Erwägen wir dies alles, so wird uns auch das zahlreiche Auftreten und das wunderliche Gebaren der fahrenden Leute [46] verständlicher, unter denen wieder die Frauen massenweise vertreten waren. Diese fahrenden Frauen finden wir zunächst in der Gesellschaft jener Gaukler- und Possenreisserbanden, jener Spielleute und Bettler, die wir das ganze Mittelalter hindurch überall da erscheinen sehen, wo ein grosser Zusammenstrom von Menschen stattfand. Sie traten hier auf als Spielweiber und herumziehende Künstlerinnen, als Gauklerinnen und Tänzerinnen, als Leier- und Harfenmädchen. In mancher Hinsicht berühren sie sich mit dem leichten Volk der fahrenden Schüler und wandernden Kleriker, gegen welche die Konzilien vergeblich eiferten. Sie erscheinen in grossen Scharen am fürstlichen Hoflager, bei den Kaiserkrönungen, auf Reichstagen, Turnieren, Kirchenversammlungen, auf Messen und Märkten. »Man kann sich nichts Widerlicheres denken«, sagt Weinhold, »als diese entsittlichten hungernden und lungernden Banden, welche zu Hunderten durch das Land streiften, wo sich nur ein Fest zeigte, den Raben gleich sich sammelten und ihre durchlöcherte Hand frech fordernd hinhielten.«
Scharen dieser fahrenden Weiber begleiteten schon die Kreuzfahrer nach Asien. Dem französischen Heere sollen ihrer i. J. 1180 nicht weniger als 1500 gefolgt sein, und noch Ludwig der Heilige vermochte den dadurch in seinem Heere entstandenen Unfug kaum zu dämpfen. Von Friedrich II., der 1229 im Gelobten Lande sich aufhielt, erzählt Matheus Parisiensis, der Mönch von St. Alban, dass er Sarazenen, die er zur Tafel gezogen hatte, durch die Künste christlicher Spielweiber unterhielt. Am französischen und englischen Hofe gab es im XIII. und XIV. Jahrhundert einen eigenen Marschall zur Beaufsichtigung dieser Personen. In Deutschland finden wir sie 1394 bei dem Reichstage zu Frankfurt a. M. in der ansehnlichen Zahl von 800, und die Menge der fahrenden Frauen, welche sich zu den Konzilien von Basel und Konstanz eingefunden hatten, soll 1500 betragen haben. In Basel hatte während des Konzils der Herzog von Sachsen in seiner Eigenschaft als Reichsmarschall die Aufsicht über die fahrenden Dirnen. Er war es auch, der eine Zählung derselben veranstaltete, die aber nur zur Hälfte durchgeführt wurde, weil der damit Beauftragte das widerwärtige Geschäft für zu gefährlich hielt[47].
Wie im Gefolge des Adels und der Geistlichkeit, so erscheinen sie nicht minder zahlreich im Tross der in den französisch-englischen Kriegen aufgekommenen Söldnerheere. Schon aus dem XIV. Jahrhundert erzählt Königshofens Chronik, dass ihrer 800 mit den Landsknechten zu Felde gezogen seien und dass sie zu ihrer Beschirmung einen eigenen Amtmann gehabt, dem sie wöchentlich eine Abgabe entrichten mussten. Dieser Amtmann oder Weibel bildet eine stehende Charge in den Heeren bis zum dreissigjährigen Kriege. Dass aber jene Massen fahrender Weiber, welche gewöhnlich mit den Trossbuben zusammengenannt werden, den Zeitgenossen als integrierendes Glied der Heeresorganisation erschienen und dass sie auf Kriegszügen wichtige Dienste leisteten, lernen wir aus Leonhard Fronspergers Kriegsbuch[48], das sich über die Aufgaben besagten Weibels weitläufig vernehmen lässt. Aus seiner Darstellung erkennt man, wie leicht sich die zahlreiche weibliche Gefolgschaft der Landsknechte der damaligen Heeresordnung als nützliches und selbst notwendiges Glied einfügen liess, und wir werden uns deshalb nicht mehr wundern, wenn wir lesen, dass Herzog Albas Heer auf seinem Zuge nach den Niederlanden von 400 Dirnen zu Pferd und 800 zu Fuss, »in Kompagnien geteilt und hinter ihren besonderen Fahnen in Reih und Glied geordnet«, begleitet war. »Jeder war nach Verhältnis ihrer Schönheit und ihres Anstandes der Rang ihrer Liebhaber bestimmt und keine durfte bei Strafe diese Schranken überschreiten«[49].
So befremdlich und widerwärtig uns diese Erscheinung auch anmuten mag, so kann doch der Versuch nicht allzu schwer fallen, sie zu erklären und uns menschlich näher zu rücken.
Eine sichere, sesshafte Existenz war im Mittelalter weit seltener möglich und wurde selbst weniger als Bedürfnis empfunden als heutzutage. Wie noch in unserer Zeit die Tataren der russischen Steppe leichten Muts ihre Zeltdörfer abbrechen, nachdem sie in einjähriger Brennwirtschaft dem Boden flüchtig eine Ernte abgewonnen, so haben im XIII. und XIV. Jahrhundert nicht selten ganze Dorfschaften in Deutschland ihre Sitze gewechselt. Hunger und Kriegsnot, Hagelschlag und Viehsterben, vielleicht auch bloss der lebendige Wandertrieb und das Bewusstsein, wenig zu verlieren zu haben — wer weiss, welche Momente noch sonst hier jedesmal wirksam wurden! Ein grosser Teil der Bevölkerung lag beständig auf der Landstrasse, und die Weistümer der Dörfer wie die Ratsbeschlüsse der Städte gedenken dieser wandernden Leute gleichmässig mit Nachsicht, ja mit mildtätiger Fürsorge. Bei den oft wiederkehrenden allgemeinen Notständen bildeten sich ganze Bettlerheere von Männern und Weibern, überfielen wie Heuschreckenschwärme die Städte und erforderten nicht selten ernstliche Vorkehrungen[50]. Viele von ihnen mögen dann nie wieder zur dauernden Ansässigkeit gelangt sein. Die alleinstehenden Frauen namentlich, schutz- und hilflos in einer gewalttätigen Gesellschaft, mochten sich leicht entschliessen, ihren Wohnort zu verlassen und einem lockenden Rufe in die Ferne zu folgen. Die Frankfurter Steuerlisten des XIV. und XV. Jahrhunderts geben uns eine Vorstellung davon, wie entsetzlich verbreitet die Armut unter ihnen war. Im Jahre 1410 führt das Bedebuch 2461 Steuerpflichtige auf, von denen 336 oder 13,7 Prozent ausdrücklich als arm bezeichnet werden. Von der Gesamtzahl waren 1888 Männer und 568 Frauen; unter den Männern gab es 148 oder 7,8 Prozent Arme, unter den Frauen 188 oder 33,6 Prozent! Das Mittelalter kannte freilich keine Armenpolizei, die dem Bettel mit Gefängnisstrafen beikommen zu können meinte. Noch im Jahre 1489 beschloss der Frankfurter Rat — wer weiss, zum wie vielten Male? — keynen frembden betteler nit vffnemen zu burger. Auf freien Plätzen und an Strassenecken, vor den Kirchtüren und auf den Brücken lagen die Blinden, die Lahmen, die Aussätzigen, und nicht selten schlugen Bettler und Vagantenscharen hart unter den Stadtmauern ihre Barackenlager auf, wenn man ihnen die Tore verschloss. Bei Messen und Kaiserkrönungen sowie an den offiziellen Betteltagen ergossen sie sich dann unaufhaltsam in die Stadt.
Was sollte diese Leute an der Scholle halten, wenn ihr Erwerb spärlicher floss und der Wettbewerb um die private Mildtätigkeit zu gross wurde? Auch hier geben die Frankfurter Steuerlisten erwünschten Aufschluss. Oft genug fanden die Bedemeister die Quartiere der steuerpflichtigen Frauen leer. »Recessit«, »Ist enweg«, »Ist davon gelauffen«, »Ist gangen bedeln«, wird dann wohl lakonisch hinter dem Namen bemerkt: niemand weiss, wohin sie gekommen. Dass sich aus derartigen Elementen die Schwärme der Fahrenden vielfach rekrutierten, unterliegt kaum einem Zweifel. Oft mag freilich auch die Scheu vor der Arbeit an der Spindel oder auf dem Felde, die Lust an einem ungebundenen Leben ausschlaggebend gewesen sein. In einem Volksliede[51] dieser Zeit fragt eine Mutter ihre Tochter:
»Och metgen, wat hait dir der rocken gedain,
dat du niet me machs spinnen?
du suist in over die aesselen an
recht wolstu mit eime kinge.«
Und die Tochter antwortet:
»Och moder, ich haven ein eit gesworn,
dat ich niet me mach spinnen,
ich haven ein lantsknecht lef und wert,
licht mir in minen sinnen.
Hi drinkt so gerne den kölen win,
hi sluit mich in sin blanke armelin
den awent zu dem morgen.«
In einem andern[52] stellt die Mutter dem Mädchen die Wahl frei zwischen einem Ritter, einem Bauern und einem Landsknecht, und die Tochter antwortet:
»Boeren, dat sijn boeren,
si drinken so selden den wijn,
so en doet die vrome lantsknecht niet,
hi schencter so dapperlic in.«
Manchmal mag auch die Verführung das ihrige getan haben, wie in dem bekannten Liede[53]:
»Nun schürz dich, Gredlein, schürz dich!
wolauf, mit mir darvon!
das korn ist abgeschnitten,
der wein ist eingeton« ...
Do nam ers bei der hende,
bei ir schneweissen hant,
er fürets an ein ende,
do er ein wirtshaus fand.
»Nun wirtin, liebe wirtin,
schaut uns umb külen wein!
die kleider dises Gredlein
müssen verschlemmet sein.«
War einmal der verhängnisvolle Schritt getan, so gab es so leicht keine Rückkehr. Die Frauen fast aller Stände folgten nur zu leicht der eiteln Weltlust. Ueber die hohen Klostermauern, durch die Schlüssellöcher der eisenbeschlagenen Pforten hielt sie ihren Einzug:
»Gott geb dem ein verdorben jar,
der mich macht zu einer nunnen
und mir den schwarzen mantel gab,
den weissen rock darunden!«
So sang und pfiff man um 1359 auf allen Strassen[54].
Die fahrenden Leute waren im Mittelalter ehr- und rechtlos; um so lieber mochten sich die Frauen den Kriegsheeren anschliessen, wo sie mindestens geduldet und geschützt waren und wo sie in den wilden Ehen, die sie mit den Landsknechten und ihren Offizieren eingingen, einigen Rückhalt fanden. Endlich bleibt zu erwägen, dass die Art der damaligen Kriegsführung die Mitnahme zahlreicher Frauenzimmer, wenn auch vielleicht nicht unbedingt nötig machte, so doch sehr erleichterte. Durch viele Stellen der Landsknechtslieder wird bezeugt, dass nicht leicht einer ohne sein »Fräulein« auszog:
»Der in den krieg wil ziehen
der sol gerüstet sein;
was sol er mit im füren?
ein schönes frewelein,
ein langen spiess, ein kurzen tegen;
ein herren wöln wir suchen,
der uns gelt und bscheid sol geben.«[55]
Freilich wurden diese Ehen oft ebenso rasch gelöst als geschlossen. In einem andern Volkslied wird das Betragen der Frauen nach einer Schlacht geschildert:
»Erst hebt sich an die klag der trewen frawen,
ein iede tut nach irem man umb schawen;
welcher der ir ist bliben tot,
darf nit vor schanden lachen —
biss sie ein andern hat.«
Mag dieser Uebergang zu »einem Andern« die Regel gebildet haben, immerhin finden wir auch Beispiele unwandelbarer Treue, wie in dem schönen Liede[56] von den neun Landsknechten und einer jülich’schen Maid, die ihren in Gefangenschaft geratenen Geliebten zu retten sucht. So fällt auch auf dieses unserem Empfinden so wenig zusagende Verhältnis ein versöhnender Strahl der alles wagenden und alles duldenden Liebe.