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Sie ging in ihre Kemenate,
Wo ihre Frauen lagen.
Als die sie kommen sahen,
Waren sie all’ in Sorgen:
Es war doch früh am Morgen.
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Sie hatte grosses Ungemach;
Bedeutungsvoll sie sprach
Zu ihrer Schwester Annen;
Die führte sie von dannen
In ihre Kemenate wieder.
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Sie fiel am Bette nieder
Und klagte ihr ihr Ungemach,
Wie sie die ganze Nacht
Schlaflos geblieben war.
Sie seufzte tief fürwahr,
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Gar traurig war ihr Sinn,
Sie sprach: “Mein’ Ehr’ ist hin.”
“Fraue Schwester Dido,”
Sprach Anna, “wie denn so?
Sagt, was ist Eure Not?”
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“Schwester, ich bin fast tot.”
“Erkranktet Ihr? Zu welcher Stund’?”
“Schwester, ich bin ganz gesund,
Doch kann ich nicht genesen.”
“Schwester, wie mag das wesen?
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Ich meine, Frau, ‘s ist Minne.”
“Ja, Schwester, zum Wahnsinne.”
“Warum betragt Ihr Euch also,
Liebe Fraue Dido?
Was wollt Ihr so verderben?
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Ihr dürft nicht an Minne sterben.
Ihr mögt sehr wohl genesen
Und nachher glücklich wesen.
Es ist kein Mann auf Erden,
Der nicht Euer könnte werden,
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Der nicht froh wär’ Eurer Minnen;
Ihr sollt Euch bass besinnen.”
Da versetzte Frau Dido:
“Es steht mir nicht also.
Wahr ist es in der Tat,
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Ich sollte finden andern Rat;
Ich tät’ es, wär’s in meiner Wahl.
Ihr wisset, dass ich dem Gemahl
Sicheus gelobte und verhiess,
Der mir ein gross Gut hinterliess
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Und auch grosse Ehr’,
Dass ich nun nimmermehr
Einen Mann würde nehmen,
Was für Freier immer kämen.”
Da sprach aber Anna:
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“Ihr redet von dem Manne
Allzuviel und ohne Not.
Er ist seit vielen Tagen tot.
Wo steht denn Euer Sinn?
Wie hätte er Gewinn,
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Wenn Ihr jetzt verdürbet
Und törichterweise stürbet?
Ihr braucht nicht Euer Leben
Seinetwegen zu vergeben.
Er könnt’ es Euch nicht lohnen.
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Ihr sollt Euch selber schonen.
Die Rede, die Ihr tut,
Sie ist ja gar nicht gut.
Lasst solche Rede sein
Und folgt dem Rate mein;
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Das ist grössere Weisheit.
Sagt mir nur die Wahrheit:
Wer ist der selige Mann,
Dem Gott es gönnen kann,
Dass Ihr ihn wollt minnen?
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Das gebt mir zu besinnen.
Ich will Euch raten dann
So gut, wie ich es kann,
Weil ich Euch Gutes gönne.
Ob ich so raten könne,
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Dass Ihr damit gedienet seid?
Nun sagt es mir, es ist ja Zeit.”
Sie sprach: “Ich will’s nicht hehlen.
Ich will Euch jetzt befehlen
Ehre so wohl als Leben.
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Ihr sollt mir Rat drauf geben.
Es ist,” sprach sie, “ein Mann,
Dem keiner gleichen kann.
Ich muss verraten seinen Nam’
Trotz meiner grossen Scham;
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Das Nennen tut mir weh.
Er heisset,” sprach sie, “E”—
Und nach dem NE ward es gar lang,
So sehr die Minne sie bezwang,
Bevor sie deutlich sagte AS;—
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Dann wusste Anna, wer er was.