Die Seele hat zwei Füsse, das Verständnis und die Minne; und je mehr sie versteht, desto mehr minnet sie. Und wer kann sie 191 fällen, da der sie erhält, der alle Kreaturen erhält? Denn die Gnade reizet die Begierde und ziehet die Seele aus sich selber heraus, so dass sie mit der Gnade und in der Gnade in Gnade kommt, und über die Gnade in Gott, ihren ersten Ursprung kommt, wo es ihr wohler als je wird in wonnesamer Einigung. Denn da verstummen alle Sinne, und der Seele Wille und der Wille Gottes fliessen ineinander, so dass die zwei Willen sich minnesam umfangen in rechter Einigung. Und da kann die Seele weder mehr noch minder denn göttliche Werke hervorbringen, und zwar deshalb, weil an ihr nichts mehr als Gott lebet. Darum spricht die Seele in dem Buch der Minne: Ich habe den Kreis der Welt umlaufen und konnte nicht zu dessen Ende kommen; deshalb habe ich mich in den einzigen Punkt meines einzigen Gottes versenkt, weil er mich verwundet hat mit seinem Anblicke. Und wen dieser Anblick nicht verwundet hat, dessen Seele ist von der Minne Gottes nie verwundet worden. Darum sagt Sankt Bernhard: Welcher Geist den Anblick empfunden hat, der vermag ihn nicht zu beschreiben, und wer ihn nicht empfunden hat, der vermag nicht daran zu glauben. Denn da wird ein Pfeil ohne Zorn geschossen, und man empfindet es ohne Schmerzen; denn da wird der lautere und klare Brunnen der Arzenei der Gnade aufgetan, der die inneren Augen erleuchtet, so dass die Seele mit einem wonnesamen Anschauen den Wollust der göttlichen Heimsuchung empfindet, in dem man unerhörte Dinge geistlichen Gutes gewahrt, die nie gehört noch gepredigt wurden und in keinem Buche geschrieben stehen.