anmut und geistige und künstlerische Interessen zu verbinden wußte. Ihr Sohn, der später die Frommannsche Buchhandlung übernahm und im Geiste des toten Vaters weiterführte, hat ihr 1870 in seinem kleinen Buche »Das Frommannsche Haus und seine Freunde« ein rührendes Denkmal gesetzt, und auch Goethe[108] hat immer viel von dieser seltenen und noch im Alter anmutigen Frau gehalten — seine zahlreichen Briefe an die »teure Freundin«, seine besorgten Anfragen nach ihrem Wohlergehen, seine häufigen Besuche, seine wiederholten Einladungen nach Weimar bezeugen das.

In diesem gastfreien und lebendigen Hause nun wuchs Minchen Herzlieb auf, eine Waise, die Tochter eines Pfarrers aus Züllichau, wo sie am 22. Mai 1785 geboren worden war. Sie war neun Jahre alt, als die Pflegeeltern nach Jena kamen, ein hübsches, zutrauliches Kind, das neben den Stiefgeschwistern still und ruhig dahinlebte und Goethe, der für hübsche Kinder immer eine Vorliebe hatte, wohl gefallen haben mag. Für ein Mehr an Gefühl allerdings fehlt aus diesen frühen Jahren jeder Beleg. Auch seine spätere Äußerung zu Zelter ist wohl kaum so zu deuten, scheint vielmehr ein wenig scherzhaft gemeint, wenn auch von einem leisen Klang der Wehmut durchzittert, daß er die, die er nachher »mehr als billig« geliebt, so rasch verlieren mußte … Daß sie ihm, unbewußt, schon als kleines Mädchen mehr gewesen ist als bloß das hübsche Pflegekind der Freunde, ist ihm erst klar geworden, als die Liebe zu dem reizvoll aufgeblühten Wesen die Erinnerung auch an das Einst verklärte, — wie der gereifte Mann ja oft schon das Kind geliebt zu haben glaubt, das seinem Herzen später als Frau teuer ist. In einem der Sonette, die er später in »Raserei der Liebe« an sie gerichtet, hat er diese nachträglichen Empfindungen reizvoll umschrieben:

Als kleines art'ges Kind nach Feld und Auen
Sprangst du mit mir, so manchen Frühlingsmorgen.
»Für solch ein Töchterchen, mit holden Sorgen,
Möcht' ich als Vater segnend Häuser bauen!«

Und als du anfingst, in die Welt zu schauen,
War deine Freude häusliches Besorgen.
»Solch eine Schwester! und ich wär geborgen:
Wie könnt' ich ihr, ach! wie sie mir vertrauen!«

Doch das heißt der Zeit vorgreifen! Jahr und Tag gingen zunächst hin, ohne daß Goethe das holde Wunder, das sich da in dem Haus am Fürstengraben entfaltete, mit den Augen des Mannes, des Liebhabers gesehen hätte. Das entdeckte als erster ein junger livländischer Edelmann, der in Jena studierte und bei[109] Frommanns verkehrte, ein Herr von Manteuffel. Minchen war damals noch nicht vierzehn Jahre, und nach der Schilderung, die der Stiefbruder in seinem Buche gibt, muß sie entzückend gewesen sein, schon ganz das schöne Geschöpf, das wenige Jahre später dem sechzigjährigen Goethe Pandora, die milde Göttin, und die Ottilie der »Wahlverwandtschaften« wurde: »So gesund sie von Jugend auf war, entwickelte sie sich doch geistig nur langsam und behielt ihr Leben lang etwas Träumerisches. Eine regelmäßig schöne Gesichtsbildung hatte sie zwar nicht, aber ihr reiches schwarzes Haar und ihre großen braunen Augen mit dem unbefangenen freundlichen Ausdruck, der auch um ihren Mund spielte, ließen nicht an das denken, was etwa fehlen mochte, zumal alles in Harmonie war mit dem Ebenmaß ihrer schlanken Gestalt und der Anmut jeder ihrer Bewegungen, beseelt durch allgemeines Wohlwollen, bescheidenes, hingebendes, auf alle Bedürfnisse und nicht ausgesprochenen Wünsche der anderen aufmerksames Wesen. So war es natürlich, daß sie auf alle, die ihr, wenn auch nur in gewisser Entfernung, nahten, einen unwiderstehlichen Zauber übte, der sich auch noch in späten Jahren alle Herzen gewann.«

So auch ein Bild von ihr aus diesen Jahren, ein Miniaturporträt von der Hand Johanna Frommanns, die als Mutter vielleicht mit den Augen der Liebe gesehen, aber aus dem gleichen Grunde sicherlich den geistigen Ausdruck des geliebten Kindes besser getroffen hat als mancher Berufskünstler. Das ist schon die Ottilie Goethes, die in der Pension in ihrer rührenden, ein wenig dumpfen Einfalt und Bescheidenheit das Herz des »Gehülfen« rührt, später, auf Eduards Schloß, diesen in ihren Bann zieht … die dunklen, unschuldsvollen Augen sind leicht verschleiert, mädchenhafter Liebreiz liegt um Wange und Mund, das lockige Haar rahmt eigenwillig das zarte Antlitz. Minchen hat dies Bild einer Freundin geschenkt, Christiane Selig, als diese im Sommer 1806 Jena verließ und nach Lüneburg zog. Christiane Selig, die dort dann bald heiratete, war auch das einzige Wesen, dem gegenüber Minchen etwas mehr aus sich herausging, war die Vertraute, vor der sie, im übrigen von einer fast krankhaften Verschlossenheit und Mitteilungsscheu, keine Geheimnisse hatte. Mit ihr allein stand sie in brieflichem Gedankenaustausch, und die wenigen Blätter von ihrer Hand, die aus diesem Briefwechsel[110] erhalten sind, sind die einzigen Briefe, die wir überhaupt von ihr besitzen — Dokumente einer stillen, verträumten Natur, die sich in Selbstanklagen und Zweifeln gefiel, im Ton oft überschwenglich und auf der anderen Seite von einer rätselhaften Schwermut beschattet: Ottilien-Briefe!

»Die lieblichste aller jungfräulichen Rosen« nennt sie, ein wenig später, die Malerin Luise Seidler. Auch sie hat Minchen gemalt; das schöne Bild, wie das viel herbere der Mutter nun auch im Goethe-Haus am Frauenplan, dem es Vermächtnis, atmet den ganzen süßen Reiz dieser Mädchengestalt in seelischer Verklärung: eine Novelle in Farben. Novelle auch, wenn die Künstlerin weiter schwärmt: »… mit großen, dunklen Augen, die, mehr sanft und freundlich als feurig, jeden herzig-unschuldsvoll anblickten und bezaubern mußten; die Flechten glänzend rabenschwarz; das anmutige Gesicht vom warmen Hauche eines frischen Kolorits belebt; die Gestalt schlank und biegsam, vom schönsten Ebenmaß, edel und graziös in allen ihren Bewegungen. Sie liebte schlichte weiße Kleider; gewöhnlich trug sie auch beim Ausgehen keinen Hut, sondern nur ein kleines Knüpftüchelchen, unter dem Kinn zugebunden.«

So also lebte sie, ein liebenswürdiges Menschenkind, in dem schönen Haus am Fürstengraben, so ging sie durch die Gassen des alten Jena, Friederike Brion in neuer Gestalt. Die häusliche Wirtschaft, eine Mädchenfreundschaft, arglose Tändelei mit Jenas Studenten, Spaziergänge zum »Paradies«, war's Sommer, nach den Mühlen der Umgebung und wohl auch nach Burgau, Zwätzen und Lobeda, füllten dieses Leben aus. Wer sich ein wenig Mühe gibt, der findet auch im heutigen Jena noch genug, das diese alte Zeit heraufbeschwört, da Minchen Herzlieb mit dem Körbchen am Arm zum Krämer sprang oder des Sonntags sittsam zur Stadtkirche schritt — denn wie die Ottilie ihres großen Freundes hatte sie, das Pfarrerkind, immer eine Neigung zum Kirchlichen, und das Geheimnisvolle des Gottesdienstes mag ihrem träumerischen, kindlich hingebenden Wesen ein notwendiger Ausgleich zum Alltag gewesen sein.

Der junge Student, der zuerst das Weib in ihr gesehen und wohl auch geweckt, verließ nach einigen Jahren Jena. Warum? weiß man nicht … wie überhaupt diese ganze Episode in Dunkel gehüllt ist und nur ein schwaches Licht erhält aus Briefen Minchens[111] an die Freundin in Lüneburg. Da klagt sie, daß er ein Bild von ihr eigenmächtig mit auf die Reise genommen habe, fühlt sich dadurch verletzt, in ihrem Ruf gefährdet und doch geschmeichelt. Neugierig fragt sie die Freundin, ob sie nicht wisse, was aus ihm geworden. Melancholie umflort die Zeilen.

Ja, hat sie diesen Herrn von Manteuffel wirklich geliebt? Wahrscheinlich, wie ein junges Mädchen, dem zum ersten Male ein Mann verehrend naht, eben liebt. Und wenn er auch später so etwas wie eine Idealgestalt für sie wurde, ihr Herz sein Bild nicht vergessen konnte — daß es sich um eine wirklich tiefe Neigung gehandelt hat, scheint wenig glaublich. Eine Jugendliebe war's, wie andere sie auch gehabt, kaum mehr. Wie überhaupt Minchen ihrer ganzen Veranlagung nach einer schenkenden, beglückenden Liebe kaum fähig gewesen sein dürfte, weder in jungen noch in späteren Jahren. Wesen wie sie entzünden wohl Neigungen und träumen sich wohl auch selbst in Glut; aber alles in allem ist ihr Reich nicht von dieser Welt, sie vermögen die Neigung nicht zu erwidern, die entfachte Glut nicht zu löschen. Sie war eigentlich die geborene Himmelsbraut. Dafür spricht auch der erschütternde Verlauf, den das weitere Leben dieser anima candida genommen, dafür die tragische Erfüllung ihres Schicksals, dagegen keineswegs das Goethe-Erlebnis, das diesem Mädchenleben flüchtigen Inhalt, ihrer Gestalt Unsterblichkeit gegeben hat.

Das Goethe-Erlebnis — wann begann es, wann endete es? Auch hier das merkwürdige Zwielicht, das über so vielen Liebesepisoden des großen Dichters schwebt. Von ihm vielleicht mit Absicht nicht durch Bekenntnisse und Mitteilungen unmittelbarer Natur aufgehellt, um dieser späten und ergreifenden Leidenschaft nichts von ihrem Duft, von ihrem Schmelz zu rauben; und Minchen Herzlieb selbst, die ja, soweit wir sehen, eine etwas passive Rolle dabei spielte und über den wahren[112] Umfang von Goethes Neigung sich vielleicht nie ganz im klaren gewesen sein dürfte, war gar nicht in der Lage, nähere Aufschlüsse zu geben. Wo sie es getan, in brieflichen Äußerungen der Zeit, in späteren Mitteilungen, die man der Schweigsamen entlockt, hat sie sich auf Andeutungen beschränkt oder vielleicht beschränken müssen, weil ihre persönlichen Erinnerungen zu arm waren … mit einer Friederike Brion, einer Lotte Buff, einer Lili, einer Charlotte von Stein, einer Marianne von Willemer und deren Erinnerungen darf man das schöne Mädchen von Züllichau nicht vergleichen. Minchen, eben erblüht und vom ersten Glanz der Jugend umwittert, hat auf Goethe einen weit tieferen Eindruck gemacht als dieser, der »liebe alte Herr«, auf das blutjunge Mädchen. Sie ließ es sich gefallen, angeschwärmt zu werden; aber wieder schwärmen, das konnte sie nicht. Sie neigte nur demütig und dankbar, vielleicht sogar ein wenig verständnislos, das Haupt. Die anderen alle haben Goethe geliebt.

Es mag wohl um die Zeit gewesen sein, da noch der junge livländische Student das Herz Minchens besaß, daß Goethe gewahr wurde, wie aus dem kleinen Mädchen ein Weib, aus der Knospe über Nacht die schwanke, taufrische Rose geworden war. Das war im Herbst 1806, kurz vor den Schreckenstagen der Schlacht bei Jena. Goethe weilte damals vom 26. September bis zum 6. Oktober in Jena; wie sein Tagebuch meldet, war er oft »abends bey Frommanns«, und während er dort mit der Familie und den Freunden des Hauses um den Teetisch saß, vorlesend oder zeichnend und auf das Gespräch der anderen lauschend, mag sein Auge wohl bisweilen entzückt auf der sylphidenhaften Gestalt Minchens geruht haben, die leise hin und her ging und die Mutter mit kleinen Handreichungen in der Bewirtung der Gäste unterstützte … mag sein Dichterherz mit unbewußter Eifersucht den Abglanz erster Liebesfreuden und Liebesleiden in dem jungen Antlitz empfunden haben.

Goethe eilte dann nach Weimar, wie es die unsicheren Verhältnisse geboten. In einer Schilderung dieser Tage erzählt Johanna Frommann, wie sie mit Minchen am Fenster gestanden habe, als Goethes Wagen unten vorbeifuhr. Der Freund hatte sie wohl gesehen. »Er hielt und schickte noch herauf, uns ein Lebewohl sagen zu lassen; uns war, als entflöhe unser Schutzgeist —[113] er blieb uns doch. Wer in seiner Nähe gelebt hat, wird sich des wohltätigen Eindrucks ewig erfreuen können …«

Die verhängnisvolle Zeit, die dann folgte, ging an Jena, ging auch am Frommannschen Hause gnädig vorüber, trotzdem gerade der »Graben« ein Tummelplatz der aufgelösten Soldateska war. Von Goethe traf noch am Sonnabend der Unglückswoche ein Rundschreiben in Jena ein, in dem er die dortigen Freunde, darunter natürlich auch Frommanns, um ein Lebenszeichen ersuchte: »Ich bitte daher Nachverzeichnete, nur ein Wort auf dieses Blatt zu unserer Beruhigung zu schreiben. Was mich betrifft, so sind wir durch viel Angst und Not auf das glücklichste durchkommen.« Ob er nicht um Minchen zumal besorgt gewesen ist, deren Schönheit in diesen Tagen fremder Einquartierung eine besondere Gefahr bildete? Frau Frommann mag so etwas gefühlt haben, und sie antwortete: »Unerlaubt froh sind Minchen und ich gestern abend über die guten Nachrichten von Ihnen gewesen, da es doch noch so viel anderes Unglück gibt! Ach, als Sie fortfuhren, war es, als wiche unser Schutzgeist! Er war nicht gewichen, die Worte, die durch Sie in unser Herz geschrieben waren, haben uns in den Stunden der höchsten Angst gehoben und erhalten. Dank dem Lehrer und dem gütigen Freunde!«

Das war am 19. Oktober 1806. Am gleichen Tage ließ sich Goethe mit Christiane Vulpius, die ihn mit eigener Lebensgefahr vor den Ausschreitungen französischer Marodeure geschützt hatte, in Weimar trauen — ein Schritt, der natürlich auch bald in Jena bekannt wurde und ohne Zweifel bei Minchen nur noch mehr darauf hingewirkt hat, in Goethe allein den »Lehrer und den gütigen Freund« zu sehen, als den ihn auch die Mutter, vielleicht mit Absicht, in ihrem Briefe apostrophiert hatte. Denn noch immer dachte das Mädchen schwermütig des geflohenen Geliebten — ein Brief an Christiane Albers, die Freundin, der nach Wiederkehr geordneter Verhältnisse anschaulich die Unglückstage des Oktobers schildert, fragt zum Schlusse aufs neue: »Ich habe noch etwas auf dem Herzen, nämlich ob Du wieder etwas von dem Bewußten gehört hast? Den Namen mag ich kaum nennen, es ist recht albern von mir, sein Schicksal könnte mir nun ganz gleich sein, denn es wird doch nie ein anderes Verhältnis zwischen uns stattfinden, und doch bin ich so neugierig,[114] was er treibt, aber nun genug von dem Menschen, nie will ich wieder von ihm reden.« Man sieht: Entsagung, Neugier, Klage — die Spiegelung eines Herzens, das keine rechte Ruhe findet. Sie soll in jener Zeit auch den Hausgenossen gegenüber besonders verschlossen, oft traurig und bewegt gewesen sein, oft geweint haben, als ob ein schweres Leid sie bedrückte. Der Bruder, damals ein zehnjähriger Junge, erzählt, wie sie gerne Goethes »Trost in Tränen« vor sich hergesagt, das Lied wohl auch mit halber Stimme gesungen habe:

»Die Sterne, die begehrt man nicht,
Man freut sich ihrer Pracht,
Und mit Entzücken blickt man auf
In jeder heitern Nacht.

Und mit Entzücken blick' ich auf,
So manchen lieben Tag;
Verweinen laßt die Nächte mich,
So lang ich weinen mag …«

Sie war innerlich, bei aller Harmonie, die sie nach außenhin zur Schau trug, eine zerrissene Natur, schon damals. Jugendschwermut, nur hier besonders stark! Sie hat wohl frühe schon das tragische Geschick geahnt, das ihrer wartete: den geistigen Tod. Solche Menschen fühlen sich irgendwie gezeichnet … vielleicht hilft Rilke hier verstehen, der im »Stundenbuche« klagt:

»Da leben Menschen, weißerblühte, blasse,
und sterben staunend an der schweren Welt,
und keiner sieht die klaffende Grimasse,
zu der das Lächeln einer zarten Rasse
in namenlosen Nächten sich entstellt.«

So traf sie Goethe wieder, als er zuerst im Mai 1807, dann im Herbst aufs neue auf längere Zeit nach Jena übersiedelte, fand sie verklärt durch ein Leid, das jeder achtete, ohne es zu kennen. Es hatte ihren mädchenhaften Liebreiz nur erhöht, und der Dichter, nach langem Ruhen seiner Leidenschaften doppelt empfänglich, gab sich diesem Reiz nur allzu gerne hin: er fühlte, dem Herbst des Lebens nahe, so etwas wie das Werden eines neuen Liebesfrühlings. Die Worte »Abends bey Frommanns« werden im Tagebuch zur ständigen Floskel. Anfangs mag er wohl noch allein den geselligen Verkehr gesucht haben, der in dem gastfreundlichen Hause von alters herrschte, auch die[115] gemütliche Teestunde mag ihn gelockt haben, zumal in dieser Jahreszeit, wo Sturm und Regen das alte Schloß umtobten und das Gefühl der Einsamkeit, des Alleinseins in dem riesigen Bau noch mehr verstärkten; da war es drüben bei Frommanns viel traulicher und netter, da wurde gesungen und gescherzt, gezeichnet und vorgelesen, es wurden Experimente gemacht mit der neuen Laterna magica, und vor allem war da Minchen Herzlieb.

Und so verging bald kaum ein Tag, wo er nicht um die Dämmerstunde Hut und Mantel nahm und über den dunklen »Graben« dorthin tappte — schweigend lag das Haus hinter seiner Mauer, die Fensterläden sorglich vor die Fenster geschlagen, kaum daß ein Lichtschein durch die Ritzen drang. Und dann stand er vor der niedrigen Hoftür und klopfte, und Minchen kam die Treppe herunter, dem verehrten Gast, dem väterlichen Freund zu öffnen. Schelmisch lächelnd stand sie ihm im Flur gegenüber — das Töchterchen, so dachte er im Anfang, das er sich immer schon gewünscht, dann Schwester, als er sich dieser holden Jugend gegenüber immer jünger werden fühlte, und eines Abends, heiß durchzuckte es den längst schon Graugewordenen, war es die Geliebte, die er in die Arme schloß. Und die es sich in Demut gefallen ließ.

Ja, hat Goethe Minchen Herzlieb wirklich in Armen gehalten? Sie sich vertrauend hineingeschmiegt? Ohne Zweifel. Warum auch nicht? Selbst wenn sie nur »väterliche Gunstbezeugungen« darin gesehen, ihr Herz den Schlag des seinen nicht ganz so heiß erwidert haben sollte, wie er vielleicht geglaubt. Denn seine Neigung war nun ja längst schon zu »Raserei der Liebe« geworden, längst hatte der stumm gewordene Mund des Dichters durch sie wieder den beschwingten Wunderlaut der Jugendzeit gefunden, sein Geist Aufschwung erfahren zu neuen dichterischen Plänen, neuen Entwürfen. Es war am 29. November gewesen, dem ersten Advent des Jahres 1807, daß Goethe, der Mann, in Minchen Herzlieb bei einer Mittagsgesellschaft, »mächtig überrascht«, das Weib erkannt hatte, ihm zur Gewißheit geworden war, daß er das Mädchen liebte … das Tagebuch zwar meldet nur kurz: »Mittags bey Frommanns mit Knebel, Seebeck, Oken, Wesselhöft. Kam Legationsrath Bertuch. Abends Schattenspiel. Sodann nach Hause. Knebel begleitete mich.« Nicht mehr — wie sparsam war doch dieser Goethe, wo es um seine[116] Seele ging! Kein Name, keine voreilige Konfession! Aber wir wissen: an diesem Abend des 29. November begann er die »Pandora« zu diktieren, und daß er ihn in einem kurz darauf entstandenen Sonett als »Epoche« feiert, beweist, was er für ihn selbst gewesen ist.

Mit Flammenschrift war innigst eingeschrieben
Petrarcas Brust vor allen andern Tagen
Karfreitag. Ebenso, ich darf's wohl sagen,
Ist mir Advent von Achtzehnhundertsieben.

Ich fing nicht an, ich fuhr nur fort, zu lieben
Sie, die ich früh im Herzen schon getragen,
Dann wieder weislich aus dem Sinn geschlagen,
Der ich nun wieder bin ans Herz getrieben.

Petrarcas Liebe, die unendlich hohe,
War leider unbelohnt und gar zu traurig,
Ein Herzensweh, ein ewiger Karfreitag;

Doch stets erscheine, fort und fort, die frohe,
Süß, unter Palmenjubel, wonneschaurig,
Der Herrin Ankunft mir, ein ew'ger Maitag.

Siebzehn Sonette sind es, die sich um den Namen Minchen Herzlieb ranken. Sie sind in wenigen Wochen entstanden, die meisten in Jena als unmittelbarer Niederschlag der großen seelischen Erregung, ein paar dann noch in Weimar aus der Erinnerung heraus. Siebzehn Sonette in einer Frist von Wochen, und das bei Goethe, dem die Liebessonette der Romantiker noch vor kurzem so widerstrebten, der ihre tränenreichen Dichter als »Lacrimasse« verspottet hatte!

Wie ging das zu?

Am 2. Dezember war Zacharias Werner, der Dichter des »Luther« und der »Söhne des Tales« zu Goethe gekommen, um ihm, den er in Weimar verpaßt, seine Aufwartung zu machen. Tags darauf führte Goethe den damals Vielbesprochenen bei Frommanns ein. »Gegen 5 Uhr Werner und Knebel,« sagt das Tagebuch, »mit beyden zu Frommanns, wo Werner verschiedene kleine Gedichte, Sonette usw. vorlas.« Das war der Anfang der berühmten »Sonettenwut«. Denn es blieb nicht dabei, daß der bisherige Verächter des Sonetts, wie Knebel seiner Schwester schrieb, an denen Werners allein großes Gefallen hatte, sondern je mehr er sich mit diesem über die Kunstform[117] des Sonetts unterhielt, um so mehr wuchs auch die Lust, sie selbst ernsthaft zu erproben, und bereits am 6. Dezember liegt das erste Goethesche Sonett »Das Mädchen spricht« fertig vor und wird bei Knebel vorgelesen — ein Liebessonett, natürlich, das aber die Beziehung auf Minchen Herzlieb noch nicht deutlich werden läßt und diese erst durch Einfügung in den späteren Zyklus erhält.

Damit war der Bann gebrochen. An dem »Sängerkrieg«, der nun bei Frommanns ausgefochten wurde und Minchen verherrlichte, beteiligte sich neben Werner, Riemer und Gries auch Goethe. Aber während die drei andern diesen Wettkampf mehr oder weniger als Spielerei betrachteten, gab Goethe Herzblut. Am 13. Dezember gestand er Minchen in dem Sonett »Wachstum« seine Liebe. Das Blatt, das er ihr schenkte, wurde einem langen Leben Reliquie. Noch in später Stunde schrieb das Mädchen, stolz und selig-verschämt, das Datum darauf und die Worte »nachts 12 Uhr« — in enger Stube, die Kerze flackerte, sie saß, halb ausgekleidet schon, auf ihrem Bett, und die Augen, die immer wieder die süßen Verse tranken, wurden heiß. Bis sie dann müde auf das Lager sank, das Blatt Papier am Herzen, und Traum sie forttrug. Die Frau Rat Walch hat fünfzig Jahre später noch dem Goethe-Forscher Loeper erklärt, daß sie in diesem Sonett ihr Verhältnis zu dem Dichter so dargestellt finde, wie es gewesen sei!

Aber auch das Tagebuch Goethes legt nunmehr, wortkarg allerdings wie immer, Zeugnis dafür ab, wie sehr ihn diese Sonettendichterei innerlich bewegt hat. Da heißt es am 10. Dezember: »Sonette. Lang im Bett gelegen« (was typisch für Goethe ist, der mit Vorliebe morgens im Bette dichtete), am 11.: »Das Sonett voran«, am 18.: »Einiges Sonettische«, am 16.: »Um 5 Uhr zu Knebel. Sonette vorgelesen. Um 8 Uhr zu Frommanns … Werner hatte vorgelesen. Nachher allein Werners Charaden-Sonett auf Minchen Herzlieb.« Dies Charaden-Sonett trieb Goethe dann zu seiner ungleich schöneren, lyrisch zarten Charade auf das Wort Herzlieb, die später Bettina von Arnim so viel Kopfzerbrechen bereitete, weil sie sie gern, wie die Sonette überhaupt, auf sich beziehen wollte und doch nie klug daraus wurde … Die Tagebuchstelle aber, die von dem Anlaß dazu berichtet, ist besonders merkwürdig:[118] sie ist die einzige, wo der geliebte Name genannt wird. Er klingt noch einmal hier und da in Briefen auf. Das ist aber auch alles. Wo Goethe sich später dieser Zeit erinnert oder erinnern muß, begnügt er sich mit Andeutungen, die zugleich Schleier sind.

Siebzehn Sonette sind es im ganzen, die Goethe für Minchen Herzlieb gedichtet hat (nicht für Bettina, wie diese stolz sich brüstete); sie runden sich zu einem Kranz, der unverwelklich das süße Haupt dieser Mädchenblüte ziert … die magisch verklärte Geschichte einer Liebe, eine Sinfonia domestica, wie wir keine andere besitzen. Kuno Fischer, der Heidelberger Forscher, hat sie liebevoll und feinfühlig nach ihrem Inhalt geordnet, und wenn die zeitliche Reihenfolge auch dagegen sprechen mag, konzipiert, gedacht, geformt hat Goethe sie sicherlich so. Denn so erst wird die betörend süße Liebesnovelle daraus, die dem Alternden noch einmal (wie er glauben mußte, wenn er auch irrte: zum letzten Male) Rausch und Sehnsucht der Sinne schenkte. Da folgt dem »Mächtigen Überraschen« schnell ein »Freundliches Begegnen«, mit »Kurz und gut« beginnt das Liebesspiel, und »Das Mädchen spricht«, »Wachstum«, »Reisezehrung«, »Abschied«, »Die Liebende schreibt«, »Die Liebende abermals«, »Sie kann nicht enden«, »Nemesis«, »Christgeschenk«, »Warnung«, »Die Zweifelnden«, »Mädchen«, »Epoche« und »Charade« bringen dann in erregendem Auf und Ab des Gefühls die einzelnen Stationen dieser Leidenschaft bis zum Adagio des Ausklangs … am ergreifendsten vielleicht da, wo sich am unmittelbarsten Erlebtes widerspiegelt:

Wenn ich nun gleich das weiße Blatt dir schickte
Anstatt daß ich's mit Lettern erst beschreibe,
Ausfülltest du's vielleicht zum Zeitvertreibe
Und sendetest's an mich, die Hochbeglückte.
Wenn ich den blauen Umschlag dann erblickte,
Neugierig schnell, wie es geziemt dem Weibe,
Riss' ich ihn auf, daß nichts verborgen bleibe;
Da läs' ich, was mich mündlich sonst entzückte:
Lieb Kind! Mein artig Herz! Mein einzig Wesen!
Wie du so freundlich meine Sehnsucht stilltest
Mit süßem Wort und mich so ganz verwöhntest.
Sogar dein Lispeln glaubt' ich auch zu lesen,
Womit du liebend meine Seele fülltest
Und mich auf ewig vor mir selbst verschöntest.

[119]

Die »Epoche« ist das letzte in Jena entstandene Sonett. Es war Goethes Abschiedsgedicht. Denn am 18. Dezember kehrte er nach Weimar zurück, riß sich los — ob mit, ob ohne Einverständnis Minchens, ob nach schmerzlicher Trennung oder in wortloser Entsagung, wie er es gemeinhin zu tun pflegte, das bleibt dunkel. Nie ist darüber auch nur das geringste kund geworden. Der »Advent von Achtzehnhundertsieben« fand kein lichterhelles Fest als Krönung.

Und Minchen?

Am 10. Februar 1808 endlich erzählt sie der Freundin Christiane etwas von diesen Erlebnissen des Winters, und das auch erst, nachdem sie seitenlang von anderem geredet. »Diesen Winter haben wir,« so schreibt sie, »im ganzen recht froh zugebracht, ohne grade viele Menschen zu sehen. Goethe war aus Weimar herübergekommen, um hier recht ungestört seine schönen Gedanken für die Menschheit bearbeiten zu können …« Und so weiter. Es sei ihr unbeschreiblich wohl und doch auch weh in seiner Gegenwart geworden, und wenn sie manchmal abends in ihrer Stube seiner goldenen Worte gedacht habe, sei sie in Tränen ganz zerflossen. Dann erst ein paar nette Zeilen über Zacharias Werner, und, um mit ihr selbst zu reden: »damit Punktum«. Nichts von den vielen Sonetten, die ihr zu Ehren gedichtet worden waren, nichts von Goethes Liebe, nichts (oder doch nur sehr wenig) von seinen häufigen Abendbesuchen, die doch, wie ihr zumindest Instinkt hätte sagen müssen, schließlich einzig und allein ihr gegolten hatten! Und nichts von irgend einer Heimlichkeit, wie sie zwischen Liebenden doch einmal vorkommt — nichts! Verschloß ihr Scham den Mund? Gelöbnis? Einfalt? Rätsel über Rätsel, daß sie nach einem solchen Erlebnis selbst für die vertrauteste Freundin keine anderen Worte findet als die alltäglichsten, die man sich denken kann. Daß sie der jäh auflodernden Leidenschaft Goethes gegenüber etwas benommen geblieben war, ist möglich. Das paßt zu ihrem Charakterbild. Daß sie sie überhaupt ignoriert haben sollte, ist unmöglich und würde dem widersprechen, was die Gealterte später Herrn von Loeper gestanden hat. Sie könnte dann weder auf Goethe den tiefen Eindruck gemacht haben, dem die Sonette, die »Pandora« und die »Wahlverwandtschaften« Spiegelung sind, noch ist Goethe der Mann gewesen, eine unerwiderte Neigung zu[120] »Raserei der Liebe« werden zu lassen. Vermutlich hat Goethe die Geliebte, als der Tag der notwendigen Trennung nahte, durch ein Gelöbnis zum Schweigen verpflichtet, vielleicht sogar um Vergessen gebeten. Nur so sind die leeren Worte zu der Freundin zu erklären, nur so ihr ganzes anscheinend teilnahmloses Verhalten, nur so die jähe Flucht aus Jena.

Denn es war eine Flucht, daß sie Jena so schnell verließ und in die Heimat zur Schwester eilte, die heiratete. Sie hoffte vielleicht, dort im Trubel der Hochzeit Vergessen zu finden. Goethe mußte von dieser auffälligen Reise gehört, Minchens Verschwinden ihn mit Sorge erfüllt haben. Denn im Juni schrieb er aus Karlsbad an Frau Frommann: »Hätten Sie, teure Freundin, in jener Stunde, als Sie uns Ihren lieben Brief zudachten und schrieben, empfinden können, wie nachrichtenbedürftig wir damals waren, so hätte Sie unser lebhaftester Dank für diese Wohltat schon im voraus belohnt. Besonders dankbar sind wir für die Versicherung, daß es unserem Minchen wohlgehe. Zwar konnte man voraussehen, daß ein so liebes Kind, das der Natur und Ihnen so viel verdankt, überall zum besten aufgenommen und lebhafte Freundschaft erwecken würde, doch ist es eine eigene Empfindung, wenn die Abwesenheit geliebter Personen uns verdrießlich fällt, so können wir uns sie und ihre Umgebungen, niemals ganz heiter vorstellen. Desto erfreulicher ist die ausdrückliche Versicherung Ihres Wohlbehagens. Mögen Sie meine besten Wünsche und Grüße zu ihr gelangen lassen.«

Minchen verlobte sich dann in Züllichau mit jenem Professor Pfund, den Zelter so warm Goethe empfohlen hatte … voreilig und unüberlegt, was auch wieder die Vermutung nahelegt, daß sie um jeden Preis vergessen wollte. Denn als der Verlobte sie Weihnachten 1812 aus Jena, wohin sie inzwischen zurückgekehrt war, zur Hochzeit abholen wollte, weigerte sie sich und löste die Verlobung kurzerhand auf, zum Entsetzen der Pflegeeltern, die dieser jähen Sinneswandlung verständnislos gegenüberstanden. Auch Goethe, für den die Adventtage von 1807 nun schon längst bloße Episode geworden waren, nachdem er in den »Wahlverwandtschaften« Ottilie, dem geliebten Kinde, die Züge Minchens gegeben hatte, war erschrocken, als er davon hörte; die Malerin Luise Seidler hielt ihn ja immer auf dem Laufenden über das, was sich in Jena ereignete. Noch am[121] 25. September 1811 hatte er dieser geschrieben: »Sie sollen mir erzählen von sich, von den Freunden und von dem guten Minchen, von der ich so lange nichts gehört, und deren bevorstehende Wiedererscheinung mich angenehm überrascht.« Nun erfuhr er die plötzliche Entlobung. »Grüßen Sie Minchen,« schrieb er darauf an die Malerin, »ich habe immer geglaubt, dieses Geistchen gehöre einem treueren Element an. Doch soll man sich überhaupt hüten, mit der ganzen Sippschaft zu scherzen.« Hatte er sich tatsächlich innerlich schon so gelöst von ihr, sich das ganze Jenaer Erlebnis so sehr von der Seele gedichtet, daß er in dieser Weise scherzen konnte?

Von nun an ging der Weg des armen Minchens bergab, die Dämmerung, die der endlichen geistigen Umnachtung voraufging, begann ihr Haupt zu umschatten. Der völlig unmotivierte Bruch mit dem Professor Pfund, der sie auf Händen getragen hätte, war das erste Symptom; die Ehe, die sie dann neun Jahre später mit dem Jenaer Professor Walch, einem Juristen, einging und die ganz glücklos blieb, weil ihre zarte Seele nur widerwillig die eheliche Vereinigung ertrug, das zweite. Versuche eines Zusammenlebens scheiterten kläglich, machten sie gemütskrank, und lebten die »Gatten« getrennt, so machte sie sich wieder die schwersten Vorwürfe, bemitleidete den unglücklichen Mann, dessen Verhängnis sie war.

1853 starb Walch. Sie war erlöst. Aber nur erlöst, um für immer in Melancholie zu versinken. Denn die unheilvollen Dämonen, die schon das junge Mädchen so oft in unseligen Zwiespalt der Empfindungen gestürzt, sie wahrscheinlich nie zum vollen Genuß des Lebens hatten kommen lassen, nahmen nun ganz Besitz von ihr. Noch ein paar Jahre lebte die verwitwete Frau Rat Walch still und in sich gekehrt in den alten Stuben des Frommannschen Hauses dahin, von Verwandtenliebe treu gehütet, zuweilen ein wenig wunderlich und immer ein bißchen traurig und schwermütig, ohne daß sie zu sagen wußte: warum — wie als junges Ding, wo ihr Lieblingslied Goethes »Trost in Tränen« war. Gerne ging sie spazieren, am »Paradies« unten an der Saale und durch den Prinzessinnen-Garten hindurch zu den Friedhöfen oben am Philosophenweg. Sie nahm auch an Gesellschaftsabenden des Bruders teil, und Kuno Fischer hat die alte, jugendlich schlanke Dame auf einem solchen — es wurde Goethes »Tasso«[122] vorgelesen! — noch unterhaltsam und lebendig gefunden. Dann aber verwirrte sich ihr Geist und fand sich nicht mehr zurecht in diesem Leben, und man mußte sie einer Anstalt für Nervenkranke in Görlitz anvertrauen. Dort ist Minchen Herzlieb am 10. Juli 1865, sechsundsiebzig Jahre alt, gestorben … einsam, fremd und abseits allem Leben. Sie hat niemand mehr gekannt, der endlichen Auflösung des erdenmüden Körpers war die des Geistes grauenhaft voraufgeschritten.

Derweilen war sie als Ottilie längst in die Unsterblichkeit eingegangen. 1809 schon waren ja die »Wahlverwandtschaften« erschienen, und es will fast scheinen, als ob der Dichter dem lebendigen Menschenkind die Seele gestohlen hätte, um dem erlauchten Geschöpf seiner Phantasie das ewige Leben zu verleihen. Denn ungefähr von dieser Zeit an war der Weg der wirklichen Ottilie nur noch ein seelenloses Gleiten und Taumeln gewesen …

Zu Eckermann hat Goethe, der Greis, noch kurz vor seinem Tode gesagt, daß in den »Wahlverwandtschaften« kein Strich enthalten sei, der nicht erlebt, aber auch kein Strich so, wie er erlebt worden. Das gilt vor allen Dingen wohl von dem Erlebnis jenes »Advent von Achtzehnhundertsieben«. Gewiß, von der Seele geschrieben hat sich Goethe diese rätselhafte Liebesleidenschaft wohl, vergessen hat er sie nie. Immer wieder tauchte sie zu verschiedenen Perioden seines Lebens vor ihm auf, mahnend, anklagend, Rechenschaft heischend. So im Herbst 1815, als Goethe sich, unendlich leidend und trotz der heroischen Geste fast seelischem Tode nahe, von Marianne von Willemer losgerissen hatte. Da fuhren er und Sulpiz Boisserée zusammen[123] von Karlsruhe nach Heidelberg. Alte Erinnerungen wachten in dem Dichter auf, und er erzählte. Auch auf die »Wahlverwandtschaften« kam er. »Die Sterne waren aufgegangen, er sprach von seinem Verhältnis zur Ottilie, wie er sie lieb gehabt und wie sie ihn unglücklich gemacht. Er wurde zuletzt fast rätselhaft ahndungsvoll in seinen Reden.«

So Boisserée in seinem Tagebuch. Auf ähnliche Äußerungen stößt man in den Annalen, als Goethe dort, von Erinnerung geleitet, die Jahre 1807 bis 1809 schildert, in die u. a. die poetische Entwicklung der »Wahlverwandtschaften« fällt. »›Pandora‹ sowohl als die ›Wahlverwandtschaften‹«, heißt es da 1807, »drücken das schmerzliche Gefühl der Entbehrung aus und konnten also nebeneinander gar wohl gedeihen.« Und unter dem Jahre 1809: »Um von poetischen Arbeiten nunmehr zu sprechen, so hatte ich von Ende Mai an die ›Wahlverwandtschaften‹, deren erste Konzeption mich schon längst beschäftigte, nicht wieder aus dem Sinn gelassen. Niemand verkennt an diesem Roman eine tief leidenschaftliche Wunde, die im Heilen sich zu schließen scheut, ein Herz, das zu genesen fürchtet.«

Ein seltsames Hin und Her von Stimmungen und Reflexionen. Und sind im Grunde doch nichts weiter als der alte Schmerz, der ihn einst, 1807, im später »Abschied« genannten Sonett die »jähe Trennung« von der Geliebten so wild anklagen ließ. Fritz Frommann meint in seinen Aufzeichnungen über Minchen Herzlieb: »Mögen auch Goethes Empfindungen für sie stärker gewesen sein als er sich merken ließ, so ist doch soviel gewiß, daß auch er nie an ihren Besitz gedacht hat, und daß diese Episode in seinem Leben mit der dichterischen Darstellung der Ottilie in den ›Wahlverwandtschaften‹ ihren völligen Abschluß gefunden, daß er sich damit von aller leidenschaftlichen Erregung befreit hat und ihm auch davon nur geblieben ist, ›das süße Erinnern, das Leben im tiefsten Innern‹.«

Das ist der Irrtum des Bürgers, der Rausch und Qual der Erinnerungen nicht kennt. Hervorgerufen vielleicht dadurch, daß Goethe und Minchen sich im Laufe der Jahre im Frommannschen Haus begegneten, ohne daß die Vergangenheit irgendwie neue Leiden schaffte. Die Fama will ja sogar wissen, daß Goethe stets »mit ungetrübten Eindrücken« von dort geschieden ist … Immerhin, wie sehr diese Begegnungen Maskerade[124] waren, wie sehr Goethe bemüht war, Totes nicht wieder aufleben und Alltagsgeschwätz werden zu lassen, das zeigt die Behandlung der Jenaer Sonette in den Werken von 1815: »Epoche« und »Charade«, die verraten könnten, wer in ihnen gemeint, nimmt er nicht auf! Und über die andern breitet er durch die Anordnung Schleier. 1817 schickt er der einst Geliebten ein Exemplar der zehn caschierten Gedichte, zum Geburtstage. Die Widmung lautet:

An Fräulein Wilhelmine Herzlieb.

Wenn Kranz auf Kranz den Tag umwindet,
Sey dieses auch Ihr zugewandt;
Und wenn Sie hier Bekannte findet,
So hat Sie sich vielleicht erkannt.

Jena am 22. May 1817.

Goethe.

Das klingt kühl. Aber das »vielleicht« der letzten Zeile verrät doch die Aschenwärme alter Gluten, läßt Frage klingen, die auf Antwort hofft. Natürlich hat Minchen sich erkannt, sie, die in ihrer Schatulle die Urschrift des »Wachstum«-Sonetts als kostbarsten Besitz verwahrt und die einem Advent ohne Heiland, vielleicht, ihre Seele geopfert hat … natürlich, nur das Wissen darum fehlt. Kein Brief, kein Gespräch, keine Äußerung ist erhalten, keiner ist, der davon erzählt. Es ist furchtbar, wie dies frühe Liebesspiel in stummer Verschwiegenheit endet. Bald war es so, als hätten die zwei Menschen nie voneinander gewußt. Selbst als in den Goethe-Werken der Ausgabe letzter Hand endlich, volle zwanzig Jahre nach Entstehen, »Epoche« und »Charade« erscheinen, letzte Schleier fallen, findet das in Jena kein Echo. Auch er behält die Maske vor. »Eine seltsame Empfindung« nennt er's, als er Minchen um diese Zeit einmal flüchtig sieht, und spricht von ihrem »artigen und niedlichen Betragen«.

So kann Goethe schließlich sterben, ohne daß aus dem Frommannschen Hause, wo Minchen auch als Frau Professor Walch fast immer lebte, verzweifelter Schrei aus Frauenmund, nicht einmal leise Klage dringt. Und fragte die Greisin mit den dunklen, schwermutsvollen Augen später einmal jemand nach ihren Erinnerungen, so wurde sie scheu und wortkarg, als ob sie Totes gerne tot ließe …

Rätsel verschatten die Historie, und in himmlischer Klarheit leuchtet allein das Werk des Dichters. Es hat das bißchen Menschenleben in sich aufgesogen.

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