„Von drei Jahren!“ hör ich mir meine Leser unwillig zurufen. — Freilich, meine Lieben, eine ansehnliche Lükke, oder vielmehr ein großer Sprung über tausend Tage hinweg; doch vergessen Sie auch nicht, daß ich nur ein unterhaltender Erzähler, mit nichten aber ein gewissenhafter Historiograph, sein will. Dieser würde über die meisten von mir hocherwähnten Begebenheiten, als Bagatellen, hinübergegangen sein; ich hingegen vergesse alle chronologische, politische, statistische Notizen, die ihn mehrentheils beschäftigen, und suche mir aus der bunten Menge der Szenen nur diejenigen hervor, in welchen sich menschliche Karaktere am deutlichsten wieder gespiegelt haben.
Florentin von Duur befand sich, wie Sie wissen, in Kanella; vermöge eines gewissen fürstlichen Empfehlungsschreibens gelang es ihm an Piedros Hofe eingeführt zu werden. Sein Aeusseres mußte nothwendig den Kanelleserinnen ersten Ranges gefallen, und gewis würde er im Zirkel derselben eine glänzende Rolle gespielt haben, wenn nicht sein ernstes Wesen, seine unzerstörbare Melancholie, welche durch all seine Blikke, Mienen, Gespräche und Handlungen hervorschien, eben so sehr zurükgestoßen hätte, als sein männlicher Reiz anzog. Daher floß die natürliche Folge, daß er am Hofe Kanellas weniger bemerkt wurde; daß ihn die Damen bewunderten, aber nicht liebten; daß ihn Piedro zwar seiner Staatskunde und Einsichten in die Volksregierung willen achtete, nicht selten auch seinen Rath annahm, aber ihn doch nur ausserordentlich selten hervorzog; daß Prinz Moriz und der Kardinal Benedetto ihn kaum ihrer Aufmerksamkeit würdigten, besonders, da er sich in Rüksicht dieser beiden Halbungeheuer, stets nach aller Hofetikette leidend und unterthänig verhielt.
Hiezu kam noch, daß Florentin, da er kaum ein halbes Jahr in Kanella figurirt hatte, von einer Krankheit überfallen wurde, die ihn viele Monate unthätig machte. Nur seine Jugend rettete ihn vom Tode, dessen Pfortenschwelle er schon betrat. —
Mit einem Worte drei Jahre waren ihm verschwunden wie drei Tage.
Allein müssig konnte ein Florentin von Duur in dieser Epoche nicht sein. Einen verdorbnen Staat zu reformiren, dazu bedarf es mehr, als oberflächicher Kenntnis desselben. Sich ganz in diesen neuen, unbekannten Verhältnissen zu orientiren, alle geheimliegende, verstokte, oder vergiftete Quellen, aus welchen so vieles Wehe über Kanellas Bürger quoll, aufzuspüren; sich Freunde in der Noth, Anhänger inner- und ausserhalb der Kanellesischen Gränzen anzuwerben — dazu waren mehrere Jahre nur kaum hinlänglich.
Anfänglich versuchte der biedre Graf, mit Hülfe des geringen Einflusses, welchen er sich auf eine verstekte, schlaue Weise in die Regierung zu verschaffen gewußt hatte, das Schiksal Kanellas erträglicher zu machen. Es gelang ihm einigermaaßen; und hiedurch kühn gemacht, schöpfte er, jedoch viel zu voreilig, die befriedigendsten Hofnungen für die Folgezeit.
Allein, alles war vergebens, dem unglüklichen Landeseinwohner die ihm auferlegte Bürde zu erleichtern; vergebens jede Stunde, auf diese Art aufgeopfert für das Wohl der leidenden Menschheit. Was Florentin mit unsäglicher Mühe für Kanellas Heil errang, zerstörte ein einziges Machtwort des stürmischen Moriz, ein einziges Achselzukken des listigen Pfaffen Benedetto, ein einziger buhlerischer Kuß Rosaffens.
Drei Jahre waren vorübergeflogen, und die Kanelleser noch um keinen Schritt durch den Grafen dem Ziel ihrer Wünsche und Hofnungen näher geführt. Borghemo raste; Dulli fluchte, Giovanni Borsellino bestürmte den edeln Duur mit Vorwürfen in wöchentlichen Briefen; denn alle hatten unsern Mann jezt genauer kennen gelernt, sich seinen großen Geist vertrauter gemacht, ihr unbegränztes Vertrauen auf ihn gesezt — und alle glaubten sich in ihm getäuscht zu finden, rechneten seine Langsamkeit, sein Verzögern einer heimlichen Feigheit zu.
Aber wie gesagt, Florentins Zaudern war Weisheit, sein thatenlosscheinendes Leben eine ewige Kette von Arbeiten. Die Zahl der schwarzen Brüder, in Piedros Staat, hatte sich unter ihm zu einer furchtbaren Menge vermehrt, die er nach dem Modell, der deutschen Logen in obere und untere Klassen eingetheilt hatte, deren lezte die Brüder der obern nicht kannte, und zu welcher der Graf auch den wilden Borghemo, wegen seines unsteten Karakters gesellt hatte, so sehr er auch sonst diesen Mann zu achten wußte. Jezt durfte nur noch eine bequeme Stunde schlagen und Piedros Despotie hatte ihre Endschaft, Kanella die ersehnte Freiheit, und der Wunsch tausend guter Bürger seine Erfüllung erreicht.
Und die erwartete Stunde näherte sich!