Herbsttage in Heidelberg

Auf der Terrasse hoch gewölbtem Bogen
War eine Zeit sein Kommen und sein Gehn …

Marianne von Willemer.

Denkt man an Goethe und Heidelberg, so klingen aus der Erinnerung zwei Frauennamen herauf. Lili und Marianne. Die diese Namen trugen, sie haben beide, nun von Legende längst in Sphären der Verklärung entrückt, das Herz des Dichters besessen … die eine, selbst im vollen Glanz der Jugend prunkend, das des Jünglings, der wild ins Leben stürmte, »der Wunder bang, von Sehnsucht süß bedrängt«; die andere, eine »Frau von dreißig Jahren«, das des Mannes, dem schon der Lebensabend nahte. Und Heidelberg war beidemal die Stätte, da die Entscheidung fiel: sie hieß im einen wie im andern Fall Entsagung.

Doch laufen Fäden auch vom Neckar nach der Ilm, und Unrecht wäre es, nicht auch Charlottens und Christianens zu gedenken, nach denen Sehnsucht des Freundes und des Gatten hier in Heidelberg auch oft genug gebangt …

Das war ein bunter Tag aus andern bunten Tagen, als Goethe zum erstenmal nach Heidelberg kam.

Denn er kam nicht allein.

Drei wilde Gesellen begleiteten den Dichter des »Werther«: die beiden Stolbergs, die Brüder jener Auguste, der Goethe die schönsten Briefe seiner heißen und verworrenen Jugend geschrieben hat, und ein Graf Haugwitz. In Sturm und Drang fegten sie durch das verstörte Land, das ihnen, Ort für Ort, entgeistert nachstarrte, und rissen Goethe mit. Den lockte mehr als ihre ungebärdige Art das Ziel der wilden Reise: die Schweiz. Aber immerhin — wie schön war's doch, der Fesseln ledig, die die zwiespältige Leidenschaft zu Lili[126] Schönemann ihm auferlegt, durchs Land zu schweifen, im blauen Werther-Frack und Stulpenstiefeln, und wenn die Kameraden, aller Sitte spottend, den Philistern in Mannheim und Darmstadt lange Nasen drehten, so machte er nicht gerade ungern mit. »Wir vier,« heißt es in einem Briefe des älteren Stolberg an seine Schwester Katharina im fernen Dänemark, »sind bei Gott eine Gesellschaft, wie man sie von Peru bis Indostan umsonst suchen könnte.«

Diese Gesellschaft, die in Frau Ajas Haus in Frankfurt — man denke: diesem wohlfundierten Patrizierhaus — lärmend »nach Tyrannenblut gelechzt«, hatte die Mainstadt am 14. Mai 1775 verlassen. Merck in Darmstadt, ein besonnener Freund, hatte die vier Genies argwöhnisch betrachtet: »Daß du mit diesen Burschen ziehst,« hatte er zu Goethe, dem einzigen, der wirklich ein Genie war, gesagt, »ist ein dummer Streich, du wirst nicht lange bei ihnen bleiben. Deine unablenkbare Richtung ist, dem Wirklichen poetische Gestalt zu geben; die andern suchen das sogenannte Poetische, das Imaginative zu verwirklichen, und das gibt nichts als dummes Zeug.«

Bittere Worte! Deren Wahrheit und tiefen Sinn Goethe halb erkannte, halb verneinte und die er damals, selbstverständlich, in den Wind schlug. Aber als er, ein Menschenalter später, »Dichtung und Wahrheit« niederschrieb, hatte er ihre Schicksalskraft an Leib und Seele erfahren. Dort hat er sie denn auch verewigt.

Ja, es war ein bewegter Tag, der 16. Mai 1775, als die vier ungleich-gleichen Fahrtgesellen in das abendliche Heidelberg einzogen; die guten Heidelberger mögen nicht schlecht gestaunt haben, als dies Quartett singend und hüteschwenkend durch die stillen Straßen marschierte, Gestalten fast aus einer anderen Welt. »Nun gehen wir hin,« erzählte der immer schreiblustige Christian Stolberg der Schwester andern Tages, »das weltberühmte Heidelberger Faß zu sehen …« Natürlich! Da's nicht Tyrannenblut sein konnte, nahm man mit Neckarwein vorlieb, und wie in Mannheim trank man in lautem Rundgesang auf das Wohl der Geliebten und zerschlug nachher die Gläser … Und Goethe? »Liebe Lili, wenn ich dich nicht liebte!« tönte es wohl damals schon in seinem Herzen. Sehnsucht quälte den guten Jungen, trieb ihn nur zu oft aus dem lauten Lärm der Zechgenossen.[127] Und da winkte denn am Markt ein stilles Haus, ärmlich anzusehen nur mit seinen zwei Fenstern Front und dem niedrigen Dach: das Haus der guten Demoiselle Delph winkte Trost und brachte Trost, so verstört der Kopf auch war, in dem Wein und Liebeszweifel gleich stark rumorten. War sie, eine Geschäftsfreundin des Schönemannschen Hauses, es doch gewesen, die seinerzeit die Hände Lilis und Goethes »mit ihrem pathetisch gebieterischen Wesen« ineinander gelegt hatte! So mochte sie nun auch sehen, was sie angerichtet, mochte Gluten dämpfen, die sie selbst entfacht … Und so waren Ausklang dieses ersten flüchtigen Aufenthalts in Heidelberg Worte der Klage und Anklage, von der ältlichen Jungfer kopfschüttelnd angehört, derweilen die Freunde des Beichtenden oben im Burgkeller lärmten.

Aber der andere Tag schenkte schnell Vergessen, und über Karlsruhe, wo Klopstock besucht wurde und Goethe, sterngebunden, zum zweitenmal dem jungen Thronerben von Sachsen-Weimar begegnete, ging's nach der Schweiz zu Lavater.

»Liebwärts« blickte Goethe noch, als er, heimkehrend aus der Schweiz, Frankfurt liegen sah: wartete dort am Kornmarkt seiner doch Lili, die in so vielen Versen dieser Reise heißersehnte. Doch wenige Wochen später floh er, von seinem Dämon getrieben, die, um die er noch vor kurzem so gebangt. »Vergebens,« hatte er am 3. August dieses schicksalsvollen Jahres an Auguste von Stolberg geschrieben, »daß ich drei Monate in freier Luft herumfuhr, tausend neue Gegenstände in alle Sinnen sog … ich sitze[128] wieder in Offenbach, so vereinfacht wie ein Kind, so beschränkt als ein Papagei auf der Stange … alles wirrt sich in einen Schlangenknoten.« Da blieb nichts übrig als Bruch und Flucht.

Dazu jagten sich andere Ereignisse. Am 21. September, einen Tag nach der Entlobung, hatte ihn Carl August, jetzt Herzog geworden, durch Handschlag an sich gebunden: Weimar, fremd und unbekannt, wartete. Der 12. Oktober erneuerte die Einladung. Goethe, des herzoglichen Wagens harrend, der ihn nach Weimar bringen sollte, machte sich reisefertig. Aber der Wagen kam nicht. Spott des Vaters, eigene Scham, dazu das qualvolle Gefühl, Lili, die immer noch im stillen Geliebte, sich verscherzt zu haben, trieben ihn, bei Nacht und Nebel, aus der Vaterstadt. Italien sollte Vergessen und Linderung bringen: »Lili, adieu Lili, zum zweitenmal!«

Und erste Zuflucht war wieder das stille Haus der guten Demoiselle Delph in Heidelberg.

Im Mai war Heidelberg an Goethe vorbeigeglitten wie ein Traum. Jetzt erlebte er es wirklich. Erlebte Herbsttage, die Gold und Trunkenheit über Stadt und Schloß schütteten. Die Berge ringsum brannten. Schon das Tagebuch, das er von nun an führte, war unterwegs, an der Bergstraße, bei »ominöser Überfüllung des Glases« begonnen worden; im Gasthaus in Weinheim hatte er, wie dasselbe Tagebuch berichtet, vor »Herbstbutten und Zuber« nicht den Weg zum Wirtszimmer finden können; nun geriet er in Heidelberg mitten in die Weinlese hinein. »Elsassische Gefühle« lebten in ihm auf.

Die Handelsjungfer Delph tat alles, den Bekümmerten zu zerstreuen. Tat's mit Erfolg. Sogar ein neuer Heiratsplan erwachte, neue Mädchenschönheit bedrängte das noch wunde Herz, das Lili vergessen wollte. Das Leben lächelte wieder.

Aber dann kam eine Nacht, der erste rauhe Wind rüttelte an den Fensterläden und in den Gärten raschelte das welke Laub, da war der alte Mißmut wieder rege geworden. Unfruchtbares Geschwätz mit der Delph hatte die schon halb begrabenen Zweifel aufgestört: nun quälte das Bild Lilis, quälte die eigentümliche Weimarer Geschichte, eine tolle Geschichte, wenn man sie recht betrachtete, den einsamen Schläfer. Leise ächzte er im Traum.

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Da klang ein Posthorn in die Stille, jähes Klopfen brach das schlafende Haus auf. Türen klappten, Licht fuhr eilig hin und her. Und dann trat die Delph, notdürftig hergerichtet, in des Gastes Kammer, in der Hand einen versiegelten Brief: Stafette aus Frankfurt … der Geleitsmann des Herzogs, dort endlich eingetroffen, wartete … Weimar rief!

Und das Schicksal erfüllte sich: der nach Italien hatte wandern wollen, eine kranke Liebe im Herzen, er zog nach der bescheidenen Ilm, einer neuen Liebe entgegen, neuer Qual und neuem Rausch, weil es die Sterne so wollten. Die Sonnenpferdeworte aus dem »Egmont«, sicherlich der Delph, die warnte, nicht so spontan zugeschleudert, wie »Dichtung und Wahrheit« es erzählt, aber, als Goethe damals in der gleichen Nacht noch Heidelberg verließ, sicherlich dem Sinne nach so empfunden, gaben das Geleit. Und der Goethe, der später aus der Erinnerung diese ereignisschwere, geheimniserfüllte Nacht in »Dichtung und Wahrheit« schilderte, der formte gleichzeitig jene »orphischen Urworte«:

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

An dem schmalen, unscheinbaren Hause der Demoiselle Delph aber findet der, der Augen für derartige Dinge hat, heute eine Tafel, die da meldet:

»Aus diesem Hause
seiner mütterlichen Freundin Dorothea Delph
reiste Goethe, der Einladung Carl Augusts folgend,
den 4. November 1775 nach Weimar.«

Die kleine Tafel gibt Kunde von dem wichtigsten Vorgang in Goethes ganzem Leben. Wie wäre das wohl verlaufen, wenn hier der »Zufall« anders gespielt hätte? Aber der Alltag treibt daran vorbei, und kaum einer steht einmal still und versucht, die ungeheuere Bedeutung dieser wortkargen Inschrift auch nur zu begreifen!

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Und die Jahre stürzten. Die Ufer der Ilm wurden dem Fremdling Heimat. »Gott im Himmel, was ist Weimar für ein Paradies!« jubelte Goethe aus Mannheim Charlotte von Stein zu, als er im Dezember 1779 von der zweiten Schweizer Reise zurückkehrte, die er mit dem herzoglichen Freund zusammen unternommen. Sie hatte ihn auch flüchtig zu Beginn nach Heidelberg geführt, und nachdenklich war der nun Dreißigjährige durch die Gassen geschlendert, die er vor vier Jahren verlassen hatte, um ins Ungewisse zu pilgern.

Wie hatte sich seitdem die Welt verändert!

Nicht die Welt Heidelbergs; die war, mit Schloßruine und abendlich beglänztem Fluß, mit ihrer alten Giebel Flucht und Herbsteshauch, die selbe geblieben; aber seine Welt war eine andere geworden. Lilis Bild, einst süße Qual, hatte das neue Charlottens verdrängt: ruhig hatte er die frühere Geliebte, jetzt Frau von Türkheim und glückliche Mutter, in Straßburg sehen und sprechen können. Auch Friederike hatte er in Sesenheim besucht, und sein Herz war unbewegt geblieben: »Da ich iezt so rein und still bin wie die Luft, so ist mir der Athem guter und stiller Menschen sehr willkommen,« hatte er Frau von Stein geschrieben …

Der Jüngling war eben zum Mann geworden, der »in Friede mit den Geistern« seiner Jugend lebte.

Noch einmal hatte Heidelberg ihm nun die Erinnerung dieser dumpfen Jugendtage geschenkt, das bröckelnde Schloß ihm von den Gesellen erzählt, mit denen er hier einst in seliger Torheit kraftgenialisch gelärmt, das kleine Haus der Demoiselle Delph ihn an die Nacht gemahnt, da ihn das Posthorn aus Schlaf und wirrem Traum gejagt … Es war einmal! Das ist in unsichtbaren Lettern auch unter jener Zeichnung des gesprengten Turms vom 23. September 1779 zu lesen, die ihn nun nach Weimar begleitete — einziges Zeichen dieses Aufenthalts in Heidelberg von 1779, das wir besitzen.

Und der es in versonnener Stunde angefertigt, der war nicht mehr der wilde Dichter des »Götz« und des »Werther«, sondern der Geheimrat Goethe, rechte Hand und Ein und Alles Carl Augusts. Denn am 6. September dieses Jahres hatte[131] der Herzog wider allen Brauch und Sitte dem baß Verwunderten und drob von den Schranzen in Weimar nur noch mehr Beneideten und Gehaßten den »Geheimdenraths Titel« gegeben.

Goethe an Christiane aus Heilbronn am 28. August 1797: »Den 26., an einem außerordentlich klaren und schönen Tag, blieb ich in Heidelberg und erfreute mich an der schönen Lage der Stadt, die am Neckar zwischen Felsen, aber gerade an dem Puncte liegt, wo das Thal aufhört und die großen fruchtbaren Ebenen von der Pfalz angehen.«

Goethe an Christiane … ja, in den achtzehn Jahren, die seit der zweiten Schweizer Reise ins Land gegangen waren, hatte sich das Leben des Dichters wunderlich genug gestaltet. Vieles war längst wieder zu Traum und Vergangenheit geworden, was einst beglückende und quälende Wirklichkeit, sonnenreiches Heute gewesen. Wo war Charlotte von Stein, die gütige, die liebevolle Gefährtin in so manchen Wirrnissen? Vergessen? Nein, das nicht. Aber fremd und kalt geworden. Sie hatte es nicht ertragen können, daß eine Christiane Vulpius an ihre Stelle trat, als Goethe 1788 verjüngt, ein neuer Mensch mit neuen Ansichten und Sehnsüchten, aus Italien nach Weimar heimkehrte, und hatte sich grollend zurückgezogen. Dann war zwar wieder aus der Mißgunst, die neidisch das friedliche Glück am Frauenplan beschielte und behechelte, eine blasse Freundschaft geworden … der kleine August, Christianens Sohn, hatte den Weg zum Herzen der Verbitterten gefunden. Aber die alte Liebe blieb gestorben: Christiane, so wenig sie, ein bescheidenes Naturkind aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, auch geistig mit Charlotte wetteifern konnte, war in menschlicher Hinsicht die Nachfolgerin »Lidas«. Und diese lebte eigentlich nur noch als Iphigenie und Eleonore in Goethes ewigen Dichtungen. Sonst war sie eine Tote, das Haus an der Ackerwand eine Gruft.

An wen also sollte Goethe schreiben, wenn er auf Reisen war und die Begebenheiten des Tages vertrauten Herzen erzählen wollte? An Christiane, die Frau. Denn wenn Christiane dies vor der Welt auch nicht war, erst 1806 wurde, für Goethe selbst war sie schon längst nicht mehr das »arme Geschöpf«,[132] dem er Empfindungen gönnte, sondern die Frau, die Mutter seines Sohnes, die er mit voller Inbrunst liebte.

Aus diesem ruhigen Familienleben heraus hatte er, alter Sehnsucht folgend, eine neue Schweizer Reise vorbereitet, eine dritte, und vielleicht sollte sie gar, zum großen Kummer Christianens, nach Italien führen. Am 7. Juli 1797 meldete er dem Freunde Heinrich Meyer nach Stäfa am Züricher See, er würde bald »so los und ledig als jemals« sein. »Ich gehe sodann nach Frankfurt mit den Meinigen, um sie meiner Mutter vorzustellen, und nach einem kurzen Aufenthalt sende ich jene zurück und komme, Sie am schönen See zu finden …«

Und so geschah's.

Frau und Kind wurden der stolzen und gerührten Großmutter gezeigt, zwei Tage später wieder nach Hause geschickt, nach kurzen Wochen verließ auch Goethe Frankfurt, um über Stuttgart und Tübingen nach Zürich zu reisen. Und auf dieser Reise kam er auch, zum viertenmal in seinem Leben, nach Heidelberg.

Herbsttage? Nicht ganz. Mehr ein feierlicher, milder Nachsommer, ein sattes Lächeln. Aber herbstlich waren die Gedanken, die Goethe bewegten, herbstliche Reife atmeten die Briefe, die Christiane und die Freunde erhielten.

Noch wohnte die »mütterliche Freundin«, die Beraterin seiner Jugend, in dem kleinen Haus am Markt neben der Hofapotheke, alt geworden, aber nicht weniger unterhaltsam. Und noch einmal stand wohl tote Zeit auf, da er sie besuchte. Aber im übrigen hatte er vergessen und wollte auch nicht erinnert sein. Sein Auge, das in den verflossenen Jahren so vieles gesehen, sah jetzt das Leben anders an, kühl, ruhig, leidenschaftslos, von der hohen Warte des in Stürmen und Kämpfen gereiften Mannes, des Dichters, den eine Welt bewunderte und beneidete, des Sammlers vor allem, der reiste, um seine Akten und Schränke zu bereichern. Was sollte ihm da das Gestern?

»Ich ging in die Stadt zurück, eine Freundin zu besuchen, und sodann zum Obertor hinaus,« heißt es über Heidelberg in der »Reise in die Schweiz 1797«, die Goethe 1823 mit Eckermann aus Tagebuchnotizen und alten Manuskripten zusammengestellt hat. Oder: »Ich ging in Erinnerung früherer Zeiten über die schöne Brücke und am rechten Ufer des Neckars hinauf …«[133] Die ganze übrige Schilderung dieses Aufenthalts in Heidelberg spiegelt restlos neue Empfindungen, und dies in der klugen, etwas steifen Prosa, die Goethe im Alter liebte, die aber bei aller äußeren Kühle von innerer Glut durchleuchtet und dichterisch beschwingt ist: ein Monument der Stadt von ergreifender Gewalt.

Und doch — war Goethe nicht immer der sinnlich erlebende, auch Totes immer wieder freudvoll und leidvoll nacherlebende Mensch? Er war es wohl auch damals. »Gegen Abend ging ich mit Demoiselle Delph,« so schließt die Schilderung, »nach der Plaine zu, erst an den Weinbergen hin, dann auf die große Chaussee herunter, bis dahin, wo man Rohrbach sehen kann …« Ein Abendspaziergang, und aus der Neckarniederung stiegen die Nebel. Der Äther schwamm in Gold. Da mag auch ihn, den von der Heimat Gelösten, weichere Erinnerung befallen, die neben ihm Schreitende mit mancherlei Gespräch versunkene Zeit heraufbeschworen, Sehnsucht nach Frau und Kind ihm das Herz umschattet haben.

Aber davon wissen wir nichts. Wir wissen nur, daß diese ganze Schweizer Reise nicht die Hoffnungen erfüllte, die Goethe auf sie gesetzt hatte und daß er sie vorzeitig abbrach. Er erhielt nicht Christianens, Christiane nicht seine Briefe. Das Band mit zuhause war zerrissen, und das ertrug er nicht. »Ich kann aber auch wohl sagen,« schreibt der Heimkehrende aus Tübingen am 30. Oktober nach Weimar an Christiane, »daß ich nur um Deinet- und des Kleinen willen zurückgehe. Ihr allein bedürft meiner, die übrige Welt kann mich entbehren.«

Die übrige Welt hätte diese Ansicht schwerlich geteilt. Nicht 1797, da auch schon genug vorging, was ihr Interesse hätte von Kunst und Literatur abziehen können, und nicht später, da sie ganz aus den Fugen ging. Oder da, wie eben dieser Goethe selbst die wilden Geschehnisse der Zeit von 1806 bis 1814 im Spiegel[134] weniger Verse auffing, Nord und West und Süd zersplitterten, Throne barsten, Reiche zitterten … denn über Zusammenbruch und Erhebung hinaus blickte sie in immer gleicher Ehrfurcht nach Weimar, wo in stiller Zurückgezogenheit ihr größter Dichter als »Statthalter der Poesie auf Erden« residierte.

Aber gerade in dieser stillen Zurückgezogenheit, die mancher Teilnahmlosigkeit schalt und die in Wahrheit doch, wie des »Epimenides Erwachen« bewies, leidenschaftliches Miterleben war, bereitete sich 1814 neue Wandlung vor. Östlicher Hauch war aus dem fernen Persien in die Stuben am Frauenplan gedrungen, der Mund, der solange Genüge daran gefunden, in klassischem Versmaß zu sprechen, versuchte sich in Hafisliedern, die von Wein und Liebe und duftenden Wundernächten erzählten; und gegen die erhabenen Schatten der Antike, die seit der italienischen Reise allein die Gefühls- und Geschmackswelt Goethes bevölkerten, rückte gleichzeitig die farbenfrohe Kunst des deutschen Mittelalters an … sie siegte nicht, nein, dazu hing der »Heide« Goethe in zu tiefer Liebe an den verlorenen Göttern jener untergegangenen Welt. Aber sie behauptete sich daneben, aufs neue stiegen aus der fernen Jugend die Türme des Straßburger Münsters auf, und der Torso des Kölner Domes ließ gotische Musik in die schwülen Bülbül-Melodien des nun entstehenden west-östlichen Diwans hineinklingen. West-östlich wahrhaft wurde das Klima, das Goethes Leben und Dichten in diesen Jahren lyrischer Wiedergeburt umduftete. Sie stehen unter dem Zeichen: Heidelberg und Marianne.

Denn wieder war es, wie schon früher oft Wendepunkt und Lebensstation, die Neckarstadt, die, selber ewig jung, Blut und Seele des Altgewordenen verjüngte, gelassen das »Stirb und Werde!« sprach, nach dem die »wiederholte Pubertät« Goethes verlangte.

Dort wohnten seit 1810, wo sie von Köln nach Heidelberg übergesiedelt waren, die Brüder Boisserée: Sulpiz und Melchior, die, beide fromme Katholiken und leidenschaftliche Liebhaber der alten deutschen und niederländischen Malerei, eine wundervolle Gemäldesammlung besaßen. Dieser toten Welt die Neigung Goethes zu gewinnen, der ihnen als Heros galt, in Goethe, dem gefeierten Dichter, einen Anwalt zu finden auch für ihre Bestrebungen, den verfallenden Dom der Vaterstadt neu aufzubauen[135] und zu vollenden, betrachteten sie als Lebensaufgabe. Und es gelang ihnen. Der erst und lange Ablehnende gab endlich nach, und als ihn Not des Leibes im Spätsommer 1814 zur Kur nach Wiesbaden führte, besuchte er die neuen Freunde in Heidelberg. Die wenigen Tage, die er dort vom 24. September bis zum 9. Oktober 1814 verlebt, wundervolle Herbsttage, die rotes Gold um Schloß und Stadt häuften, gewannen ihn ganz. Derweilen draußen die ersten Blätter müde von den Bäumen fielen, schenkten ihm die Bilder im Boisseréeschen Hause, unermüdlich betrachtet, wie er später in der »Reise am Rhein, Main und Neckar« gestanden, »eine neue, ewige Jugend«. Schönste Begleitmusik dieser erlebnisreichen Tage aber sind die Briefe an Christiane. Sie spiegeln in rührender Treue und Einfalt die starken Empfindungen des Fünfundsechzigjährigen, der kränkelnd, wenn auch geistesfrisch, dem Zureden seiner besorgten Frau folgend, Weimar am 25. Juli verlassen hatte und nun in Wiesbaden auffällig rasch gesundete. So gründlich gesundete, daß er auch die Vaterstadt, wo inzwischen der Tod reiche Ernte gehalten hatte und nun schon die zweite Generation den seltenen Gast feierte, mit ganz neuen Augen ansah, mit ganz[136] frischen Sinnen von neuem in ihrer vielfältigen Geselligkeit erlebte. Und wieder liebgewann.

Bis dann endlich ein Brief aus Heidelberg vom 28. September Christiane meldete: »Bei Boisserées fand ich das lieblichste Quartier, ein großes Zimmer neben der Gemäldesammlung. August (— denn August hatte ja von 1808 bis 1810 in Heidelberg studiert —) wird sich des Sickingischen Hauses erinnern auf dem großen Platze, dem Schloß gegenüber. Hinter welchem der Mond bald heraufkam und zu einem freundlichen Abendessen leuchtete.«

Und so weiter, Tag für Tag, Bilder beschauend, spazierengehend und auch Erinnerungen nicht ausweichend. Denn wenn er da der fernen Hausfrau erzählt, wie ihn an einem Oktobermorgen der schönste Sonnenschein früh aufs Schloß gelockt, wo er sich »in dem Labyrinth von Ruinen, Terrassen und Gartenanlagen ergötzte und die heiterste Gegend abermals zu bewundern Gelegenheit hatte«, so muß dem alten Herrn die Vergangenheit genaht sein, Vergangenheit »mit allen Rausch- und Tränengaben«, und aus den zerfließenden Herbstnebeln muß ihn, während rings die Kastanien fielen und herber Odem die alten Mauern umstrich, das Bild Lilis angelächelt haben …

Das Bild Lilis? Oder lächelte nicht vielleicht dem Verjüngten ein neues Frauenbild?

Wieder gibt ein Brief an Christiane Auskunft, am 8. August schon aus Wiesbaden abgesandt. Da heißt es, wenn auch wortkarg, unter anderem: »Schon vor einigen Tagen besuchte mich Willemer mit seiner kleinen Gefährtin.« Diese »kleine Gefährtin« nennt das Tagebuch vom 4. August. Es war »Dlle Jung«, Marianne mit Vornamen, ein Pflegetöchterchen des Geheimrats von Willemer aus Frankfurt, das jener bald darauf, der zweiten Witwerschaft müde, zu seiner Frau machte, und dieser Besuch in Wiesbaden war die erste Begegnung Goethes mit ihr.

O wunderliche Verknüpfung der Geschicke … Hatem hatte in Clemens Brentanos schwärmerisch gefeierter Biondetta seine Suleika gefunden.

Denn Goethe war Hatem geworden. Und blieb es treu, wenn auch nicht ganz so leidenschaftlich wie in jenen Tagen neu erwachender Liebe, sondern entsagungsvoll, bis zu seinem Lebensende.[137] Als er von Weimar am 25. Juli 1814 in jenem »Fahrhäuschen«, das er in seinem Gedicht »Der neue Kopernikus« so anschaulich beschreibt, nach Wiesbaden reiste, war das erste Wort, das er in Eisenach in das geliebte Tagebuch eintrug, »Hafis«. Dieser Hafis hat ihn nicht mehr verlassen, bis er selbst ihn verließ, als nämlich der West-östliche Diwan vollendet war und in einem köstlich illuminierten Sonderdruck an Marianne-Suleika abging.

Dieser Tag der Vollendung aber lag damals noch fern; ihn herbeizuführen, hatte ihm das Schicksal eben jene Marianne von Willemer über den Weg geschickt, führte es den ganz in jugendliche Bewegung und lyrische Ekstase Zurückversetzten erst noch einmal an die Stätte so oft erprobten Heils: nach Heidelberg.

Das war ein Jahr darauf zu genau der gleichen Zeit.

Als Goethe sich im Herbst 1814 von Willemers, die sommers in der Frankfurt nahen Gerbermühle unweit Oberrad am Main wohnten, verabschiedete, hatte er der anmutigen Frau des Freundes sein Stammbuch dagelassen. Sie schickte es ihm nach Weimar mit den berühmten Versen: »Zu den Kleinen zähl' ich mich« … Versen, die dann kühn gestehen:

»Als den Größten nennt man dich,
Als den Besten ehrt man dich,
Sieht man dich, muß man dich lieben …«

Diese Verse, im Tone noch halb schalkhaft, sind das erste Bekenntnis ihrer Neigung. Daß diese bald zu Liebe und mit Liebe beantwortet wurde, das klingt und singt der ganze Diwan, der nun in raschem Fluß entstand: die dreißigjährige Frau, die sich den vollen Liebreiz der Jugend bewahrt hatte, hatte das Herz des Dichters gewonnen.

So gab, als Goethe ein Jahr später — Christiane, die kränklich geworden war, weilte zur Kur in Karlsbad — sich zu einer neuen Rheinreise anschickte, Sehnsucht nach Marianne wundersam Geleit … nicht zehrende Sehnsucht, wie sie in früheren Jahren ihn gequält, nein, eine frohe, die gleicher Gefühle bei der Geliebten gewiß war.

Heidelberg. Der Schloßaltan.

Am 24. Mai schon verließ Goethe diesmal Weimar. Wiesbaden war wieder notgedrungen die Zwischenstation. Frankfurt[139] und Gerbermühle, wo er »freundlichst empfangen« wurde, schlossen sich Mitte August an. Und dann kam Heidelberg.

Wieder wohnte Goethe bei den Boisserées — die Delph war schon 1800 aus Heidelberg fortgezogen. Wieder blaute ein Herbst über Berg und Tal, wie ihn so schön nur Träume sehen: Rauschgold bestreute alle Wege, in den Gärten dufteten die späten Blumen, an den Spalieren reiften die Trauben, und die Mauern des alten Schlosses brannten in den Sonnestunden in verhaltener Glut. Köstlich war es, auf Altan und Terrasse zu wandeln, mittags auf schattenfreier Bank zu rasten oder nachts, wenn der Mond die nahen Zinnen, die Giebel der schlafenden Stadt, die Neckarniederung mit blassem Silberlicht beträufelte, ins Land zu sehen … köstlich vor allem, weil Marianne, Gefährtin und Geliebte, bald diese Stunden teilte, sie adelte, ihnen Duft und sinnlichen Zauber gab.

Schon Frankfurt hatte den Zwiegesang von Hatem und Suleika begonnen, — das Buch »Suleika« im Diwan tönt ihn wider, anhebend mit den Worten: »Nicht Gelegenheit macht Diebe …« Es ist das erste der Wechsellieder, niedergeschrieben, als Goethe am 12. September in Willemers Stadthaus »Zum roten Männchen« weilte. Heidelberg, wo Marianne mit Mann und Stieftochter am 23. September eintraf, sehnsüchtig erwartet, wie sie selbst sehnsüchtig nach Goethe verlangte, steigert nun Frage und Antwort der Liebenden zu betörender Süßigkeit. Auch die Frau wird zur Dichterin, deren Verse Goethe durch Aufnahme in den Diwan als den seinen ebenbürtig erachtet … Lieder wie das sehnsuchtsvolle »An den Ostwind« oder das ganz vom Schmerz des Abschieds verklärte »Ach, um deine feuchten Schwingen …«

Das Tagebuch des Dichters, sonst so einsilbig und sachlich, schwärmt, wiederholt immer wieder: »Herrlicher Morgen … Herrlichster Morgen … Vollkommenster Tag.« Noch mehr verraten die Gedichte, die Tag für Tag entstehen, wie Tag für Tag — es waren ja nur wenige, denn der 26. September schon brachte die »Abreise der Freunde« — die Kleinigkeiten, die nur Liebenden gemein und offenbar, dazu Anlaß geben … ob sie im Vollmond nun zusammen an der Altanbrüstung des Schlosses lehnten und sich gelobten, in der nächsten Vollmondnacht einander im Geiste nah zu sein; ob Goethe-Hatem »an des[140] luft'gen Brunnens Rand« die Chiffre Suleikas in morgenländischen Lettern in den Sand zeichnete; ob sie im Schloßgarten den geheimnisvollen Gingo-Biloba-Baum wiederfanden, denselben Baum, von dem Goethe ein Blatt als Sinnbild der Freundschaft nach der Gerbermühle geschickt hatte; oder ob sie traumversunken lauschten, wie von denselben Bäumen ringsum die reifen Früchte auf den Boden klopften: alles wurde zum Lied.

»Du beschämst wie Morgenröthe«, preist der Dichter die geliebte Frau, »jener Gipfel ernste Wand, und noch einmal fühlet Goethe Frühlingshauch und Sonnenbrand.«

Und sie antwortet, selig hingegeben:

»Nimmer will ich dich verlieren!
Liebe gibt der Liebe Kraft.
Magst du meine Jugend zieren
Mit gewalt'ger Leidenschaft.
Ach! wie schmeichelt's meinem Triebe,
Wenn man meinen Dichter preist:
Denn das Leben ist die Liebe,
Und des Lebens Leben Geist.«

VAN EYCK. MARIA IN DER KIRCHE

Aber jedem Traum folgt ein Erwachen. Auch dieser Herbsttraum, dem eine gütige Sonne so wundervollen »Frühlingshauch« gegeben, verflog. Wind lief über die Chiffre Suleikas im Sande und verwischte sie; Wind nahm dem Gingo-Biloba die Blätter; Wind trieb Wolken über den Mond, der dem Liebesflüstern von Hatem und Suleika geleuchtet. Wind verwehte auch den Kuß, den Goethe bei der letzten Zusammenkunft der jungen Frau auf Stirn und Mund gehaucht. Beide haben sich nie wieder gesehen. Der Traum war aus. Nur Briefe trugen noch in unschuldiger Geheimschrift verdeckte Schmeichellaute hin und her zwischen Weimar und Frankfurt … viele, viele Briefe, erst Goethes Tod im Jahre 1832 ließ sie aufhören. Oft klingt der Name Heidelberg in ihnen auf. Denn immer, führten Reisen[141] Marianne dorthin, meldete sie dem fernen Freunde es, beglückt noch durch die Erinnerung, die sie mit Schloß und Stadt verband, eine »andächtige Pilgerin«, die, wie sie 1831 an Goethe schreibt, die durch Freud und Leid geweihten Orte alle besucht und ein Blatt von der bekannten Gingo-Biloba zu sich gesteckt hat. Diese Briefe heiligen die Liebe Goethes zu Marianne, eine Liebe, die entsagte, ohne je genossen zu haben, in alle Ewigkeit.

»Blieb zu Hause,« heißt es in Goethes Tagebuch am 26. September 1815. Und dahinter steht: »van Eyk«. Die Bilder der Freunde boten also ersten Trost. Hielt er vor? Nicht recht. Andere Zerstreuung brachten die Ankunft Carl Augusts, ein Ausflug mit diesem nach Mannheim, eine kurze Reise mit Sulpiz Boisserée nach Karlsruhe. Aber schon am 6. Oktober erzählt dieser besorgt von Goethe: »Er ist sehr angegriffen, hat nicht gut geschlafen, muß flüchten.« Es ist der 6. Oktober, an dem Goethe den aufklärenden Abschiedsbrief an Willemer geschrieben: »… und ich eile über Würzburg nach Hause, ganz allein dadurch beruhigt, daß ich, ohne Willkür und Widerstreben, den vorgezeichneten Weg wandle und um desto reiner meine Sehnsucht nach denen richten kann, die ich verlasse.«

Schwere Trauer umschattet die ganzen Aufzeichnungen des Freundes aus diesen Tagen: der »Alte«, wie Boisserée sagt, war völlig aus dem Gleichgewicht gebracht, quälte sich und andere mit Todesahnungen, wollte sein Testament machen. Auch litt er unter Erinnerungen, die ihn bedrängten: die Bilder Lilis und Minchen Herzliebs traten klagend und anklagend trübe aus der Vergessenheit hervor.

Als erste Stürme Kälte brachten, verließ er, von Sulpiz sorgsam begleitet, Heidelberg. Am 7. Oktober. Auch Heidelberg hat er nie wieder gesehen. Aber es lebte in ihm. Die vielfachen Aufzeichnungen des Greises bezeugen es. Und die Strophen, die der Einsame 1828 in Dornburg, wohin er sich nach des fürstlichen Freundes Tod geflüchtet hatte, »dem aufgehenden Vollmond« gewidmet hat, sie bauen zwar Saale-Landschaft auf, aber sie muten ganz an wie ein sanfter Nachklang der Heidelberger Zeit, da eine »überselige« Nacht ihn nicht alleine sah, das »Liebchen« Marianne noch nicht fern war.

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