Donnerstag nach Belvedere …

»Und durch die Gärten blendet der Palast
(wie blasser Himmel mit verwischtem Lichte),
in seiner Säle welke Bilderlast
versunken wie in innere Gesichte,
fremd jedem Feste, willig zum Verzichte
und schweigsam und geduldig wie ein Gast.«

Rainer Maria Rilke

Mai Achtzehnhundertunddreizehn. Weimar hat sich von dem Schrecken erholt, den am 18. April ein Gefecht zwischen dem Blücherschen Korps und der Avantgarde des Marschalls Ney in seine stillen Straßen getragen hatte. Goethe ist in Teplitz. Die kriegerischen Wirren haben ihn nicht von der gewohnten Badereise abhalten können. Am 17. April, einem Tag nur vor dem Kampf am Kegeltor, hat er Weimar verlassen. In Tharandt erst hört er davon — wie er später aus Teplitz an Christiane schreibt: auf eine Weise, die ihn mehr verdroß als erschreckte. Seine eigene, so wunderbare und unvorsetzliche Entfernung hätte ihm die Hoffnung gegeben, daß das Übel auch von Weimar entfernt geblieben sein würde …

Nun ist Christiane schon weit über einen Monat allein zu Haus. Und langweilt sich. Sie ist mittlerweile eine rundliche, behäbige Frau geworden und sitzt jetzt mindestens ebenso gerne in dem schönen bequemen Rohrstuhl, den ihr der »liebe Herr Geheimderath« geschenkt hat und der unten in der Küche neben dem Herde steht, wie sie früher getanzt hat … womit nicht gesagt sein soll, daß sie etwa nicht auch jetzt noch für ihr Leben gerne tanzte. In den weichen Grübchen um Kinn und Mund wohnt noch immer der Schalk, und die guten braunen Augen schauen noch genau so lustig und lebensfroh in die Welt wie damals, als sie noch die junge Demoiselle Vulpius war.

Ja, sie langweilt sich. August, nun schon längst wohlbestallter Kammerassessor, ist wieder einmal seine eigenen Wege gegangen, und mit der verliebten Uli, der Gesellschafterin, die ihren Riemer[81] im Kopf hat, ist auch nichts Rechtes anzufangen. So wandert sie durch die Zimmer des großen Hauses. Ihr ist heute nicht so recht. Daß aus Teplitz kein Brief gekommen, macht ihr Sorge. Und die stillen, feierlichen Räume mit den tausend Erinnerungen an Dingen, von denen sie nichts weiß und versteht, bedrücken sie … der kolossale Kopf der Juno, die Nike, die ewig gleich und ruhelos auf ihrer Kugel über den ovalen Tisch fliegt, die Silhouetten, die Kupfer an den Wänden.

Mit einem halben Seufzer tritt sie ans Fenster und blickt auf den Platz hinab, den Maisonne mit Licht geradezu überschüttet. Ein leerer Nachmittag. Was tun? Haus und Garten sind in Ordnung, alles blitzt, alles funkelt, nirgends liegt ein Stäubchen. Draußen aber lacht der junge Sommer durch die Gassen und lädt ins Freie. Sie denkt an Berka, denkt ans Rödchen, an Belvedere. Belvedere … das wäre etwas! Da könnte man hübsch im Gasthof Kaffee trinken, nachher ein bißchen in den Park gucken oder die Schwäne füttern, da würden die dummen Gedanken schon vergehen. Und kurz entschlossen schickt sie zu Frau Dr. Vulpius herum, die nebenan wohnt, und zu Lortzings und der Demoiselle Engels, der Sängerin: ob die Damen nicht mit nach Belvedere fahren wollten? Der Wagen stände bereit, und Kuchen nähme sie mit.

Schon ein paar Minuten später schellt es unten … am Torweg, wo es zur Küche geht. Denn das Mittelportal, das zu der großen Treppe führt, ist nur für die illustren Gäste da, das weiß ganz Weimar. Es ist die Schwägerin. Ihr folgt die kleine Engels auf dem Fuße. Beide in ihrem besten Staat, die frisch[82] gestärkten Kleider rauschen, die Engels, ein lebendiger Blumenstrauß, hat überm Arm an himmelblauem Band den großen Schutenhut hängen. Lortzings, meldet der Diener, sind schon zu Fuß nach Belvedere.

Und es dauert nicht lange, da biegt die offene Chaise mit den vier Damen aus dem dunklen Torweg, und in lustigem Trab — aus den Fenstern am Frauenplan strecken die Nachbarn neugierig die Köpfe — geht es durch die Frauentorstraße, am Jägerhaus vorbei, wo Christiane als Goethes »Klärchen« so schöne Stunden verlebt und wo sie August unter dem Herzen getragen, in die Belvedere-Allee. Das Römische Haus ist ganz in Flieder und Jasmin gebettet. Auch die Kastanien blühen. Das sind nun auch schon alles große schattige Bäume geworden. In ihrer Kindheit, entsinnt Christiane sich, führte ein elender staubiger Fahrweg nach Belvedere; wo das Römische Haus steht, war kahles Feld; und der Park? mein Gott, das war alles Sumpf und Wiese und graues Weidengestrüpp. Die samtenen Rasenflächen, die jetzt da in der Sonne leuchten, die schönen Bosketts, die schattigen Wege, das hat alles erst der Hätschelhans geschaffen. Auch die Kastanien der Allee hat er erst angepflanzt. Nun fährt man wie durch einen großen Garten nach dem Belvedere, und erinnerungsversunken streicht die kleine Frau die weißen Blüten, die von den Bäumen in den Wagen regnen, auf ihrem Schoß zusammen und streut mit spielerischer Hand sie in den Wind, der sanft und warm die Fahrenden umfächelt … Grüße, die nach Teplitz wandern.

Aber das ist nur ein kurzer Augenblick. Schnell ist sie wieder mit den Freundinnen in lustigem Gespräch, ihr helles Lachen übertönt das Rollen des Wagens, das Getrappel des Pferdchens. Und als am Ende der Allee hügelauf zwischen den Parkbäumen das Schloß auftaucht mit glitzernder Fontäne, da winkt sie unbekümmert mit dem Taschentuch Willkommensgrüße zu den herzoglichen Fenstern hinüber … ganz Kind, ganz Lebenslust, ganz Sommerfreude.

Im Gasthofsgarten oben, unter den Linden, suchen Lortzings, mit Hallo begrüßt, schon nach einem schattigen Platz. Schnell ist der Tisch gedeckt. Der Wirt, in weißer Schürze, bedient höchstselbst die lustige Gesellschaft. Das läßt er sich nicht nehmen, wenn die Exzellenz Goethe da ist. Die Kaffeetassen klappern,[83] um den Kuchen summen erste Bienen, auf dem Teiche vor der Schlehdornhecke gleiten langsam die Schwäne auf und ab — behaglich sitzt Christiane im warmen Blätterschatten, die Hände im Schoß. Erzählt, läßt erzählen und denkt bisweilen auch, das Auge traumverloren in der Ferne, wo im Sonnendufte Weimar mit seinen Türmen liegt, an ihren lieben Geheimderath in Teplitz.

Und leise kommt der Abend. Im Parke fangen die Nachtigallen an zu schlagen. Alle Wege umspinnt eine süße Heimlichkeit — wie damals, als die junge Christel, das »kleine Naturwesen«, sich zu dem Geliebten ins Gartenhaus am Stern stahl. Durch die laue Dämmerung geht es heim, und während aus den Wiesen Ober-Weimars weiß die Nebel steigen, singt die kleine Engels mit halber Stimme Goethe-Lieder …

Noch nachts schreibt Christiane nach Teplitz. Schwärmt kindlich von dem schönen Nachmittag in Belvedere, vom Abend, wo sie zu Hause mit Uli und der Schwägerin noch ein bißchen »Rabusche« gespielt. Und für morgen wäre, wenn das Wetter so bliebe, »eine Partie nach Zwätzen arrangirt«, und für Sonntag hätte die Knebel sie nach Jena eingeladen, zum Tanzen. Und sie wäre »wie ein Vogel so vergnügt« und »sein treuer Schatz«. Und wenn wir auch nicht wissen, ob sie wirklich so geschrieben hat, denn ihre Briefe aus dieser Zeit sind verloren gegangen, so hat der Brief doch sicherlich so ähnlich gelautet.

Goethe, nun doch schon ein Sechziger, lächelt behaglich, als er das krause Geschreibsel erhält. »Ich freue mich,« antwortet er, »daß Alles bei euch wieder im alten Gleise geht, die Besorgung der Gärten, das Theater und das liebe Belvedere. Fahret so fort, das Nöthige zu thun und euch zu vergnügen.« Und mag wohl auch bei diesen Worten an die übermütigen Verse gedacht haben, die er vor noch gar nicht langer Zeit für »Die Lustigen aus Weimar« niedergeschrieben hat, an jenes heitere Gedicht:

Donnerstag nach Belvedere,
Freitag geht's nach Jena fort;
Denn das ist, bei meiner Ehre,
Doch ein allerliebster Ort!
Samstag ist's, worauf wir zielen,
Sonntag rutscht man auf das Land;
Zwätzen, Burgau, Schneidemühlen
Sind uns alle wohlbekannt.
[84]

Montag reizet uns die Bühne;
Dienstag schleicht dann auch herbei,
Doch er bringt zu stiller Sühne
Ein Rapuschchen frank und frei.
Mittwoch fehlt es nicht an Rührung;
Denn es gibt ein gutes Stück;
Donnerstag lenkt die Verführung
Uns nach Belveder' zurück.

Und es schlingt ununterbrochen
Immer sich der Freudenkreis
Durch die zweiundfunfzig Wochen,
Wenn man's recht zu führen weiß.
Spiel und Tanz, Gespräch, Theater,
Sie erfrischen unser Blut;
Laßt den Wienern ihren Prater;
Weimar, Jena, da ist's gut.

Und ein anderer Maitag. Ein Jahrhundert und mehr ist vergangen. Ein unseliger Krieg, der bitterste, den je ein Volk zu führen gehabt hat, liegt hinter uns, und vieles hat in Deutschland sich geändert. Auch Weimar hat keinen Fürsten mehr. Der höfische Glanz, der wohlgefällig sich in den zahlreichen Hoflieferantenschildern spiegelte, ist jäh in nichts zerronnen, die kleine Stadt ist jetzt allein auf ihre Erinnerungen angewiesen. Sie sind die alten geblieben: der Frauenplan, die Ackerwand, der Garten am Stern, das Römische Haus. Sie geben auch auf dem Weg nach Belvedere noch immer ergreifend das Geleit, wo von den Kastanien still die Blüten fallen. Ihre Zeit ist um. Ein rosiger Schaum, bedecken sie weithin die ganze Allee. Die ist gemach ein einziger großer Laubengang geworden, und der Enkel, der in ihrem grünen Schatten wandert, kann sich kaum mehr vorstellen, daß das jemals anders gewesen. Des jungen Goethe stolzer Traum ist herrlichste Erfüllung geworden.

Langsam klettert die Straße hügelan. Ober-Weimar, ganz von rotem Flieder umbrandet, bleibt zurück, Felder begleiten. Ab und zu ein Haus. Aber plötzlich steigt hinter steiler Rasenwand, von dunklen Baumbosketts gerahmt, die Schloßfassade auf — Vergangenheit, von Goldglanz überhaucht, blickt müde und verschlafen aus toten Fenstern auf den Fremdling, der ihr[85] sich naht mit bannender Gebärde, und seltsam mengt sich in den Duft des jungen Sommers, der über Busch und Wiesen flügelt, der strenge Hauch von welkem Laub, das irgendwo vermodert. Und wie die breite Allee nun schmaler Weg wird und sich behutsam näher schlängelt — kein Gitter, keine Mauer trennen die Welt des Gestern und des Heute —, merkt man, daß hier das Leben längst gestorben ist. Historie hält Schloß und Park gefangen, die Wirklichkeit wird Traum, wird Märchen.

Verhaltenen Atems wandert man um das Rondell, das vor der langgestreckten Front liegt. Der Brunnen in der Mitte ist versiegt, das Becken ist vertrocknet. Wo früher plätschernd die Fontäne stieg, spielen zwei dunkle Falter, und in den steinernen Schilderhäusern neben dem Altan hockt die Einsamkeit und träumt in die Stille. Es ist so still, daß in der Erde man das Echo seiner eigenen Schritte hört. … gespenstisch still.

Auch die Gebäude, die den weiten Vorplatz malerisch umgeben, schlafen: die sogenannten Kavalierhäuser, zwei kleine und zwei größere. Die gebrochenen Dächer, die bizarren Türmchen stehen vor der dunklen Parkwand wie Kulissen aus »Kabale und Liebe«. Aus dem einen, dem Haus des Kastellans, kräuselt dünner Rauch in die blaue Luft … das bißchen Rauch allein verrät, daß hier noch Menschen wohnen. Sonst alles ein leibhaftiges Rokoko — nur tot, so tot, daß einen fast ein leises Grauen beschleicht.

In einer Laube wartet man des Führers. Durch die Blätter kann man die goldene Schloßfront sehen. Sie glüht wie in geheimnisvollem Leben, um Turm und Kuppeln tanzt das Licht, der Schiefer gleißt wie flüssiges Silber. Da naht Erinnerung und plaudert von verschollenen Zeiten.

Belvedere … schon der Name beschwört ein längst verwehtes Gefühlsklima. Die Welt Watteaus steigt auf. Man denkt an Schäferspiele und galante Feste. Die Fürsten Deutschlands, so lange eingewinkelt in die engen Mauern ihrer finsteren Burgen, bauen kokette Lustschlösser und borgen sich bei Frankreich und Italien die anmutig klingenden Namen dafür. Überall spukt Versailles, fremd glitzern in den stillen deutschen Gärten hinter[86] Taxushecken und vergoldeten Gittern die »Monbijou« und »Monplaisir«, die »Sanssouci« und »Bellevue«.

In Weimar regiert Ernst August, ein üppiger, prachtliebender Herr, der gern in stolzer Kavalkade auf die Jagd reitet, teure Reisen macht und sich im übrigen in der alten Wilhelmsburg mit ihrem Wall und Graben durchaus nicht wohlfühlt. Auch er träumt von Versailles, auch ihn packt das Baufieber, das damals an den deutschen Höfen grassiert und die seltsamsten Blüten treibt. Italienische Architekten erscheinen in Weimar, Pläne werden entworfen, vernichtet, neu entworfen. Der Herzog selbst, ein wenig roh zwar, aber keineswegs ohne eigenen Geschmack und Kunstverständnis, sitzt tagelang ehrlich hingegeben über den Rissen der fremden Künstler, und wenn die Enkel Palladios seine Residenz naserümpfend ein elendes Nest nennen, gibt er ihnen recht und verrennt sich immer mehr in seine kostspieligen, das Land unmäßig belastenden Verschönerungsideen. So entsteht auf bewaldetem Berghang bei Ehringsdorf, eine knappe Stunde Wegs von Weimar, als Jagdschloß gedacht, zuerst Belvedere. Eine alte Chronik erzählt darüber: »Als aber Ihro Hochfürstliche Durchlaucht Herzog Ernst August die ungemeine schöne Lust Gegend ansahen, so traffen Höchstdieselben mit der Ehringsdorffischen Kirche einen Tausch, und gaben derselben an dessen Statt ein Holtz an so genanntem Kettendorfer Berge, und erbauten in diesen Frauen-Holtz ein Lust-Schloß nebst noch andern schönen Gebäuden, versahen solches rings herum mit Mauern, und nannten es wegen der schönen Aussicht Bellevüe oder Belvedere …«

1724 beginnt man mit dem Bau, 1732 ist er vollendet — ein wenig wunderlich in der Anlage, die die Flügel in Einzelgebäude zerlegt, die Front durch die Säulendurchfahrten zerreißt,[87] aber im ganzen doch hübsch und gefällig in der Wirkung. Er spiegelt mit all dem krausen Beiwerk, das den Berg überspinnt, dem Marstall, der Orangerie, der Menagerie, der Fasanerie, den Tempeln, Grotten und versteckten Lauben, getreu die barocke Laune, der es das Dasein dankt, und betont doch gleichzeitig gebührend, trotz aller ländlichen Bescheidenheit, Rang und Würde des fürstlichen Bauherrn. Joh. Heinr. Acker, ein Gymnasialdirektor aus Altenburg, preist schon anno 1730 die »Augustische Bellevüe« in einer langatmigen Ode als ein »Lust-Haus der Philomelen«, und aus dem unbeholfenen Schwulst seiner Verse steigt rührend die »sonderbahre« Schönheit des Schlosses auf:

»Was Welschland recht und zierlich bauet
Wird hier in gleichem Strich, und gleichem Glanz geschauet.
Man siehet ja recht Königliche Zimmer
In vollem Schimmer.

Der Römer August baute schön,
Statt Ziegeln ließ er Marmor sehn,
Allein August, der Held von Sachsen,
Bey dessen Raute Kunst und Wissenschaften wachsen,
Baut aus Metall und Porcellan Paläste
Für Götter Gäste …«

Der eigentliche Baumeister von Belvedere ist unbekannt. Vielleicht ist es der Italiener Struzzi gewesen, der etwas später für Ernst August das reizende Rokoko-Schlößchen in Dornburg gebaut hat. Manche Ähnlichkeit spricht dafür, aber Gewisses ist nicht zu ermitteln. Auch Ettersburg, zur gleichen Zeit in Anlehnung an italienische Renaissance-Villen erbaut, verrät nichts. So schnell, wie sie gekommen, sind sie auch wieder aus Weimar verschwunden, die fremden Künstler, und nur in dem Namen Belvedere und in manchen Einzelheiten des eigenartigen Baus schwingt noch etwas von ihrem grazilen, südlich-lebhaften Wesen.

Schicksal hat das Schloß eng verflochten mit dem Leben vieler Menschen. Ernst August, der's erbaut, wie Goethe nach einem Porträt urteilt: »bey übrigen trefflichen Anlagen Tyrann«, ist 1749 gestorben, einem Kind sein Erbe lassend, und Schloß und Garten verwildern. Häßlich schreien nachts die Pfauen[88] in ihren goldenen Käfigen, kreischen die Affen, die hier das Gnadenbrot erhalten. So findet es Anna Amalia, als der Sohn, achtzehnjährig und seit einem Jahre Herzog, die braunschweigische Prinzessin im März 1756 hier als junge Frau hinaufführt. Und gewinnt es lieb für immer. Neuer Glanz belebt das Verfallene, die stillen Säle und Zimmer füllt frohes Lachen. Als Ernst August Constantin nach zwei Jahren stirbt, wählt die Witwe Belvedere als Sommerresidenz. Der Park wird von den Schnörkeln und den Arabesken Ernst Augusts, überlebten Spielereien, die dem gesunden Geschmack der jungen Fürstin nicht behagen, gesäubert, die »Mauren« fallen, die jeden Blick in die Außenwelt wehrten, und den jungen Prinzen Carl August und Constantin, die hier Kindertage verleben, lächelt unverfälschte Natur.

Fast zwanzig Jahre bleibt es so. Das Leben in Weimar geht still seinen Gang. Carl August wächst heran — in nur zu vielem ganz das wilde, ungestüme Blut des Großvaters. Kaum können Mutter und Erzieher den Dahinbrausenden halten. Einziges Ereignis ist in dieser ganzen Zeit der Schloßbrand vom Mai 1774. Die alte Wilhelmsburg wird Ruine, die Herzogin obdachlos und flüchtet in das Fritschsche Haus an der Stadtmauer, das spätere »Wittumspalais«. So ist in diesem Sommer, dem letzten von Anna Amalias Regentschaft, Belvedere allein Residenz. Im Jahr darauf besteigt Carl August den Thron, und in Belvedere zieht im Sommer 1776 des Herzogs junge Frau ein, die hessische Prinzessin Louise. Anna Amalia siedelt, schweren Herzens, nach Ettersburg über.

Damit beginnt für Belvedere die große Zeit, beginnt auch die große Zeit Weimars. Über ein Jahrhundert ist das Schloß nun Sommeraufenthalt der fürstlichen Familie, und erst dem Urenkel, dem jetzt vertriebenen Großherzog, haben die Räume, in denen alle seine Vorfahren sich behaglich gefühlt haben, nicht mehr genügt. Er hat Belvedere mit dem modern ausgebauten Wilhelmstal bei Eisenach vertauscht.

1775, im November, aber ist auch Goethe nach Weimar gekommen. Sein Stern leuchtet hell auch über Belvedere.

Am 12. September 1776 schreibt Goethe an Charlotte von Stein, die rasch gewonnene Geliebte: »Gestern war ich in Belveder.[89] Louise ist eben ein unendlicher Engel, ich habe meine Augen bewahren müssen, nicht über Tisch nach ihr zu sehn — die Götter werden uns allen beystehn …«

Das ist, sieht man vom Tagebuch ab, seine erste Äußerung über Belvedere — sparsam genug. Kein Wort über Schloß und Park, wo er sonst doch jeden Eindruck, den Natur und Kunst ihm bieten, geradezu verschwenderisch umschreibt. Nur: »Louise ist eben ein unendlicher Engel.«

Hat ihr Bild das der Landschaft verdunkelt, ihr trauriges Geschick, schon damals, ein Jahr nach der Hochzeit, offenbar, alle Anteilnahme seines Herzens in Anspruch genommen? Oder hat er alles, was er schildern könnte, bei Charlotte, die als Frau des Oberstallmeisters zur Hofgesellschaft gehörte und also oft genug in Belvedere war, als bekannt vorausgesetzt? Wir wissen es nicht. Auch später wird er nicht ausführlicher. Wo er Belvedere in den sonst so mitteilsamen Briefen an Charlotte erwähnt, geschieht es kurz, nie wird es mehr als flüchtig hingeworfene Notiz. »Ich erwarte das Pferd, um nach Belvedere zu reiten. Die Waldnern soll schön geplagt werden,« heißt es am 21. Mai 1777. Oder, ein paar Tage später: »Ich reite nach Belvedere um Steinen zu sprechen.« Am 8. Juni: »Heute sehe ich Sie doch wohl in Belvedere!« Und ein wenig inhaltreicher am 12. Juni: »Heut früh war ich in Belveder, und haben gefischt und auf der Stelle gebacken, ich und der Waldnern Charlott, ein trefflich Essen bereitet.«

Diese Zeilen geben uns wenigstens ganz den jungen Goethe. Er ist zu Hof befohlen und stiehlt sich mit der niedlichen Hofdame der Herzogin Louise ins Grüne, um an einem der Teiche am Parkrand zu fischen. Fängt auch ein paar Fische und brät sie an Ort und Stelle. Aber für die bizarre Schöpfung Ernst Augusts, dessen geistige Physiognomie er doch einmal in einem frühen Briefe an den Herzog nach einem zufällig gefundenen Porträt so ausgezeichnet analysiert hat, findet er kein Wort, nur das Tagebuch registriert einmal kurz: »Die Ruinen ruiniert«, d. h., man säuberte den Park von den ›altmodisch‹ gewordenen Spielereien Ernst Augusts. Der herrliche Wald nach Buchfart mit seinen wilden Felspartien entlockt ihm keinen Jubelschrei, der Blick auf Weimar keinen Sehnsuchtslaut, während er doch in Ettersburg, die abendliche[90] Stadt zu Füßen, dieser Sehnsucht in »Wanderers Nachtlied« erschütternden Ausdruck gibt …

Vielleicht hat das steife Hofleben in Belvedere — die Herzogin hielt sehr auf Etikette — derartige Empfindungen nicht laut werden lassen. Dieses Hofleben beherrscht auch fast ganz die spärlichen Briefstellen, in denen Belvedere überhaupt erwähnt wird, und zwischen den Zeilen steht oft genug, daß ihm die »Cour in Belweder« durchaus nicht immer Spaß gemacht hat. So seufzt er am 9. November 1778: »Zu Anfang künftger Woche wirds von Belvedere hereinkommen, und ich werde auch für diesmal die Sorge für Fusböden, Ofen, Treppen und Nachtstühle losseyn, bis es wieder von vorn angeht.« Und am 27. Mai 1781, nachdem er wenige Tage zuvor ergeben verzeichnet hat: »Heute bin ich wieder ein Hofverwandter«, schreibt er an Charlotte gar: »Ich hatte schon alles zusammengepackt und wollte Ihnen Vorrath auf heute schicken, als mir der Herzog sagen läßt, ich mögte zu ihm hinauf kommen, und mir also die Ruh und Hoffnung auf den ganzen Tag genommen ist … die Hofnoth steh ich nicht den ganzen Tag mit aus.«

Doch ist ihm diese »Hofnoth« manchmal auch ganz willkommen, wenn sie ihn mit der geliebten Frau zusammenbringt. Als Charlotte im Oktober 1778 nach Kochberg auf ihr Gut geht, klagt er:

»Von mehr als Einer Seite verwaist
Klag' ich um deinen Abschied hier.
Nicht allein meine Liebe verreist,
Meine Tugend verreist mit dir.«

Da schreibt sie tröstend auf die Rückseite des Billetts: »In Belvedere seh ich Sie heute.« Und ein andermal erklärt er: »Ich liebe Belvedere wo ich dich heute sehn werde.« Auch gemeinsame Spazierfahrten werden so möglich. Im Mai 1781, beide sind zu »Cour und Konzert« gebeten, bittet er sie, da ihn der Wind wieder am Reiten hindere, ihn im Wagen mitzunehmen, und am 26. Mai 1784 macht er ihr den Vorschlag: »Gegen Abend dächte ich besuchten wir das Prinzgen in Belvedere und führen über Oberweimar wo wir beym alten Docktor absteigen könnten um sein Wetterbeobachtungs Musäum zu besehn.«

Schloß Belvedere
Das südliche Hauptportal neben den Fenstern der Goethe-Zimmer

So wirft die große Liebe zwischen Goethe und Frau von Stein Abglanz auch auf Belvedere, — wie es zwischen 1776[92] und dem bösen Jahre 1789, das den Bruch bringt, ja überhaupt keinen Ort gibt, der nicht durch irgendwelchen Gedankenaustausch in Beziehung zu dieser Frau steht. Es ist ein schwacher Widerschein nur, und die heiße Inbrunst, die andere Briefe fast versengt, fehlt hier. Dafür entschädigt eine süße, selbstverständliche Innigkeit: »Ich liebe Belvedere wo ich dich heute sehn werde …« zarter kann niemand Liebe eingestehen!

Um so tragischer ist es, daß Zufall ihn, nach Jahr und Tag, gerade hier jenen bitteren Brief an die Geliebte, fast ihm schon Entschwundene schreiben läßt, der halb Entschuldigung, halb Anklage ist. Und der das mürbe und brüchig gewordene Band ganz zerreißt. Das kleine G. und das Datum »Belveder d. 1. Juni 1789« stehn unter diesem Briefe wie ein Todesurteil.

Noch einmal klingt später, fast ein Menschenalter später, als die heißen Herzen längst kühl und müde geworden, aller Groll schlafen gegangen, beide sich in behaglicher Altersfreundschaft wieder zueinander gefunden, flüchtig in einem Brief Charlottens der Name Belvedere auf. »Mögen Ihnen, mein guter Geheimerath,« schreibt sie am 27. Februar 1816 an Goethe, als dieser zur Stiftung des Falkenordens nach Belvedere fahren muß, »die rauhen Lüfte nicht schaden, die mich unlieblich gestern in Belvedere angeweht haben. Ihre Sie verehrende Freundin von Stein.«

Ein Nichts, eine Bagatelle. Aber ob sie nicht beide da doch der Zeiten gedacht haben, wo sie gemeinsam nach Belvedere zur Cour gefahren, gemeinsam an der Tafel gesessen, gemeinsam durch den abendlichen Park geschlendert? Nicht auch des Briefs vielleicht, der das alles dann zerstört und der aus Belvedere datiert war?

Wer will es wissen? Es hat keiner von ihnen darüber gesprochen …

Ein Schritt knarrt über den Kies, ein Schlüsselbund klirrt: der Kastellan. Noch immer spielen über dem Brunnenbecken die dunklen Falter. Der alte Mann sieht sie auch. Er nickt. »Ja, früher sprang hier die Fontäne!« meint er. »Aber diesmal haben wir noch keine Order bekommen. Von wem auch?« Und er seufzt: »Der Gärtner wollte auch schon die Orangen und die Palmen 'rausbringen. Aber die neuen Herren da unten wollten[93] es nicht. Man wüßte doch noch nicht, was überhaupt mit Belvedere würde. Ja.« Und während er die Gittertüre aufschließt, die das niedrige Portal schützt: »Sonst sah's hier oben schon so hübsch aus. Aber jetzt ist alles tot!«

Ist alles tot …

Das Wort begleitet. Dämmerige Luft schlägt kühl dem Eintretenden entgegen — die Luft, die Truhen atmen, die lange nicht geöffnet wurden, halb Staub und halb Lavendel.

Da die Eingangshalle! Auf den blauweißen Kachelwänden tanzen verlorene Sonnenkringel. In zwei Armen schwingt sich die Treppe, von japanischen Vasen flankiert, schön zum ersten Stock; auf halber Höhe springt aus der Treppenwand, wie eine Theaterloge, ein zierlicher Balkon … Hat Goethe die Halle so gesehen? Kaum. Mit den Delfter Kacheln ließ erst die Gattin Carl Alexanders, die spätere Großherzogin Sophie, die niederländische Prinzessin war, Wand und Treppe auslegen, und auch das silberne Geländer, die Vasen, die Leuchter, die Bilder stammen erst aus jüngerer Zeit. Ganze Geschlechter haben hier ja ihren wechselnden Geschmack, ihre Moden, ihre persönlichen Liebhabereien hineingetragen, und an die Tage, da in Belvedere Carl August und Louise Hof hielten, erinnert nicht mehr allzuviel. Nur die Allegorien Ösers haben schon damals von der Decke des mächtigen Speisesaals herabgeschaut, im roten Wartezimmer sich die Hofdamen an den blassen Reliefgemälden Reyers erfreut, in kalten Frühherbsttagen die Fayencekamine die Fröstelnden um ihre Glut versammelt. Und hier und da erzählen auch noch verschlissene Gobelins, verblaßte Tapeten, erblindete Spiegel von dieser Zeit.

Und wie man so durch die stillen Zimmer wandert, geben die, die einstmals hier gewohnt, schattenhaftes Geleit. Die alten Namen klingen, der Kastellan, in langem Hofdienst ergraut, zählt sie mit feierlicher Stimme auf. Ein ganzes totes Jahrhundert bedrängt die Seele. Ringsum häuft auf Konsolen, Tischchen, Etageren, Säulen sich das Vielerlei von Andenken, Bildern und Nippsachen, das ihnen einst ihr Leben liebgemacht, das bric à brac verwöhnter Menschen; von den Wänden lächeln in goldenen Rahmen sie selbst und die, die ihrem Herzen nahestanden, und aus alten Kupfern und Aquarellen steigt der Duft der Landschaften und Städte, die ihnen auf Reisen Glück und Erlebnis[94] gewesen … Leben, das längst Staub und Legende, erhält für Augenblicke wieder Blut und Atem.

Da ist der Teesalon Carl Augusts, vom Treppenhaus durch Spiegelscheiben getrennt, in die Pflanzenornamente eingeätzt sind. Der ganze Raum, in mattem Blau und Silbergrau gehalten, reines Rokoko: Regentschaftsstil. Filigran überrankt Spiegel und Wände, an der Decke flattern, von Öser gemalt, phantastische Vögel um zierliche Volieren. Die drei Fenster rahmen das ferne Weimar. Die »Kaiserzimmer« dann erinnern an die Kaiserin Augusta, Carl Friedrichs und Maria Paulownas eine Tochter, die hier oft geweilt; ein weißes Schlafzimmer, das ganz modern anmutet, hat 1898 die junge holländische Königin, eine Nichte der Großherzogin Sophie, später die frühgestorbene Erbgroßherzogin Pauline, die erste Gattin Wilhelm Ernsts, bewohnt. Seit 1904 steht es verwaist … ein süßer, heimlicher Traum. Finsterer Prunk dagegen füllt das Sterbezimmer Maria Paulownas, den westlichen Kuppelsaal. Aus den Mittelfenstern blickt man in den »Russische Garten«. Das riesige goldene Bett steht wie ein Katafalk unter der hohen Kuppel — die Liegende sah in den Himmel: gemalte Wolken verhüllen das Gewölbe. An dem einen Fenster ein Stehspiegel aus türkisblauem Porzellan, in der Nische ein pompöser Lapislazuli-Schreibtisch, alles schwer und wuchtig, der Geschmack eines Landes, dessen immer noch barbarische Instinkte in wilder Pracht Entfaltung suchen. Ein halbvollendetes Nähkästchen, zierliche Handarbeit, erzählt von den letzten Stunden der Großfürstin.

Sie ist es auch gewesen, die über das ganze Schloß die unzähligen Bilder und Andenken aus Rußland verstreut hat. Sie hat Belvedere sehr geliebt. Es ist ihr eigentliches Heim gewesen. 1824 hat ihr der alte Goethe, der der Fremden ganz ergeben war, ein Bildchen geschickt: »Schloß Belvedere in der Abendsonne«, er hat darunter geschrieben:

»Erleuchtet außen hehr vom Sonnengold,
Bewohnt im Innern traulich, froh und hold.
Erzeige sich Dein ganzes Leben so:
Nach außen herrlich, innen hold und froh.«

Und eine entzückende Tuschzeichnung von Diez, aus dem Jahre 1850, die in einem der kleineren Salons hängt und sie als reife Frau darstellt, zeigt als reizende Staffage im Hintergrunde[95] ebenfalls den Lieblingsaufenthalt: in den Park gebettet Schloß Belvedere.

Ein paar Räume weiter das »Aquarellzimmer«, einst der Musiksalon der Herzogin Johann Albrecht. Die Bilder, die es schmücken, schenkten den Namen. Es atmet französische Eleganz, die leichte Eleganz der siebziger Jahre. Alabasterlampen, Bronzen, japanische Wandschirme, Schildpatt- und Cloisonné-Arbeiten geben ein Interieur der Zeit, wie wir es auf frühen Bildern Albert von Kellers sehen. Ganz noch die Welt des Rokoko dagegen der Speisesaal im Mittelbau der Parkfront, ein königlicher Raum. Köstlich ist die weiße Stuckdecke mit dem Öserschen Olymp, köstlich die Marmorkamine mit den riesigen Spiegeln darüber, in denen der wundervolle venezianische Lüster vielfältig glitzert, köstlich das schimmernde Parkett. Jetzt wohnt hier die Einsamkeit. Die gelbseidenen Polsterstühle um die Tafel herum schützen graue Bezüge, Zwielicht schattet um die dunkelroten Säulen, und leise fällt der Staub und deckt das alles zu. Nur noch ein vager Duft, ein Duft von welken Blumen und von Kerzen, die lange nicht gebrannt, mahnt an verschollener Tage Glanz und Geigenklang.

Und so das Übrige, Zimmer an Zimmer. Einmal bannen ein paar dunkle Gemälde, die hellblaue Tapete, auf der sie hängen, gibt den Gestalten seltsames Leben. Das eine die Kinder Carl Augusts: der Erbprinz Carl Friedrich, die Prinzessin Caroline und der kleine Prinz Bernhard, gemalt von Tischbein. Holdes Kinderlächeln verklärt die höfische Grandezza, die Augen verschleiert leise Müdigkeit. Das andere Maria Feodorowna, die Kaiserin, die Mutter der Maria Paulowna, strahlend von Schönheit und Brillanten, ein Meisterwerk des jüngeren Lampi. Und daneben, blasser, von unberühmter Hand, Carl Friedrich und die Maria Paulowna. Erinnerung schmückt die toten Bilder mit Flor und Immortellenkranz …

Ganz Erinnerung auch das »Japanische Zimmer«, das einen Teil der Schätze birgt, die Prinz Bernhard, der holländischer General war, von seinen Weltreisen mit heim in das enge Belvedere gebracht hat. Die dunkelblaue Tapete, schwere gestickte Seide, flammt in verhaltener Glut, in den schwarzen Schränken gleißt das Perlmutt und Elfenbein, um die Bronzen, die Vasen, die Lackarbeiten schwingt der Zauber ferner Abenteuer.[96] Man denkt an holländische Schlösser, wo ganze Säle voll von diesen Dingen sind …

Das Carl Alexander-Zimmer, den östlichen Kuppelsaal, überwölbt wieder ein wolkiger Himmel. Er blickt, im Lauf der Jahre grau geworden, auf totes Mobiliar herab, das hier wahllos beiseite gestellt ist, hochbeinige Sekretäre und wuchtige Kommoden, gesprungene Spiegel und verstaubte Bilder. Die Miniaturen, die ein großer Wandschirm trug, hat der letzte Großherzog kurz vor dem Sturze sich an einem trüben Novembertage noch geholt; jetzt sieht man auf der ausgefahlten Seide nur noch die Stellen, wo sie hingen, — kleine dunkelrote Rechtecke und Ovale, die von einer wehen, herben Stunde erzählen! Und die Begassche Büste der Kaiserin Augusta, die hier verloren steht, mag den Flüchtenden bitter an den einstigen Glanz des Hauses gemahnt haben, das so ruhmlos enden mußte.

Bleibt noch das »Lämmerzimmer«, ein Salon der Großherzogin Sophie, der den Lämmern in den verblaßten, seidengewirkten Tapeten aus der Zeit Anna Amalias den wunderlichen Namen dankt. Sessel stehen behaglich um einen runden Tisch, auf einem Eckschrank leuchtet, zwischen alten Photographien, erlesenes Porzellan, der Meißener Kronleuchter prunkt in tausend Farben … die, die hier oft in stiller Abendstunde gesessen, könnte wieder eintreten, sie würde alles finden, wie sie es verlassen, alles. Aber sie tritt nicht ein, und nie wieder wird hier Tee getrunken werden.

»Und Goethe?« Jawohl. Aus dem Hellen geht's ins Dunkle. Eine enge Treppe schraubt zwischen dumpfem Mauerwerk sich langsam in die Höhe. Die morschen Stufen, so lange nicht betreten, knarren. Einmal streicht die Hand unwillig ein Spinnennetz hinweg, das häßlich-kühl um Stirn und Kopf sich legte … bis man dann plötzlich in der hellen Sonne steht, oben auf dem Dachaufsatz, aus dem, achteckig, der fensterreiche Turm emporsteigt, ein Gartenpavillon in luftiger Höh'. Der Blick reicht weit ins Land von hier aus, in grünen Wellen breiten sich ringsum des alten Ernst August Jagdgründe. Sein Porträt, von unbeholfener Hand gemalt, schmückt auch die Mitte der Decke, und um ihn herum paradieren, reichlich dekolletiert, seine acht[97] Geliebten. Regen und Nässe haben hier und da die Gesichter zerfressen, die Farbe ist abgeblättert, und über die Wände kriecht häßlich der Schwamm und löst die alten Delfter Kacheln aus dem Mörtel.

Hier haben Goethe und Carl August in den ersten Jahren, als noch die wilde Jugend des Herzogs überströmend nicht Ziel, nicht Grenze kannte, oft in ausgelassener Gesellschaft gezecht … sie wollten, aus guten Gründen, keine Zuschauer dabei, und das »Tischlein deck dich«, ein Speisenaufzug, der immer neu besetzte Platten aus der Tiefe hob und jegliche Bedienung überflüssig machte, stammt aus jener Zeit. Das mag lustig genug gewesen sein, wenn so die Wildschweinsköpfe, die Fasanen, die Rehrücken und die Torten hier wie durch Zauberhand vor den Tafelnden erschienen. Und das Singen und das Lachen und der Lichterschein mögen das Getier, das nachts um solche Türme flattert, die Dohlen und die Fledermäuse, recht verdrossen haben. Drang es doch gar bis Weimar, und die ehrsamen Bürger haben genug darüber spektakelt …

Carl Alexander, der Enkel, hat dieses »Tischlein deck dich« dann auch ein paarmal benutzt, allerdings in etwas soliderer Runde. Zum letztenmal 1896, kurz bevor er nach Moskau zur[98] Kaiserkrönung fuhr. Der Kastellan, der jetzt das Schloß betreut, hat damals mit in dem unter dem Turm gelegenen Anrichteraum die Speisen und die Weinflaschen in die Höhe gedreht. Ein Blick in diesen Raum zeigt jetzt wüstes Durcheinander. Die Flaschenzüge sind mürbe geworden, im Holze tickt der Wurm, die Spinnen haben alles mit grauen Schleiern überhäkelt. Und die Mäuse, die hier nachts von Schlupfwinkel zu Schlupfwinkel huschen, sind das einzige Leben, das in dieser Öde sich noch regt.

»Und wo hat Goethe gewohnt?« fragt man, schon wieder in der Vorhalle und Hut und Stock in der Hand … denn 1789 zum Beispiel, damals, als er an Charlotte die schweren Abschiedsbriefe schrieb, ist er mit dem kleinen Erbprinzen sogar acht Tage lang in Belvedere gewesen. »Etwa in den Kavalierhäusern?«

Der Kastellan stößt rechter Hand die Tür auf: »Angeblich hat er hier gewohnt!«

Zwei Zimmer. Die Decke des ersten wieder von Öser, diesmal die vier Jahreszeiten. An der Wand einsam eine italienische Landschaft. Ein dünnes Tischchen Gegenstück zu einem anderen in Tiefurt. Das zweite, das Schlafkabinett, merkwürdig durch zwei Spiegel in der Fensternische, die so gestellt sind, daß sie den Betrachter unendlich vervielfältigen. Und das ist alles. Aber wenn man daran denkt, daß Goethe in diesen Räumen wahrscheinlich jenen Brief an Frau von Stein geschrieben hat, der Bande zerriß, die für ein Leben geknüpft erschienen, kann man sich eines leichten Schauers nicht erwehren, fühlt man Goethe-Atem auch hier und sucht nach irgend etwas, was die Erinnerung davontragen könnte.

Aber es bleibt nur der Blick durch die Fenster, und auf Busch und Baum des Parks hat wohl auch damals sein Auge geruht, das Trost suchte und doch nicht fand.

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So geht man denn auf leisen Wegen in den Park, der weit und ruhig das Schloß umgibt. Die Sonne ist im Sinken. Schon liegt die Gartenfront in blassen Schatten, auf dem Dach sitzen die Amseln und singen ihr Abendgebet. Ihr Lied ist der einzige Laut, der die unendliche Stille belebt.

Es sind Wege Goethes, die man geht. Wie die Anlagen an der Ilm und die Allee, die von Weimar hierher führt, ist der Park von Belvedere sein Werk, — wenn ihm auch der alte Herzog Ernst August mit seinen barocken Wunderlichkeiten und Anna Amalia, die sie wieder tilgte, vorgearbeitet haben … sein und Karl Augusts Werk. Die leidenschaftliche Hingabe an die freie, unverstellte Natur, das »Erdgefühl«, das damals unter Goethes Einfluß den ganzen Weimarer Hof beherrschte, vertrug die Schnörkelwege nicht mehr, die die steife Mode der Vergangenheit in den alten Wald geschnitten hatten. Der Park von Wörlitz wird Vorbild, dem nahezukommen der Fürst und sein Minister sich bemühen; ging doch die allgemeine Neigung jetzt auf derartige »ästhetische Parkanlagen« aus.

Die Äußerungen Goethes darüber aus jungen Jahren sind spärlich. Ein paar belanglose Briefstellen, ein paar Tagebuchnotizen — mehr ist nicht zu finden. Später, in den achtziger Jahren, schreibt er wohl einmal an Frau von Stein, daß er nach Belvedere gehen und seine »botanischen Augen und Sinne weiden« wollte; oder daß er dort mit dem Gärtner »allerley botanica zu tracktieren« habe. Erst der alte Goethe wird mitteilsamer. In seiner umständlichen Art erzählt er 1822 in einem »Schema zu einem Aufsatze, die Pflanzenkultur im Großherzogtum Weimar darzustellen«, wie im Anschluß an die Arbeiten an der Ilm die Verschönerung des Parks von Belvedere in Angriff genommen und durchgeführt worden ist. Dabei werden auch die Beamten genannt, die sich um Belvedere verdient gemacht haben, so der Hofgärtner Reichert und der Garteninspektor Sckell, auch der Legationsrat Bertuch aus Weimar, der sechzehn Jahre hindurch die Verwaltung geführt hat, wird lobend erwähnt. Vor allem aber war man bemüht, als Ausbau der Orangerie einen botanischen Garten von wissenschaftlichem Wert zu schaffen, und »die eifrige Vermehrung bedeutender Pflanzen neben den immerfort ankommenden Fremdlingen macht«, wie der Greis in jenen späten Aufzeichnungen erzählt »die Erweiterung in[100] Belvedere, sowohl auf dem Berg als in dem Tal gegen Mittag gelegen, höchst nöthig. In der letzten Region werden Erdhäuser nach Erfindung Serenissimi angebracht, in der letzten Zeit ein Palmenhaus erbaut von überraschender Wirkung«.

Und noch einmal kommt er, 1830, auf diese Parkarbeiten zurück, als er, damit beschäftigt, aus Erinnerung und Tagebuch die Chronik seines Lebens in »Tag- und Jahresheften« zusammenzustellen, das »Louisenfest« beschreibt. Am 9. Juli hatte die Herzogin Louise Geburtstag. 1778 feiert ihn der weimarische Hof in einem Gartenfest, und der Greis, außer Knebel der einzige noch Lebende von allen denen, die es mitgemacht, nennt es »auch für uns noch merkwürdig, als von dieser Epoche sich die sämtlichen Anlagen auf dem linken Ufer der Ilm, wie sie auch heißen mögen, datiren und herschreiben«.

Die Welt, die sich vor einem auftut, wenn man die schönen Gittertore der Orangerie durchschreitet, ist noch in allem die Goethes. Die Menschen aus »Wilhelm Meister« haben hier ihr Klima. Die ganze Anlage, die ja in der Hauptsache noch von Ernst August stammt, ist bestes Rokoko. In mächtigem Halbrund säumen die Gewächshäuser den Garten, der, groß und leer, auf die Oleander- und Orangenkübel wartet; wo die Flügel zusammenstoßen, liegt, gleichzeitig Endpunkt der Allee, das schloßartige Haus des Gärtners mit seiner gelben, leicht eingebuchteten Front.

Und es ist wirklich fast alles noch wie einst. Noch immer werden die Gewächshäuser durch Steinkanäle erwärmt, die mit Holz gefeuert werden, die Arbeiter richten sich nach Goethes Sonnenuhr. Es ist ein eigentümliches Gefühl, vor denselben Myrten, Zypressen und Palmen zu stehen, die schon Goethe und Carl August bewundert haben. Auch hier haben die Nachfahren manches nach der Mode ihrer Zeit verändert, Grotten im Geschmack der fünfziger Jahre eingebaut und kleine Bassins mit Goldfischen,[101] das »Erdhaus« zum Wintergarten umgestaltet. Ein heimlicher Platz unter blühenden Zimmerlinden erinnert durch eine Bank an Maria Paulowna, und es berührt seltsam, sich zu denken, daß in dieser bescheidenen Umgebung die verwöhnte Großfürstin mit ihren Kindern glücklich gewesen ist …

Ein kleiner Teesalon aus roten Ziegeln schließt das Ganze nach Süden ab. Der Belvederehügel fällt hier steil zu Tal, man sieht weit ins Land, die nahe Landstraße bot Abwechslung und Zerstreuung. Es ist der »chinesische Tempel«, der einst im Garten des Wittumspalais auf der Stadtmauer gestanden hat. Jetzt füllt Gerümpel ihn, die seidenen Vorhänge sind zerfetzt, Bohnenstangen und Holzjalousien verdecken die zarten Chinoiserien Ösers, und von der Decke fällt der Putz …

Wie lange mag es her sein, daß hier an stillen Sommerabenden der Hof den Tee genommen, lustige Hofdamen mit den bezopften Herrschaften an der Wand gescherzt, Carl August mit der schönen Caroline Jagemann gesessen, und die Pagen servierten Eis und französischen Champagner?

Es war einmal. Böse schwelt jetzt hier häßlicher Verfallsgeruch, und die Öserschen Gestalten blicken in eine Welt, die diese leichten Spiele der Seele nicht mehr versteht. Eine andere Zeit ist angebrochen.

Und noch ein letzter Blick in den »Russischen Garten« am anderen Ende des Parks … es ist der Garten, in dem Maria Paulownas Kinder ihre Bäume, ihre Beete, ihre stillen Plätze hatten; aus den Fenstern ihres Schlafzimmers konnte sie dem Spiel der Prinzessinnen zusehen, und von ihr mag dieser Teil des Parks dann wohl den Namen erhalten haben, unter dem er jetzt als besondere Sehenswürdigkeit gezeigt wird. Aber an sich stammt auch er aus der Zeit Carl Augusts.

Schon hängen die Abendschatten in den Baumkulissen der Naturbühne. Wie auf den Höhen Ettersburgs und in Tiefurts Tal wurde auch hier oft »unter dem Gewölb der hohen Nacht« Theater gespielt, und in die Verse Goethes klang das Liebesflüstern der Vögel, das Rauschen des Windes. Vorbei! Aus diesen Hecken tritt keine Iphigenie mehr, auf den Rasenbänken davor werden keine Zuschauer mehr Platz nehmen. Das Grab Corona Schröters in Ilmenau deckt schwer der Stein, und die[102] hier einst voll froher Lust sich in geträumten Leben ein Abbild des wirklichen erschufen, im schmerzlichsüßen Klang von Geige, Waldhorn und Fagott die Seele wiegten, sie liegen alle still und stumm in ihren Särgen in der Fürstengruft in Weimar — Väter, Söhne und Enkel.

Noch einmal naht Vergangenheit, wenn man am Marstall vorbei zu dem alten Gasthof schlendert … die Straße seltsam ein Bild aus dem 18. Jahrhundert, der Garten, von Flieder und Jasmin ganz eingesponnen, noch immer genau so wie damals als hier Christiane mit den »Lustigen aus Weimar« gesessen, zu Pfingsten und wenn die Rosen blühten und auch im Herbst, wenn die Kastanien schon Rauschgold auf alle Wege streuten.

Als 1816 Goethes langjähriger Kutscher, der treue Dienemann, der ihn so oft nach Karlsbad gefahren, heiratet, verschafft Christiane ihm durch Fürsprache die Pacht des Schloßgasthofs. Ihr Tagebuch meldet am 8. April: »Dienemann und seine Frau ziehen ab. Ihr Wirtschaftsgeräte nach Belvedere. Die neue Köchin tritt an.«

Sie hat gewiß gedacht, dem vertrauten Mann hier oben noch oft zu froher Stunde zu begegnen. Aber wenige Wochen später ist sie schon tot, und Goethe gesteht schmerzlich, daß der ganze Gewinn seines Lebens sei, ihren Verlust zu beweinen.

Ist er noch oft in Belvedere gewesen? Gewiß. Doch sicherlich nie, ohne an die zu denken, die hier so gerne geweilt. Als die Schauspielerin Ernestine Durand, einst als Demoiselle Engels die Freundin der Toten, den Greis im Jahre 1826 bittet, ihr ein paar Worte ins Stammbuch zu schreiben, steigen die Tage von Belvedere wieder vor ihm auf, und wie ein leises Echo verwehter Freuden entklingen ihm die schwingenden Verse:

»Donnerstag nach Belvedere!«
Und so gings die Woche fort;
Denn das war der Frauen Lehre:
Lustige Leute, lustiger Ort!
Üben wir auf unsern Zügen
Auch nicht mehr dergleichen Schwung,
Stiftet inniges Vergnügen
Heitern Glücks Erinnerung.

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