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Da nun zwischen beiden
Der Zweikampf sollt’ entscheiden,
Recht war es ihrer Tapferkeit.
Sie machten sich bereit
Mit mannlichem Sinn.
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Da ging die Königin
Eines Abends spat
In ihre Kemenat
Und rief die Tochter zu sich,
Eine Jungfrau minniglich.
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Zu reden sie begonnte,
Wie sie es wohl konnte,
Mit sehr klugem Sinn.
Es sprach die Königin:
“Lavine, schönes Mägdelein,
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Du liebe Tochter mein,
Vielleicht es nun so endet,
Dass der Vater dir entwendet
Grosses Gut und grosse Ehr’:
Turnus, der edle Herr,
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Der deine Minne stark begehrt,
Ist deiner durchaus wert;
Des hab’ ich sichere Kunde.
Und wärest du zur Stunde
Tausendmal so schön und gut,
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Du könntest billig deinen Mut
Dem tapfern Mann zukehren;
Ich gönne dir die Ehren.
Ich will, dass du ihn minnest,
Und dabei auch erkennest,
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Dass er ein edler Herr.
Drum lob’ ich dir so sehr
Den Helden wonnesam.
Sei doch Eneas gram,
Jenem Trojaner schlecht,
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Der ihn erschlagen möcht’,
Der dich im Herzen trägt
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Dir ist’s ja auferlegt,
Ihm Ungunst zu erzeigen
Und stetiges Abneigen,
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Ihm keine Ehr’ zu zollen,
Ihm Gutes nicht zu wollen.
Du sollst ihm bleiben kalt,
Weil er dich mit Gewalt
Nun wähnet zu gewinnen.
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Er strebt nach deiner Minnen
Nur wegen deines Gutes:
Was er bestrebt, er tut es,
Damit er dich erwerbe
Und mit dir nun als Erbe
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Gewinne auch zugleich
Deines Vaters Reich.
Du tätest, wie ich wollt’,
Würdest du Turnus hold.”
“Womit soll ich ihn minnen?”
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“Mit Herzen und mit Sinnen.”
“Soll ihm mein Herze geben?
Wie könnte ich dann leben?”
“Unwissend bist du, wie man sieht.”
“Was, wenn es nicht geschieht?”
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“Was, wenn’s geschehen tut?”
“Wie kann ich meinen Mut
Einem Manne zukehren?”
“Die Minne wird’s dich lehren.”
“Um Gotteswillen, was ist Minne?”
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“Sie ist vom Urbeginne
Der Erde Herrscherin
Und bleibt’s auch fernerhin
Bis zu dem jüngsten Tag.
In keiner Weise mag
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Ein Mensch ihr widerstehen,
Denn sie kann niemand sehen
Noch betasten mit der Hand.”
“Die hab’ ich, Fraue, nie gekannt.”
“Du sollst sie kennen lernen noch.”
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“Wann erwartet Ihr es doch?”
“Ich erwart’ es, wie ich mag.
Vielleicht erleb’ ich noch den Tag,
Da du ungebeten minnest.
Und wenn du es beginnest,
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Wirst du empfinden Lust dazu.”
“Ich weiss, dass ich’s nicht tu’.”
“Es kommt, so sicher du auch bist.”
“Dann sagt mir, was die Minne ist.”
“Ich kann sie nicht beschreiben.”
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“Dann lasst es doch noch bleiben.”