Das »Mährchen« von Pyrmont

»Goethe ist zu Pyrmont und nur mit Wiedererlangung seiner Gesundheit beschäftigt …«

Schiller

Der Reisewagen, der am 5. Juni 1801 in aller Herrgottsfrühe vor dem Haus am Frauenplan Posto faßt, wartet auf einen Kranken. Denn noch immer fühlt Goethe, der an diesem Morgen mit dem elfjährigen August zusammen nach Pyrmont reist, sich von der schweren Krankheit nicht genesen, die den schon lange Leidenden zu Beginn des Jahres 1801 fast dahingerafft. Wohl war es der Pflege Christianens, seiner »lieben Kleinen«, wie er am 1. Februar der Mutter rühmte, gelungen, ihn am Leben zu erhalten; wohl befand er sich nach dieser »schrecklichen Krise der Natur«, wie es in einem Briefe an die Weimarer Freundin Elisa Gore heißt, wieder ganz leidlich; aber den Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte hatte er trotz aller Ruhe, trotz eines sechswöchigen Landaufenthalts auf Ober-Roßla nicht wiedererlangt, und erst Pyrmont soll ihm nun gründliche Erholung bringen.

Pyrmont erfreute sich schon damals alten Rufes, vielleicht größeren als jetzt, wo so viel andere Bäder mit dem stillen, ganz in Lindengrün gebetteten Idyll an der Emmer wetteifern. Goethe selbst kannte es auch nur vom Hörensagen. Charlotte von Stein, allein und auch mit Mann und Kindern dort oft zur Kur, mag ihm viel von diesem ihren Zufluchtsort erzählt, mag ihm die Heilkraft des »Hylligen Borns« gerühmt haben … die Briefe, die sie von Pyrmont aus an Goethe geschrieben, Antworten auf das sehnsuchtsbange Liebesstammeln, das ihr aus Weimar und Ilmenau nachtönte, sind ja leider verloren, vernichtet wie alle ihre anderen an Goethe; aber Spiegelung der Tage, die Charlotte in Pyrmont verlebt, findet, wer zwischen Zeilen zu lesen versteht, in den von Liebe, Sehnsucht und wirrer Klage erfüllten Ergüssen des Dichters, die dieser der Fernen,[59] Kuß und Schmeichelwort so weit Entrückten nachgesandt. Und an den langen Herbst- und Winterabenden in Weimar mag im Beieinandersein bei stiller Kerze Erzählung manches nachgeholt und wieder heraufbeschworen haben, was dem Briefe anzuvertrauen Tinte und Papier erschwert hatten.

So hat Goethe das Bad am Teutoburger Wald, als Liebender für die Worte der Geliebten doppelt empfänglich, vielleicht besser gekannt als viele, die dort stumpfer Sinne, nur ihrem leiblichen Wohl und Wehe hingegeben, wochenlang die Kur gebraucht haben; was die Augen nicht in Wirklichkeit gesehen, erlebte die beschwingte Seele des Dichters doppelt intensiv, gewann holde Verklärung, weil die, die es ihm schilderte, seinem Herzen nahestand.

So ist wohl auch zu erklären, daß der Genuß des Pyrmonter Wassers — neben dem »Selzer« wie Christiane das Selterser nennt — in Goethes Hause gang und gäbe, lange bevor der Dichter es am Ursprungsorte selbst getrunken: die wohltätige Wirkung, die es auf Frau von Stein und ihren Mann ausübte, gewann dem Pyrmonter auch die Neigung Goethes, führte es in Weimar überhaupt ein. Trank doch die ganze Hofgesellschaft, der früh schon von Gicht und Rheumatismus geplagte Herzog an der Spitze, Pyrmonter! Und bei Goethes am Frauenplan durfte es gar nie ausgehen. Immer wieder stößt man in den Briefen Goethes, die er, weilte er in Jena, an Christiane schrieb, auf die Bitte, ihm ein paar Flaschen Pyrmonter mit der Botenfrau zu schicken; und Christiane beeilte sich dann stets sehr, diesen Wunsch zu erfüllen, weil sie wußte, wie gut dem Gatten — denn Gatten waren sie, auch wenn die Trauung, die sie vor der Welt dazu machte, erst 1806 erfolgte, schon von dem Tage an, wo Goethe mit ihr das große Haus am Frauenplan bezog — das Wasser tat, das »bernoder« wie sie es in dem oft kaum zu entziffernden Kauderwelsch ihrer einfältig-innigen Briefe genannt hat.

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Nun aber fügte es das Schicksal, daß Goethe, mit seinen Ärzten der Wunderkraft der Pyrmonter Quellen vertrauend, die aus »Bouteillen« ihm nicht frisch und stark genug entgegensprudelte, sich auf die Reise machte, um diese Wunderkraft an Ort und Stelle zu erproben.

Es ist ein frischer Morgen, da er diese Reise antritt, munter und lebenskräftig, wie er sich lange nicht gefühlt. Vergessen der bange Winter, da schon der Tod zu Häupten seines Bettes gestanden, vergessen auch der Ärger in Ober-Roßla, wo er »mit der rohen Natur und über das ekelhafte Mein und Dein« mit dem Pachter im Streite gelegen: wieder einmal sieht er, reisefertig, unbekannte Welt vor sich liegen, von neuem regt Phantasie die Schwingen, die in Alltagssorgen und Alltagsgezänk fast zu erlahmen gedroht hatten. Abenteuer lockt. August, den jungen Reisekameraden, an der einen Hand, den andern Arm Christiane, dem getreuen Hausgeist, um den Hals gelegt, tritt er aus der Tür, — ungebeugt die massige Gestalt, doch im Gesicht um Mund und Augen den Zug des Leidens, den zehn schwere Januartage da eingegraben.

Noch schläft Weimar. Nur der Brunnen rauscht, First und Fenster der Kleinbürgerhäuser gegenüber glühen in erster Sonne. Irgendwoher kommt Lindenduft. So kann Goethe sich ungestört durch neugierige Blicke von seiner Frau verabschieden, die ihm und dem Kinde, ein wenig traurig, Geleit gibt: bleibt sie nun doch wieder auf Wochen allein in dem weitläufigen Hause zurück, dessen erlauchte Welt nicht die ihre, fremd am eigenen Herd; verläßt sie doch diesmal nicht nur der Mann, der ihr Leben und Dasein bedeutet, sondern auch, zum erstenmal auf längere Zeit, das Kind, das sie ihm geboren!

Jedoch die Pferde scharren ungeduldig, der Kutscher knallt mit der Peitsche. Ein letztes Wort, ein letztes Streicheln, halb väterlich, wie jede Liebkosung, die Goethe Christianen schenkte, ein letztes Winken — und dann holpert die zweispännige Chaise, hochbepackt, die Frauentorstraße hinauf und verschwindet.

Abfahrt nach Pyrmont am 5. Juni 1801
Der Reisewagen Goethe's vor dem Hause am Frauenplan

Da schließt die einsame Frau die Haustür. Drinnen im kühlen, dämmerigen Flur lehnt sie ein Weilchen, die Hand vor den Augen, an dem Geländer der feierlichen Treppe, die noch den Klang von Goethes schweren Schritten zu halten scheint …[62] ein Weilchen nur. Dann rafft sie sich auf und geht. Aber nicht die Treppe hinauf. Die führt in jene Welt, die nicht ihr gehört. Sie geht durch ein Seitentürchen zur Küche: da lag ihr Reich.

Drei sind's, die in Goethes Wagen sitzen, Vater, Sohn und Geist — denn Goethes Schreiber, den er mitgenommen, hieß ulkigerweise Geist und vervollständigte so auch dem Namen nach die äußere Dreieinigkeit der Reise aufs beste. Geist berichtet denn auch der »werthesten Demoiselle« Vulpius von Göttingen aus, wo Station gemacht wurde, über den bisherigen Verlauf der Fahrt; der »Herr Geheimde Rat« fügt diesem Bericht nur ein paar Worte an, in denen allerdings trotz der Kürze die ganze Zärtlichkeit des Abschieds von »Mütterchen« zittert, — wie Goethe überhaupt auf Reisen in ein paar kurze Worte mehr Zärtlichkeit hineinzulegen weiß, als andere durch einen überschwenglichen Brief auszudrücken vermögen.

Weitere Nachrichten aus Göttingen, wahrscheinlich auch die ersten aus Pyrmont, wo die Reisenden am Nachmittag des 13. Juni eintrafen, sind nicht erhalten. Christiane hat sich in Weimar sehr gegrämt, denn der Geistsche Brief aus Göttingen erreichte sie erst am 25. Juni: drei volle Wochen war sie also ohne jede Nachricht, und wenn sie am 23. Juni nach Pyrmont schreibt: »Ich hoffe recht sehnlich auf einen Brief von Dir, um zu hören, daß Du Dich mit dem guten Kinde wohlbefindest. Ich bin ganz wohl, aber so ganz ohne das zu sein, was man herzlich liebt, will mir gar nicht behagen, und bei aller Zerstreuung, die ich mir mache, ist doch immer, als wenn mir das Beste fehlte,« so hört man deutlich aus den kargen Worten die bange Sorge heraus, die ihr Frauen- und Mutterherz erfüllte.

Goethe mag gerade auf dieser Reise mancherlei durch den Kopf gegangen sein. Reisen regt immer zum Nachdenken an; dann aber ist der Mensch, der harte Krankheit überstanden und mit knapper Mühe dem Tode entgangen ist, doppelt leicht geneigt, empfindsame Rückschau zu halten. Und daß es gerade nach Pyrmont ging, muß dem Fünfzigjährigen Erinnerung an abgelebte Zeit ergreifend haben wiederkehren lassen. Während Berge und Täler, Dörfer und Städte an den Reisenden vorüberglitten, von August, dem »Bübchen«, mit dem hellen Jauchzen des Kindes,[63] von Geist mit subalternem Gleichmut begrüßt, weilte der Blick der dunklen Dichteraugen bei Vergangenem. Die erste Trennung von Frau von Stein, 1776, im ersten Weimarer Glückssommer. Damals mag zum ersten Male der Name Pyrmont, wohin die Geliebte sich zur Kur begeben, ein Name, der bis dahin für Goethe wahrscheinlich Schall und Rauch gewesen, Bedeutung gewonnen haben … damals! Wie lange war das her! Verse klangen aus der Vergessenheit herauf, die er in jenen Tagen wirren Liebestaumels einmal mit einem Brunnenglas an Charlotte nach Pyrmont geschickt:

»Laß dir gefallen
Aus diesem Glas zu trincken
Und mög dir düncken
Wir säßen neben dir
Denn obgleich fern sind wir
Dir doch die nächsten fast von allen.«

Und andere, tiefer empfundene, tönten sanft dazwischen, die sein damaliges Leben im Garten am Stern spiegeln:

»Und ich geh meinen alten Gang
Meine liebe Wiese lang.
Tauche mich in die Sonne früh
Bad ab im Monde des Tages Müh,
Leb in Liebes Klarheit und Krafft,
Thut mir wohl des Herren Nachbarschafft,
Der in Liebes Dumpfheit und Krafft hin lebt —
Und sich durch seltnes Wesen webt.«

Vorbei! Vorbei wie die Tage von Ilmenau, deren erste Erschütterungen er der fernen Frau in Pyrmont in Briefen gebeichtet, die heiße Glut in alle Ewigkeit atmen; vorbei wie der Sommer 1777, in Sehnsucht fast verzweifelnd, von Weimar nach Kochberg, Charlottens Schloß, flüchtete, um der wieder in Pyrmont Weilenden wenigstens in ihren Zimmern und Möbeln nahe zu sein, sich wenigstens an ihrem Dunstkreis satt zu weiden … bis er am 29. Juli in das getreue Tagebuch den Erlösungsseufzer eintragen konnte: »Abends die Stein zurück von Pyrmont unerwartet.«

Und so gingen die Jahre. Liebe, so heiß sie auch einst geglüht, erkaltete, Treue, für die Erdenzeit geschworen, starb. Die Flucht nach Italien, das Verhältnis mit Christiane, Frucht[64] der Entfremdung zwischen Charlotte und ihm, brachten den Bruch. Keine Liebesbriefe mehr flatterten nach Pyrmont, wenn Frau von Stein dort zur Kur war; dafür stand, einzige Erinnerung an dies Pyrmont, auf seinem Tisch in Weimar und in Jena Mittag für Mittag die Flasche Pyrmonter, dem überreizten, übersättigten Körper Linderung bringend und allgemach trotz Etikett und Namen doch kaum mehr an verschwundene Zeiten und ihr Glück mahnend; dafür rieten die Ärzten, als die körperlichen Beschwerden sich häuften, diese an der heilkräftigen Quellen Ursprung selbst abzubaden und abzutrinken.

Folgte er dem Rat? Wie hatte er doch erst vor wenigen Wochen an die Mutter in Frankfurt geschrieben? »Hätte ich im vorigen Jahre ein Bad gebraucht, wie ich in früheren Zeiten getan, so wäre ich vielleicht leidlicher davon gekommen; doch da ich nichts eigentliches zu klagen hatte, so wußten auch die geschicktesten Ärzte nicht, was sie mir eigentlich raten sollten, und ich ließ mich von einer Reise nach Pyrmont, zu der man mich bewegen wollte, durch Bequemlichkeit, Geschäfte und Ökonomie abhalten, und so blieb denn die Entscheidung einer Krise dem Zufall überlassen.«

Ja, Bequemlichkeit, Geschäfte und Ökonomie … diese drei Worte deuten tatsächlich das Leben, das Goethe, der sonst rastlos tätige, seit geraumer Zeit geführt hatte. Die Arbeit an Voltaires »Tancred«, die ihn Weihnachten 1800 zum großen Kummer der Seinen in Jena gehalten, war jäh von der Krankheit abgelöst worden, und als diese überstanden, wagte sich der geschwächte Geist an keine andere: die »Farbenlehre« war das einzige, um das sein müdes Denken kreiste, und alles in allem nahm die Stagnation, an der Goethes dichterische Produktion nun schon seit Jahr und Tag krankte, beängstigende Formen an. Der Aufschwung, die Anregung fehlten! Die Freunde, allen voran Schiller, der gerade in voller dichterischer Ekstase an der »Jungfrau« arbeitete, waren denn auch besorgt genug; schrieb doch dieser in jenen Tagen an Cotta: »Goethe ist zu Pyrmont und nur mit Wiedererlangung seiner Gesundheit beschäftigt … Er ist seit langem ganz unproduktiv und es ist nur zu wünschen, daß er nicht ganz alle seine poetische Tätigkeit verlieren möge.«

Sorgen, die Goethe selbst während der Reise gequält, seine Seele umschattet haben mögen! Dafür aber winkte in Göttingen der lange entbehrte Verkehr mit den Gelehrten der dortigen[65] Universität, ihm für die Arbeit an der »Farbenlehre« diesmal besonders wichtig; dafür versprach Pyrmont Kräftigung Leibes und Geistes und damit neuen Aufschwung. Zukunft lächelte. Und so mag der ernste Mann wohl, kamen Vergangenheit und Sorge ihm allzu nahe, derweil der Reisewagen schwerfällig durch die sommerliche Landschaft Thüringens und des Eichsfelds rollte, zukunftsfreudig die Schatten mit einer kräftigen Handbewegung verscheucht, mag im kindlichen Lachen und Plaudern des Sohnes Erquickung und Zerstreuung gefunden haben. Die kurze Meldung an Christiane aus Göttingen, daß die Promenade ihnen, Vater und Sohn, viel Vergnügen gemacht, war sicherlich nicht nur pure Wahrheit, sondern läßt auch günstige Rückschlüsse auf die ganze Reise zu.

Am 13. Juni trifft man also endlich in Pyrmont ein. Es ist Nachmittag, und der stille Ort mit seinen Straßen und schönen Alleen liegt anmutig im Widerspiel von Abendsonne und grünem Schatten. Verstaubt und reisemüde klettern »Vater, Sohn und Geist« vor einem alten, schlichten Hause der Bassinstraße aus dem Wagen und atmen mit Behagen die reine, kräftige Luft ein.

Wie Pyrmont damals ausgesehen?

Nun, etwas anders als heute. Ein Jahrhundert ist lange Zeit und bringt der Veränderungen viele, und seit Goethe dort gewesen ist, ist sogar mehr als ein Jahrhundert vergangen. Aber vieles ist auch erhalten geblieben: nicht nur eine Fülle der[66] bescheidenen alten Häuser mit Satteldach und grünen Fensterläden, auch das ganz in Wipfelgrün getauchte Schloß, das Theater, das alte Badehotel, der Tempel in den Anlagen lassen jetzt noch dem, der richtig zu sehen weiß, die Vergangenheit erstehen, sind Kulissen einer Welt, um die der Zauber alles Gewesenen schwebt. Das große Kurhaus und mancherlei anderes, das erst die Kultur unserer Tage geschaffen, muß man sich natürlich fortdenken. Aber kommt, nach heißen Sommertag vielleicht, die Dämmerung mit ihren Schatten und erstirbt das Leben, das tagsüber Straßen und Alleen durchpulst, dann kann man sich wohl in jene Zeit zurückträumen, da hier Karl Philipp Moritz, der Verfasser des »Anton Reiser«, seine seltsame und harte Jugend verlebt, die Frau Oberstallmeister von Stein aus Weimar blaß und lieblich Sommer für Sommer zum Brodelbrunnen schritt, Schopenhauers, die Eltern des damals noch nicht geborenen großen Philosophen, mit Justus Möser und Lessings Berliner Freund Nicolai an der Quelle literarische Dispute führten, Goethe, den kleinen August an der Hand, in dieser oder jener Allee seinen fürstlichen Freund Carl August zum Morgenspaziergang erwartete …

Es hieße lügen, wollte man behaupten, daß Goethe sich in Pyrmont nun glücklich gefühlt, lügen auch, daß ihm die Kur die erhoffte Erholung gebracht hätte. Nie hat Pyrmont in Goethes Leben die Rolle gespielt wie »das Karlsbad« oder Teplitz …[67] ist er doch auch nie wieder nach Pyrmont zurückgekehrt, während die böhmischen Bäder in der Folge alljährliches Reiseziel wurden. »Die Cur,« schreibt er am 26. Juni an Christiane, »wird mir hoffentlich gut bekommen; ob sie mir gleich beim Gebrauch unbequem ist, indem sie mir den Kopf einnimmt und mich nicht das Mindeste arbeiten läßt.« In einem anderen Briefe an Christiane heißt es, unbewußt doppelsinnig: »Es geht mir und dem Kinde noch immer recht gut, nur bleibe ich bei der Cur zu aller Art von Arbeit untüchtig, welches mir denn doch ein wenig lästig ist.« Und er klagt, daß der Brunnen ihn »gewaltig angriffe«.

Der letzte Brief aus Pyrmont, rührend vor allem in der Sehnsucht nach Christiane und Weimar, meldet dann, daß er sich leidlich befunden hätte und von der Kur noch gute Folgen erhoffte: »Das Beste dabei war die Bewegung und Zerstreuung.« Das schreibt er am 12. Juli, also volle vier Wochen nachdem er in Pyrmont eingetroffen war. Ähnlich skeptisch lauten Nachrichten an Schiller und den Weimarer Hausgenossen vom Frauenplan, Heinrich Meyer. Schiller schreibt er am 11. Juni noch, also von Göttingen aus, daß er sich lange nicht so wohl und heiter befunden habe wie dort; aber am 12. Juli klagt er aus Pyrmont auch ihm, daß ihn die Kur zu aller Arbeit untüchtig gemacht und er »hier wenig Zufriedenheit genossen« habe; er fügt allerdings hinzu, daß er doch manches guten und interessanten Gesprächs nicht vergessen dürfe, und — dies rätselhaft andeutend — daß er »die Totalität des Pyrmonter Zustandes« so ziemlich vor sich habe.

Das Fazit dieses Pyrmonter Zustandes zieht dann der höchst aufschlußreiche Brief an Meyer vom 31. Juli aus Göttingen, in dem es heißt: »… von mir kann ich wenigstens gegenwärtig sagen, daß es mir recht leidlich geht, es sey nun, daß die Bibliothek und das akademische Wesen, indem sie mich wieder in eine zweckmäßige Tätigkeit nach meiner Art versetzten, mir zur besten Cur gediehen oder daß, wie die Ärzte sagen, die Wirkung des Brunnens erst eine Zeit lang hinterdrein kommt; denn ich kann wohl sagen, daß ich mich in meinem Leben nicht leicht mißmutiger gefühlt habe als die letzte Zeit in Pyrmont.«

Viel hat zu der offenbaren Mißstimmung, unter der Goethe, zumal in der letzten Zeit, in Pyrmont gelitten hat, das schlechte[68] Wetter beigetragen. So klagt er Christiane in einem Briefe vom 12. Juli: »Das Wetter zerstörte alles, Cur und Spazierengehen und Geselligkeit; heute stürmts und regnets. Ich habe einheizen lassen.« Das ist ja auch ärgerlich. Daß der immer noch Kränkliche ferner unter der Kur zunächst gelitten hat, ist nur natürlich: jede Kur strengt an, und vielleicht hat Goethe in dem Bestreben, möglichst rasch Erholung zu finden, des Guten auch etwas zuviel getan. Daß bald Arbeitslust an sich einsetzte, ist doch ein Zeichen der Kräftigung, wenn auch der Körper sich noch nicht so kommandieren ließ, wie der Geist es wollte. Und die Ärzte, die ihm volle Wirkung der Pyrmonter Kur erst für später voraussagten, haben recht behalten: Goethe ist schließlich doch frisch und gekräftigt nach Weimar zurückgekehrt.

Erst später hat er auch erkannt, daß ihm Pyrmont in geistiger Beziehung viel gegeben, nicht allein, wie es in jenem Briefe an Schiller noch zurückhaltend genug heißt, manches gute und interessante Gespräch, nein, Pyrmont mit seinen vielen Erinnerungen an alte und älteste Zeiten hat auch seiner Phantasie neue Nahrung zugeführt, hat ihm zum ersten Male wieder seit langen Jahren den Plan zu einer großen dichterischen Arbeit geschenkt. Das ist jene romanähnliche Erzählung aus der mittelalterlichen Geschichte Pyrmonts, das »Mährchen« einer Ritterpilgerfahrt zum Hylligen Born aus dem Jahre 1582, dessen endliche Gestaltung einem damals viel gelesenen Buche, den »Amusements des eaux de Spaa« eines Herrn von Pöllnitz, ähnlich werden sollte. Wohlgemerkt: sollte. Denn es ist nie in Angriff, geschweige denn in Arbeit genommen worden, und wenn die unausgeführt gebliebene Dichtung Goethes auch, wie Gräf in seinem Werk »Goethe über seine Dichtungen« richtig dazu bemerkt, in ihrem Entwurf für uns nicht entfernt die Wichtigkeit hat wie des Dichters Berichte über so manchen anderen liegengebliebenen Plan, so verdient sie doch größere Beachtung, als ihr bisher geworden.

Neben den Klagen über die Kur und das schlechte Wetter erzählen Goethes Briefe aus Pyrmont aber auch manches Heitere und Lustige. Goethe war Mensch und als solcher Stimmungen unterworfen: der idyllischen Anmut Pyrmonts, dem Zauber seiner Umgebung konnte er sich letzten Endes so wenig[69] entziehen wie jeder andere. Dazu kam, neben anderer, durchaus nicht unangenehmer Gesellschaft, die er dort gefunden hatte, das unausgesetzte Beisammensein mit dem kleinen August, das dem Vater viele frohe Stunden bescherte. »August ist sehr glücklich,« meldet Goethe einmal der Mutter in Weimar, »gestern waren wir auf einem Hügel 5/4 Stunden von hier, wo Versteinerungen und Krystallisationen angetroffen werden, deren Suchen und Auffinden das größte Fest war.« Und im selben Briefe heißt es: »Die Lage um Pyrmont ist sehr angenehm, und in der Nähe gibt es allerlei Merkwürdigkeiten, Mineralien, Ruinen, und was dergleichen sein mag.«

Und was dergleichen sein mag! Hier ist einzuhaken. Denn diese an sich nichtssagenden Worte, niedergeschrieben am 26. Juni, beziehen sich vielleicht auf den größten Fund, den Goethe, dank den mit seinem Söhnchen gemachten Ausflügen entdeckerfreudig gestimmt, in Pyrmont gemacht hat — sei es, daß er durch das Aufstöbern alter Baulichkeiten zu geschichtlichen Lektüre über Pyrmonts Vergangenheit verführt wurde, sei es, daß ihn erst eine solche Lektüre dazu trieb, Gegenständliches in der näheren und weiteren Umgebung zu suchen … denn fast gleichzeitig meldet sein Tagebuch, auch hier wie überall und immer gewissenhaft geführt, am 30. Juni: »… die Erinnerung an alle merkwürdige Vorfälle, die sich denn doch wohl mögen in der Nachbarschaft ereignet haben, erregt ein ganz eignes Interesse.«

Diese Worte: »ein ganz eignes Interesse« bedeuten bei einem so zurückhaltenden Menschen wie Goethe viel, und nimmt man sich die »Annalen« des alten Goethe vor, so findet man da erstens einmal die ganze Reise nach Pyrmont genau beschrieben, in dieser Beschreibung dann aber auch das, was damals in Pyrmont ein so hohes Interesse bei ihm erregt hat: nämlich jene wundersame und geheimnisvolle Massen-Pilgerfahrt zu den Quellen Pyrmonts aus dem Jahre 1582. Schönste Ergänzung dazu: der Aufsatz »Aufenthalt in Pyrmont. 1801« in den »Biographischen Einzelheiten«, der, wahrscheinlich 1825 niedergeschrieben, erst 1837 aus dem Nachlaß bekannt wurde.

In den »Annalen« heißt es:

»In Pyrmont bezog ich eine schöne, ruhig gegen das Ende des Orts liegende Wohnung bei dem Brunnenkassirer, und es[70] konnte mir nichts glücklicher begegnen, als daß Griesbachs ebendaselbst eingemiethet hatten und bald nach mir ankamen. Stille Nachbarn, geprüfte Freunde, so unterrichtete als wohlwollende Personen trugen zur ergetzlichen Unterhaltung das Vorzüglichste bei. Prediger Schütz aus Bückeburg, Jenen als Bruder und Schwager und mir als Gleichniß seiner längst bekannten Geschwister höchst willkommen, mochte sich gern von Allem, was man werth und würdig halten mag, gleichfalls unterhalten.

Hofrath Richter von Göttingen, in Begleitung des augenkranken Fürsten Sanguszko, zeigte sich immer in den liebenswürdigsten Eigenheiten, heiter auf trockene Weise, neckisch und neckend, bald ironisch und paradox, bald gründlich und offen.

Mit solchen Personen fand ich mich gleich anfangs zusammen; ich wüßte nicht, daß ich eine Badezeit in besserer Gesellschaft gelebt hätte, besonders da eine mehrjährige Bekanntschaft ein wechselseitig duldendes Vertrauen eingeleitet hatte.

Auch lernte ich kennen Frau von Weinheim, ehemalige Generalin von Bauer, Madame Scholin und Raleff, Verwandte von Madame Sander in Berlin. Anmuthige und liebenswürdige Freundinnen machten diesen Zirkel höchst wünschenswerth.

Leider war ein stürmisch-regnerisches Wetter einer öftern Zusammenkunft im Freien hinderlich; ich widmete mich zu Hause der Übersetzung des Theophrast und einer weitern Ausbildung der sich immermehr bereichernden Farbenlehre.

Die merkwürdige Dunsthöhle in der Nähe des Ortes, wo das Stickgas, welches mit Wasser verbunden so kräftig heilsam auf den menschlichen Körper wirkt, für sich unsichtbar eine tödtliche Atmosphäre bildet, veranlaßte manche Versuche, die zur Unterhaltung dienten. Nach ernstlicher Prüfung des Lokals und des Niveaus jener Luftschicht konnte ich die auffallenden und erfreulichen Experimente mit sicherer Kühnheit anstellen. Die auf dem unsichtbaren Elemente lustig tanzenden[71] Seifenblasen, das plötzliche Verlöschen eines flackernden Strohwisches, das augenblickliche Wiederentzünden, und was dergleichen sonst noch war, bereitete staunendes Ergetzen solchen Personen, die das Phänomen noch gar nicht kannten, und Bewunderung, wenn sie es noch nicht im Großen und Freien ausgeführt gesehen hatten. Und als ich nun gar dieses geheimnisvolle Agens in Pyrmonter Flaschen gefüllt mit nach Hause trug und in jedem anscheinend leeren Trinkglas das Wunder des auslöschenden Wachsstocks wiederholte, war die Gesellschaft völlig zufrieden und der unglaubige Brunnenmeister so zur Ueberzeugung gelangt, daß er sich bereit zeigte, mir einige dergleichen wasserleere Flaschen den übrigen gefüllten mit beizupacken, deren Inhalt sich auch in Weimar noch völlig wirksam offenbarte.

Der Fußpfad nach Lügde zwischen abgeschränkten Weideplätzchen her ward öfters zurückgelegt. In dem Oertchen, das einigemal abgebrannt war, erregte eine desperate Hausinschrift unsere Aufmerksamkeit, sie lautet:

Gott segne das Haus!
Zweimal rannt' ich heraus,
Denn zweimal ist's abgebrannt;
Komm' ich zum dritten Mal gerannt,
Da segne Gott meinen Lauf,
Ich bau's wahrlich nicht wieder auf.

Das Franziskaner-Kloster ward besucht und einige dargebotene Milch genossen. Eine uralte Kirche außerhalb des Ortes gab den ersten unschuldigen Begriff eines solchen früheren Gotteshauses mit Schiff und Kreuzgängen unter einem Dach bei völlig glattem unverziertem Vordergiebel. Man schrieb sie den Zeiten Karls des Großen zu; auf alle Fälle ist sie für uralt zu achten, es sei nun der Zeit nach, oder daß sie die uranfänglichen Bedürfnisse jener Gegend ausspricht.

Mich und besonders meinen Sohn überraschte höchst angenehm das Anerbieten des Rektors Werner, uns auf den sogenannten Krystallberg hinter Lügde zu führen, wo man bei hellem Sonnenschein die Aecker von tausend und aber tausend kleinen Bergkrystallen widerschimmern sieht. Sie haben ihren Ursprung in kleinen Höhlen eines Mergelsteins und sind auf alle Weise merkwürdig als ein neueres Erzeugniß, wo ein[72] Minimum der in Kalkgestein enthaltenen Kieselerde, wahrscheinlich dunstartig befreit, rein und wasserhell in Krystalle zusammentritt.

Ferner besuchten wir die hinter dem Königsberge von Quäkern angelegte wie auch betriebene Messerfabrik und fanden uns veranlaßt, ihrem ganz nah bei Pyrmont gehaltenen Gottesdienst mehrmals beizuwohnen, dessen nach langer Erwartung für improvisirt gelten sollende Rhetorik kaum Jemand das erste Mal, geschweige denn bei wiederholtem Besuch, für inspirirt anerkennen möchte. Es ist eine traurige Sache, daß ein reiner Kultus jeder Art, sobald er an Orte beschränkt und durch die Zeit bedingt ist, eine gewisse Heuchelei niemals ganz ablehnen kann.

Die Königin von Frankreich, Gemahlin Ludwigs XVIII., unter dem Namen einer Gräfin Lille, erschien auch am Brunnen, in weniger, aber abgeschlossener Umgebung.

Bedeutende Männer habe ich noch zu nennen: Konsistorialrath Horstig und Hofrath Marcard, den Letztern als einen Freund und Nachfolger Zimmermanns.

Das fortdauernde üble Wetter drängte die Gesellschaft öfters ins Theater. Mehr dem Personal als den Stücken wendete ich meine Aufmerksamkeit zu. Unter meinen Papieren find ich noch ein Verzeichniß der sämmtlichen Namen und der geleisteten Rollen; der zur Beurtheilung gelassene Platz hingegen wird nicht ausgefüllt. Iffland und Kotzebue thaten auch hier das Beste, und Eulalia, wenn man schon wenig von der Rolle verstand, bewirkte doch durch einen sentimental-tönend weichlichen Vortrag den größten Effekt; meine Nachbarinnen zerflossen in Thränen.

Was aber in Pyrmont apprehensiv wie eine böse Schlange sich durch die Gesellschaft windet und bewegt, ist die Leidenschaft des Spiels und das daran bei einem Jeden, selbst wider Willen erregte Interesse. Man mag, um Wind und Wetter zu entgehen, in die Säle selbst treten oder in bessern Stunden die Allee auf und ab wandeln, überall zischt das Ungeheuer durch die Reihen; bald hört man, wie ängstlich eine Gattin den Gemahl nicht weiter zu spielen ansieht, bald begegnet uns ein junger Mann, der in Verzweiflung über seinen Verlust die Geliebte vernachlässigt, die Braut vergißt; da nun erschallt auf[73] einmal der Ruf grenzenloser Bewunderung: die Bank sei gesprengt! Es geschah diemal wirklich in Roth und Schwarz. Der vorsichtige Gewinner setzte sich alsbald in eine Postchaise, seinen unerwartet erworbenen Schatz bei nahen Freunden und Verwandten in Sicherheit zu bringen. Er kam zurück, wie es schien mit mäßiger Börse; denn er lebte stille fort, als wäre nichts geschehen.

Nun aber kann man in dieser Gegend nicht verweilen, ohne auf jene Urgeschichten hingewiesen zu werden, von denen uns römische Schriftsteller so ehrenvolle Nachrichten überliefern. Hier ist noch die Umwallung eines Berges sichtbar, dort eine Reihe von Hügeln und Thälern, wo gewisse Heereszüge und Schlachten sich hatten ereignen können.

Da ist ein Gebirgs-, ein Ortsname, der dorthin Winke zu geben scheint, herkömmliche Gebräuche sogar deuten auf die frühesten, roh feiernden Zeiten, und man mag sich wehren und wenden, wie man will, man mag noch so viel Abneigung beweisen vor solchen aus dem Ungewissen ins Ungewissere verleitenden Bemühungen, man findet sich wie in einem magischen Kreise befangen, man identifiziert das Vergangene mit der Gegenwart, man beschränkt die allgemeinste Räumlichkeit auf die jedesmal nächste und fühlt sich zuletzt in dem behaglichen Zustande, weil man für einen Augenblick wähnt, man habe sich das Unfaßlichste zur unmittelbaren Anschauung gebracht.

Durch Unterhaltungen solcher Art, gesellt zum Lesen von so mancherlei Heften, Büchern und Büchelchen, alle mehr oder weniger auf die Geschichte von Pyrmont und die Nachbarschaft bezüglich, ward zuletzt der Gedanke einer gewissen Darstellung in mir rege, wozu ich nach meiner Weise sogleich ein Schema verfertigte.

Das Jahr 1582, wo auf einmal ein wundersamer Tag aus allen Weltgegenden nach Pyrmont hinströmte und die zwar bekannte, aber noch nicht hochberühmte Quelle mit unzähligen Gästen heimsuchte, welche bei völlig mangelnden Einrichtungen sich auf die kümmerlichste und wunderlichste Art behelfen mußten, ward als prägnanter Moment ergriffen und auf einen solchen Zeitpunkt, einen solchen unvorbereiteten Zustand vorwärts und rückwärts ein Märchen erbaut, das zu Absicht hatte, wie die Amusemens des eaux de Spa sowol in der Ferne als der Gegenwart[74] eine unterhaltende Belehrung zu gewähren. Wie aber ein so löbliches Unternehmen unterbrochen und zuletzt ganz aufgegeben worden, wird aus dem Nachfolgenden deutlich werden. Jedoch kann ein allgemeiner Entwurf unter andern kleinen Aufsätzen dem Leser zunächst mitgetheilt werden.«

Hier der »allgemeine Entwurf«:

»Aufenthalt in Pyrmont.
1801.

Im Jahre 1582 begab sich auf einmal aus allen Welttheilen eine lebhafte Wanderschaft nach Pyrmont, einer damals zwar bekannten, aber doch noch nicht hochberühmten Quelle; ein Wunder, das Niemand zu erklären wußte. Durch die Nachricht hiervon wird ein deutscher wackerer Ritter, der in den besten Jahren steht, aufgeregt; er befiehlt seinem Knappen, alles zu rüsten und auf der Fahrt ein genaues Tagebuch zu führen, denn dieser, als Knabe zum Mönch bestimmt, war gewandt genug mit der Feder. Von dem Augenblicke des Befehls an enthält sein Tagebuch die Anstalten der Abreise, die Sorge des Hauswesens in der Abwesenheit, wodurch uns denn jene Zustände ganz anschaulich werden.

Sie machen sich auf den Weg und finden unzählige Wanderer, die von allen Seiten herzuströmen. Sie sind hilfreich, ordnen und geleiten die Menge, welches Gelegenheit gibt, diese Zustände der damaligen Zeit vor Augen zu bringen. Endlich kommt der Ritter als Führer einer großen Karawane in Pyrmont an; hier wird nun gleich so wie bereits auf dem Wege durchaus das Lokale beachtet und benutzt. Es war doch von uralten Zeiten her noch manches übrig geblieben, das an Hermann und seine Genossen erinnern durfte. Die Kirche zu Lügde, von Karl dem Großen gestiftet, ist hier von höchster Bedeutung. Das Getümmel und Gewimmel wird vorgeführt; von den endlosen Krankheiten werden die widerwärtigen mit wenig Worten abgelehnt, die psychischen aber, als reinlich und wundervoll, ausführlich behandelt, sowie die Persönlichkeit der damit behafteten Personen hervorgehoben. Bezüge von Neigung und mancherlei Verhältnisse entwickeln sich, und das Unerforschliche, Heilige macht einen wünschenswerten Gegensatz gegen das Ruhmwürdige. Verwandte Geister ziehen sich zusammen, Charaktere suchen[75] sich, und so entsteht mitten in der Weltwoge eine Stadt Gottes, um deren unsichtbare Mauern das Pöbelhafte nach seiner Weise wütet und ras't; denn auch Gemeines jeder Art versammelte sich hier: Marktschreier, die besonderen Eingang hatten; Spieler, Gauner, die jedermann, nur nicht unseren Verbundeten drohten; Zigeuner, die durch wunderbares Betragen, durch Kenntnisse der Zukunft Zutrauen und zugleich die allerbänglichste Ehrfurcht erweckten; der vielen Krämer nicht zu vergessen, deren Leinwand, Tücher, Felle vom Ritter sogleich in Beschlag genommen und dem sittlichen Kreise dadurch ein gedrängter Wohnort bereitet wurde.

Die Verkäufer, die ihre Ware so schnell und nützlich angebracht haben, suchten eilig mit gleichen Stoffen zurückzukehren; andere spekulierten, daraus sich und Andern Schirm und Schutz gegen Wind und Wetter aufzustellen; genug, bald war ein weit sich erstreckendes Lager errichtet, wodurch bei stetigem Abgange der Nachfolgende die ersten Wohnbedürfnisse befriedigt fand.

Den Bezirk der edlen Gesellschaft hatte der Ritter mit Pallisaden umgeben und so sich der jedem physischen Andrang gesichert. Es fehlt nicht an mißwollenden, widerwärtig-heimlichen, trotzig-heftigen Gegnern, die jedoch nicht schaden konnten; denn schon zählte der tugendsame Kreis mehrere Ritter, alt und jung, die sogleich Wache und Polizei anordnen; es fehlt ihm nicht an ernsten geistlichen Männern, welche Recht und Gerechtigkeit handhaben.

Alles dieses ward im Stile jener Zeit als unmittelbar angeschaut von den Knappen täglich niedergeschrieben mit naturgemäßen kurzen Betrachtungen, wie sie einem heraufkeimenden guten Geiste wohl geziemten.

Sodann aber erschienen, Aufsehen erregend, langfaltig blendend weiß gekleidet, stufenweise bejahrt, drei würdige Männer: Jüngling, Mann und Greis, und traten unversehens mitten in die wohldenkende Gesellschaft.

Selbst geheimnisvoll, enthüllten sie das Geheimnis ihres Zusammenströmens und ließen auf die künftige Größe Pyrmonts in eine freundliche Ferne lichtvoll hinaussehen.

Dieser Gedanke beschäftigte mich die ganze Zeit meines Aufenthaltes, ingleichen auf der Rückreise. Weil aber, um dieses Werk gehaltvoll und lehrreich zu machen, gar manches zu studieren war und viel dazu gehörte, dergleichen zersplitterten Stoff[76] ins Ganze zu verarbeiten, so daß es würdig gewesen wäre, von allen Badegästen nicht allein, sondern auch von allen deutschen, besonders niederdeutschen Lesern beachtet zu werden, so kam es bald in Gefahr, Entwurf oder Grille zu bleiben, besonders da ich meinen Aufenthalt in Göttingen zum Studium der Geschichte der Farbenlehre bestimmt hatte, wovon an seinem Ort gehandelt worden.«

Dies das »Mährchen« von Pyrmont, in der Tat wundersam und schon im »Schema«, wie Goethe seinen Entwurf nannte, voller Reize, die in der Ausarbeitung sicherlich noch deutlicher hervorgetreten wären. Jedenfalls hätte diese Dichtung, als Roman oder Epos vollendet, eine ganz einzigartig Stellung in Goethes Schaffen eingenommen: wie weit ab liegt schon das Stoffliche von den sonstigen Interessengebieten des Dichters! Nur im »Faust« klingt ähnliches. Aber es ist müßig, etwa darüber zu klagen, daß Goethe die »sehr weitschichtige Arbeit«, wie er sie fünfundzwanzig Jahre später noch nannte, Entwurf bleiben ließ; er wird gewußt haben, was er tat, wird schon bei der Konzeption instinktiv das Fremde gewittert haben, das wir selbst daran als unpoetisch empfinden, und mit dem Verklärten, in Göttersphären Entrückten darüber zu rechten, daß er so und nicht anders gehandelt, wäre kleinlicher Eigensinn.

Interessanter, den Quellen nachzugehen, aus denen Goethe geschöpft — gewinnt man da doch gleichzeitig einen Überblick über die Lektüre, die der Pyrmonter Kurgast Goethe, sicherlich der erlauchteste, den das Bad jemals beherbergt, damals gepflogen. Von »Büchern und Büchelchen« spricht der Greis in den »Annalen« … Forscherfleiß hat diese Bücher und Büchelchen in alten Archiven aufgestöbert, und wenn man nun Titel aufzählen darf wie diese: »Pyrmonts Denkwürdigkeiten, Eine Skizze für Reisende und Kurgäste, Leipzig 1800 bei Karl Wilhelm Küchler« und »Beschreibung von Pyrmont von Henrich Matthias Marcard, Leipzig 1784/1785 bey Weidmanns Erben und Reich«; oder liest man im Tagebuch des Dichters von dem Eindruck, den etwa eine jene Pilgerfahrt von 1582 behandelnde Erzählung von Heinr. Bünting in der »Braunschweigischen und Lüneburger Chronika« (Magdeburg 1620) auf ihn gemacht hat, so kann man[77] sich gut den bedächtigen, sorgfältig gekleideten Mann vorstellen, wie er, diese alten Folianten und Pappbände im Arm, die Alleen Pyrmonts durchwandelt und nach einem stillen Platz zu ungestörtem Lesen sucht.

Da stieg dann, auf geschichtlichem Boden, die Vergangenheit des Bades aus diesen Büchern, und die dunklen Augen Goethes mögen oft versonnen über die nahen Hügel und Berge geschweift sein, über die schon die Legionen des Varius gezogen waren und um die noch der Spuk mittelalterlicher Legenden geisterte … bis ihn Freund Griesbach aus Jena oder der kleine August, der den Vater suchte, aus seinen Träumen weckten zu freundlichem Genuß des Tages und des gegenwärtigen Lebens.

Und langsam neigte sich die Zeit, die Goethe der Erholung in Pyrmont gönnen durfte oder wollte, ihrem Ende zu. In den Gärten blühten die Juli-Rosen, und abends trug der Wind, der von den Bergen kam, den Duft der reifenden Felder in die stillen Straßen. Auch regnete es oft. Das war sehr langweilig. Denn die fremden Zimmer, auf die man dann doch angewiesen war, wurden kalt und ungemütlich, die Reize des kleinen Theaters waren bald erschöpft, der Kursaal, wo gespielt wurde, lockte nicht.

Abwechslung, aber auch Unruhe hatte am 9. Juli die Ankunft »Durchlaucht des Herzogs« aus Weimar gebracht … der Kur Goethes jedenfalls nicht sehr förderlich, denn Carl August war, kränkelnd und deshalb mißgestimmt, gelegentlich auch zu alten Ausschweifungen in Baccho et Venere neigend, gewiß keine bequeme Gesellschaft.

Am 26. Juni hatte sich Carl August angemeldet. »Die fatalen Krämpfe, mein lieber Freund,« hatte er an Goethe geschrieben, »haben endlich doch die Überhand behalten, sie warfen mich seit Deiner Abreise dreymahl nieder und überwiegen meine Plane, die ich in Ansehung des Geldes und der Zeit gemacht hatte; ich komme doch nach Pyrmonth. Den 10. July Abends, Freytag über 14 Tage, komme ich dorten an. Erzeige mir den Gefallen folgendes zu bestellen:

1 Stube mit Bette für mich,

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1 dergleichen für Eglofstein,

1 dergleichen mit 2 Betten für Kammd und Canzlist;

2 Stuben für 3 Bedt und 2 Reitknechte, nebst geh. Betten.

Stall und Furage auf 4 Pferde.

Wir kommen über Caßel. An Table d'hôte eßen wir beyde und bedürfen daher keiner besonderen Kost. In welchem Hause wir wohnen sollen, ist mir gleichgültig … Deine Gesundheit befindet sich wohl an der trefflichen Heils Quelle erneuert und frisch belebt? herzlich wünsche ich es. Auch ich suche Trost dorten, um mit Dir noch etliche Jahre vergnügt und nützlich zu vertreiben.«

Ein zweiter Brief am 29. Juni meldete dann in humorvollerer Form, daß Carl August, um Goethe möglichst wenig Mühe zu machen, seinem »Mephisto«, d. h. den Kammerdiener Kämpfer, als Quartiermacher nach Pyrmont vorschicken würde: »Dazu kömmt, daß den armen Teufel es gut behagen wird, wenn er ein Tager achte ohne an meinen Leibe warten und schaaben zu müssen, ruhig zu seinem besten baaden und trincken kann.«

Ob der Herzog, um dessen Gesundheit es wirklich damals kritisch stand, in Pyrmont die erwartete Erholung gefunden hat, weiß man nicht. Ein Brief Goethes an Christiane berichtet nur kurz und sachlich: »Der Herzog ist munter und lustig.« Aber immerhin: es spricht nichts dagegen, daß Karl August sich in Pyrmont zumindest wohl gefühlt hat; um im Stile seiner Briefe zu sprechen, hat das Bad doch dafür gesorgt, daß nicht die schwarze, sondern die weiße Fahne wehte, und Goethe und er haben noch mehr als »etliche Jahre vergnügt und nützlich« zusammen vertrieben.

Am 17. Juli verläßt Goethe Pyrmont, mit »Akten und Erinnerungen reicher beladen«, als er selbst gedacht, und vor allem, wie die nun folgenden Tage in Göttingen zeigen, schaffensfreudig und empfänglich wie lange nicht.

Regenwetter erleichtert den Abschied; die Sehnsucht nach der geliebten Hausgenossin und Frau in Weimar, mit der er auf der Rückreise in Kassel zusammentreffen will, hat den Zeitpunkt der Abfahrt ebenfalls um Tage vorgerückt. »Mit Freuden werde ich,« schreibt er am 12. Juli an Christiane, »Koppenfeldens[79] Scheungiebel (das Nachbarhaus am Frauenplan) wiedersehen und Dich an mein Herz drücken und Dir sagen, daß ich Dich immerfort und immer mehr liebe.«

Wie schön, wie liebevoll diese wenigen Worte!

Und so verstauen sich an einem feuchten Morgen, von den Bergen weht es kühl, und auf der aufgeweichten Straße spiegeln die Regenpfützen grauen Wolkenhimmel, »Vater, Sohn und Geist« wieder in der schwerfälligen Reisechaise, die sie vor vier Wochen hierhergebracht: Goethe ernst und nachdenklich, der in Pyrmont verlebten Tage gedenkend, deren Resultat immerhin ungewiß; August lebhaft und sich kindlich des Neuen im voraus freuend, das die Fahrt bieten wird; Geist, der Schreiber, gleichmütig wie immer.

In der Haustür der Wirt, der Brunnenkassierer Voigt, devot das Käppchen in der Hand, bis die Pferde anziehen und der Wagen davonrollt … der brave Mann ahnt nicht, daß ihm dieser Kurbesuch Unsterblichkeit schenkt!

Erstes Reiseziel Göttingen. Dort ist Goethe, sehr tätig, bis zum 14. August. Tags drauf trifft er dann in Kassel Christiane und Heinrich Meyer, und im Posthaus am Königsplatz, bei der Madame Goullon, kann die »wertheste Demoiselle« Vulpius endlich wieder nach mehr als zehn Wochen des Hangens und Bangens den geliebten Mann und das »Bübchen« in ihre Arme schließen.

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