Die Elemente des Euklid.

Die Elemente des Euklid.

Den 13 Büchern der Elemente des Euklid wurden schon früh zwei Bücher angehängt. Das 14. Buch ist eine tüchtige Arbeit des in Alexandrien etwa 150 v. Chr. lebenden Mathematikers und Astronomen Hypsiklēs, über die fünf regulären (platonischen) Körper; das 15. Buch ist eine weit schwächere Arbeit und hat nach Tannery und Heiberg, beides grosse Kenner der hellenischen Mathematik, einen Schüler des Isidoros, des Erbauers der Sophienkirche um 530 n. Chr. zum Verfasser.

Den Zweck der Elemente gibt Proklos S. 72 an: Elemente nennt man das, dessen Theorie hinreicht zum Verständnis von allem anderen, und mittelst dessen man im Stande ist die Schwierigkeiten, welche das andere bietet, aus dem Wege zu räumen. Stoicheion bedeutet eigentlich Buchstabe und l. c. sagt Proklos gradezu: die Elemente enthalten die Sätze, welche als Bestandteile aller folgenden auftreten, wie die Buchstaben im Wort. Die Grundbedeutung von Stoichos ist eine militärische es bedeutet das, was wir einen Zug nennen, also auch die Grundlage der Formation.

Der Zweck und die Notwendigkeit der Euklid'schen Elemente folgt aus der Entwicklung der hellenischen Mathematik. Die Pythagoräer (s. d.) waren bei den Problemen zweiten Grades auf die √2, die Savisescha gestossen oder gestossen worden und damit auf die Irrationalzahl und die Inkommensurabilität. Damit wurden alle früheren Beweise über Teilung, Ähnlichkeit, Flächenmessung hinfällig. Das 4. Jahrhundert, Platon, Theaitet, Eudoxos und die Schüler des Platon und Eudoxos, widmeten sich der methodischen Arbeit die neuen Grundlagen festzustellen. Boten doch die mathematischen Definitionen Platon vortreffliche Beispiele seinem sokratischen Hang zur Definition der Begriffe zu folgen. Von Eudoxos rührt das ganze fünfte Buch der Elemente, die Lehre von den Proportionen in, ich möchte sagen, Weierstrass'scher Strenge, her, er ist der eigentliche Schöpfer der Exhaustionsmethode, die vermutlich durch ihn schon bei Aristoteles erwähnt ist, und die sich später, befruchtet mit dem Demokritischen Differentialbegriff, bei Archimedes und Apollonios zur Infinitesimalrechnung auswuchs. Von Theaitet wissen wir, dass er die Einteilung der Irrationalzahlen oder genauer die Lösung von Gleichungen 4. Grades, welche auf quadratische Gleichungen reduzierbar sind, jedenfalls begonnen hat. Wahrscheinlich von Platon selbst, jedenfalls aus seiner Schule, rühren die Fassungen vieler Definitionen und Axiome bei Euklid her, welche Aristoteles (vgl. Heiberg, Teubnersche Abh. z. Gesch. etc. Heft 18, 1904) nach den Elementen des Magnesiers Theudios zitiert. Nach einem Jahrhundert waren die methodischen Arbeiten zum Abschluss reif und den gab Euklid, bei dem das methodische Gefühl bereits in so eminenten Grade ausgebildet ist, dass er mit dem Beweise schliesst: Mehr als fünf regelmässige Körper kann es nicht geben.

Die Aufgabe die er sich setzte auf Grund der notwendigsten Voraussetzungen die Geometrie und in geometrischer Einkleidung auch die Arithmetik als ein zusammenhängendes Ganzes unantastbar darzustellen, hat er in einer Weise gelöst, die alle Vorgänger spurlos verschwinden liess und die, niemals übertroffen, die Bewunderung aller Zeiten und aller Völker erregt hat.

Daran schliesst sich die Frage, inwieweit Euklid in den Elementen Eigenes gegeben. Die Frage ist nur summarisch zu beantworten. M. Cantor sagt: »Ein grosser Mathematiker wird auch da, wo er anderen folgt, seine Eigentümlichkeit nicht verleugnen, und so war es sicherlich auch bei Euklid.« Gewiss, denn so ist es ja bei jedem Schullehrer, der seine Elemente gedruckt oder ungedruckt traktiert. Aber ebenso klar ist es auch, dass ein Werk wie die Elemente die Kräfte eines einzelnen übersteigt, und eine ganze Reihe von Vorarbeiten erfordert, von Hippokrates, Leōn, der die Fülle der Sätze und Strenge der Beweise erhöhte (Proklos 66 unten) bis auf Theudios, der sich auch in den anderen Wissenschaften auszeichnete. Die von Heiberg l. c. gesammelten Zitate aus seinen Elementen zeigen vielfach wörtliche Übereinstimmung. Ebenso sicher ist die Form des Vortrags die zum Teil schon von den Ägyptern überkommene gewesen, samt den so berühmten Schlussformeln »quod erat demonstrandum«, was zu beweisen war, ὅπερ ἔδει δεῖξαι, und quod erat faciendum, was zu machen war, ὅπερ ἔδει ποιῆσαι. Euklid gehört wohl vor allem die Auswahl der Definitionen an, die Forderungen (Erfahrungstatsachen) sind sein Eigentum, wie Heiberg l. c. festgestellt hat, oder wenigstens ihre Trennung von den Axiomen, und dann die strenge Durchführung des Prinzips keinen früheren Satz mittelst eines späteren zu beweisen, kein Gebilde zu benutzen, dessen Existenz nicht vorher durch geforderte oder gegebene Konstruktion gesichert ist.

Ferner gehört ihm ein grosser Teil des zehnten Buches, die Vollendung der Einteilung der Irrationalitäten durch Theaetet. Dem Euklid gehört der elementare Beweis (ohne Integralrechnung) des Satzes, dass die Pyramide gleich dem dritten Teil des Prisma ist, dass mit ihr gleiche Grundfläche und Höhe hat; sodann viele Sätze des 13. Buches über die Bestimmung von Stücken der regulären Körper und mit grösster Wahrscheinlichkeit der schon erwähnte Schlusssatz. Etwa 420 war das Dodekaëder den Hellenen bekannt geworden, wenig früher war überhaupt erst das logische Element in der Geometrie, die Forderung nach dem Beweise, zur Geltung gekommen. Die Ausbildung des logischen Sinnes bis zum Bedürfnis eines solchen Existenzbeweises erforderte sicher ein Jahrhundert. Der einzige, der noch in Frage kommen konnte wäre Eudoxos, doch überwog bei ihm auf der Höhe seiner Kraft das astronomische Interesse.

Parallelentheorie.

Wenn ich aber trotz der verhältnismässig geringen »Produktivität« Euklids doch M. Cantor beipflichte, der ihn zu den drei Heroen der griechischen Mathematik im 3. Jahrh. zählt, so tue ich es mit Rücksicht auf Euklids Behandlung des Parallelenproblemes, dass er so recht eigentlich in die Welt geworfen hat und das bis auf den heutigen Tag, ja heute noch mehr als je im Zentrum des Interesses steht. Der gesamte Aufbau des grundlegenden ersten Buches wird vom Parallelenproblem beherrscht. Euklid hat rund 2000 Jahre vor Saccheri und Legendre den Zusammenhang des Problems mit dem Satz über die Winkelsumme im Dreieck erkannt. Schon Proklos hat bemerkt, dass das berühmte und berüchtigte sogen. »11. Axiom«, richtiger die 5. Forderung, hervorgegangen ist aus dem vergeblichen Bemühen den Satz: »In jedem Dreieck sind zwei Winkel zusammen kleiner als 2 Rechte« umzukehren; und so kam er zu der Forderung in der Fassung: »Und wenn eine, zwei Geraden schneidende, Gerade mit ihnen innere an derselben Seite liegende Winkel bildet, die zusammen kleiner sind als 2 Rechte, so schneiden sich jene beiden Geraden bei unbegrenzter Verlängerung an der Seite, auf der diese beiden Winkel liegen.«

Die Elemente des Euklid, Ausgaben.

Von der Bibel abgesehen, ist niemals ein Werk in so vielen Auflagen und Bearbeitungen verbreitet gewesen, als die 13 »βιβλία« des Eukleídes, dessen Namen geradezu mit der Geometrie identifiziert wird. Eine sehr vollständige Zusammenstellung findet sich in Mem. d. R. Acad. d. Sc. d. Ist. di Bologna Serie IX, T. VIII und X 1887 und 1890 von P. Riccardi; R. Bonola, Bull. d. Loria und Festschr. f. Joh. Bolyai 1902 zählt gegen 1700 Ausgaben. Im Mittelalter und bis in die Neuzeit wird die Professur für Geometrie häufig als die des Euklid bezeichnet, die Studenten lasen den Text, sei es ganz, sei es im Auszug, und der Professor kommentierte, wobei selten mehr als das erste Buch erledigt wurde. Savile, der die noch heute in Oxford bestehende Professur des Euklid stiftete, kam bis zum 8. Satz des ersten Buches, nur Petrus Ramus, dessen Bedeutung in erster Linie auf seiner Lehrtätigkeit und seiner grossen literarischen Bildung beruht, rühmte sich die ganzen Elemente in einer Vorlesung erledigt zu haben. Es war selbstverständlich, dass der Text im Laufe der Jahrhunderte entstellt, verdorben, erweitert wurde. Letzteres gilt besonders für die schwierigen Teile des zehnten bis letzten Buches.

Euklid, Übersetzungen der Elemente.

Ich verweise auch für die Bibliographie der Elemente auf meine Schrift von 1901, hervorzuheben ist die Bearbeitung des Theon v. Alexandria, der etwa 350 n. Chr. lebte und lehrte, sie muss die früheren fast völlig im Buchhandel verdrängt haben, obwohl sie keinen Fortschritt bedeutete. Alle bis 1808 bekannte Codices, deren Zahl sehr gross ist, alle Drucke und Übersetzungen sind, wenn man von arabischen Quellen absieht, aus dieser Ausgabe hervorgegangen. Erst 1808 fand F. Peyrard in einer durch Napoleon dem Vatikan geraubten Handschrift (Vatic. 190, 1814 zurückgegeben) die bis jetzt einzige vollständige Handschrift, welche auf eine ältere und bessere Ausgabe zurückgeht. Aus diesem Codex konnte man die Änderungen des Theon feststellen und die Codices kritisieren, eine Arbeit, welche von E. F. August 1826–29 in seiner griechischen und noch gründlicher von J. L. Heiberg in der griech.-lat. Ausgabe von 1882–88 geleistet ist. Ausser dem Vat. 190 geht auch der Palimpsest Bologna M. 1721 (Heiberg, Cant.-Schlöm. 29) auf ältere Quellen als Theon zurück.

Neben dürftigen Auszügen die, von oder nach Boëtius (etwa 500 n. Chr.) verfasst, sich in den Klöstern und Klosterschulen hielten und besonders durch Gerbert den nachmaligen Papst Sylvester II. von Wichtigkeit wurden, verdankt Europa die Kenntnis der Elemente den arabischen Übersetzungen und Bearbeitungen. Auf sie geht die erste gedruckte Ausgabe zurück, die dem Giovanni Campano aus Novara zugeschrieben wird, der um die Mitte des 13. Jahrh. gelebt hat, und 1482 bei Erhard Ratdolt in Venedig erschienen ist. Die Ausgabe ist sehr selten, sie ist von A. G. Kästner Gesch. der Math. Bd. I S. 289 f. genau beschrieben.

Als der hellenische Geist zum zweiten Male für die europäische Kultur fruchtbar wurde in jener Glanzepoche, die man die Renaissance nennt, erschienen zunächst lateinische Ausgaben gestützt auf griechische Codices. Die erste Originalausgabe ist die des Simon Grynaeus des älteren, sie erschien 1533 bei Herwagen, der auch in Strassburg eine Druckerei besass, leider verarbeitet diese Ausgabe zwei sehr schlechte Handschriften.

Euklid-Commentatoren.

Indem ich wieder auf meine zitierte Schrift verweise, erwähne ich nur noch die beiden wichtigsten lateinischen Ausgaben, die des Commandinus Pisa 1572, der zuerst unseren Euklid von dem Megarenser schied, und die des Clavius von 1574. Die Arbeit dieses für seine Zeit hoch bedeutenden Jesuiten ist von allen Historikern der Mathematik von Montucla und Kästner bis auf M. Cantor gleich hoch gewertet worden; Kästner nennt sie die Pandekten der Mathematik, sie soll 22 Auflagen gefunden haben.

Die Commentatoren des Euklid, vergl. Euklid 1901 p. 16 ff.

Der festgefügte Bau der Elemente hat, wie er seinerseits die höchste Bewunderung erregte, andererseits die Versuchung erweckt die Geometrie auf andere Weise ebenfalls zu begründen. Dazu kommt, dass der Euklid in seinem ersten Buch einen mathophilosophischen Teil enthält, der die Grundbegriffe der Geometrie und die nötigen und hinreichenden Voraussetzungen angibt, von denen die ersteren ihrer Natur nach unauflöslich, die anderen variabel sind. So haben die Elemente des Euklid, und das ist vielleicht sein grösstes Verdienst, eine staunenswerte Geistesarbeit hervorgerufen, die besonders in der Geschichte des Parallelenaxioms zutage tritt. Hier will ich nur (Euklid 1901) einen Überblick über die hervorragendsten Interpretationen geben, welche zeigen, wie Recht Gino Loria hat, wenn er als Prinzip seiner schönen Arbeit »Della varia fortuna di Euclide, Roma 1893« das Gesetz der Kontinuität ausspricht. Es geht ein ununterbrochener Zusammenhang von Archimedes und Apollonios bis Veronese und Hilbert.

Von Apollonios sind Spuren eigener »Elemente« erhalten; darunter eine ganz allgemeine Definition des Winkels (Heiberg V S. 88).

Archimedes gab eine von Euklid abweichende mechanische Grundeigenschaft der Geraden (ebenfalls auch der Ebene) an und neue Prinzipien, darunter das nach ihm benannte, obwohl von Eudoxos oder vielleicht Demokrit stammende für die Exhaustionsmethode, die er zur Integralrechnung umbildete. Ihm schliesst sich Heron von Alexandrien, der grösste Mechaniker des 1. Jahrh. an; von seinem Kommentar sind uns Fragmente durch Proklos und An-Narizi (s. u. bei Heron) überliefert.

Aus der Zusammenstellung der Euklidstellen bei Heron durch Heiberg geht klar hervor, dass die Definitionen des Euklid schon zu Herons Zeit die uns überlieferte Form hatten, Euklid also damals schon, wie Tannery sagt, der unantastbare Klassiker der Elemente war.

Es ist das Parallelenaxiom und die Definitionen, überhaupt die ganze Anordnung der ersten Bücher, dann gewisse Inkongruenzen zwischen dem sechsten und den beiden letzten Büchern, der sonderbare Umstand, dass Euklid die Lehre von den Proportionen ganz allgemein im fünften Buch begründet, und dann die elementare Lehre von den Verhältnissen ganzer Zahlen noch einmal im siebenten Buche gibt, was von jeher die Kommentatoren in Tätigkeit gesetzt hat.

Die Inkongruenz bezieht sich besonders auf die Bewegung. In den sechs planimetrischen Büchern wird sie ängstlich vermieden; nur zum Beweis des 4. Satzes (ersten Kongruenzsatz) und seiner Umkehrung wird sie herangezogen, dagegen scheut sich Euklid im 11. und 12., den stereometrischen Büchern, absolut nicht die Definition der Körper auf die Bewegung zu stützen.

Man hat daraus schliessen wollen, »einen Homeros gab es nie, sondern acht bis zehn«, aber Euklid war Platoniker, und nach Platon und Aristoteles setzt der Begriff der Bewegung einen körperlichen Raum voraus.

Auf Heron folgt Gemīnos, bezw. Géminus, von dem Proclus berichtet, er habe die Verschiebbarkeit in sich der Schraubenlinie auf dem Rotationscylinder, wenn nicht gefunden, so doch gekannt. Es folgt eine Ära, in der die zusammenfassende eigentlich philosophische Geistesrichtung unter dem Einfluss des Aristoteles gegen die Ausbildung der einzelnen Spezialwissenschaften zurücktritt. Aus dieser Zeit, in der sich von mathematischen Disziplinen die Trigonometrie (ebene und sphärische) im Anschluss an die Astronomie entwickelt, wissen wir von besonderen Kommentaren nichts, aber von den Elementen, dass sie für unentbehrlich zur Ausbildung der angewandten Mathematiker galten.

Als gleichzeitig mit dem Christentum gegen diese nüchterne Periode in Anlehnung an den Theosophen Platon zunächst der Neupythagoreismus sich erhob, war es anfangs die arithmetische Seite des Euklid, die Bücher 7, 8, 9, die in Nikomachos von Gerasa um 100 n. Chr. dem »Elementenschreiber der Arithmetik« (M. Cantor) und in Theon von Smyrna ihre Kommentatoren fand. Um 300 lehrte dann zu Alexandria Pappos, dessen Kollektaneen von unschätzbarer Bedeutung sind. Pappos hat sicher einen Kommentar zum zehnten Buch geschrieben, von dem Reste im Vaticanus erhalten sind und der uns nach Heiberg wahrscheinlich ganz in einem noch unedierten Leydener Manuskripte erhalten ist.

Mit dem Neuplatonismus, jener seltsamen Mischung christlicher und platonischer Mystik, nimmt auch die Mathematik die platonische Richtung auf die Probleme, welche die geometrischen Grundbegriffe und die Methodik bieten energisch auf. Ich nenne Jamblichos, Porphyrios, von denen uns Spuren ihrer Scholien erhalten sind, Theon und Proklos, dessen Kommentar zum ersten Buch uns fast ganz erhalten ist. Der Kommentar, der bis 1873 nur in der Ausgabe von Simon Grynäus 1533 bei Herwagen gedruckt war, ist für die Geschichte der Mathematik bei den Hellenen einzig; Tannery, der zuverlässigste Detailforscher hellenischer Mathematik, nennt sein Verständnis geradezu das Problem der Geschichte der Mathematik.

Die Ausgabe von Friedlein 1873 ist philologisch sehr bedeutend, wenn auch nach Heiberg noch nicht das letzte Wort über Proklos, aber griechisch; es existiert nur die lateinische Übersetzung des Barocci von 1560, welche oft nur eine Wortübersetzung ist und von Taylor ebenso wörtlich ins Englische übertragen ist.

Als Justinian 529 die Schule von Athen, mit der die hellenische Kultur begann und schloss, aufhob und die Lehrer vertrieb, kam Euklid mit ihnen nach Persien und so an die Araber, wo er, wie schon gesagt, im 8. und 9. Jahrh. an Haggag und Ishaq Übersetzer fand. Sehr bald darauf muss es auch arabische Kommentare gegeben haben, wie aus der Ausgabe des Campanus hervorgeht; der schon erwähnte Nasir ed Din im 13. Jahrh. ist keineswegs unbedeutend, der auch zuerst die Trigonometrie als eigenen Zweig behandelt hat.

Die Renaissance macht Proklos bekannt, an ihn schliesst sich Commandinus und Clavius an. Der erstere wirkte besonders auf die Engländer, auf Savile, der die Professur des Euklid in Oxford begründete, wodurch Wallis und wohl auch Barrow (erste Ausgabe 1652) und durch diese Newton auf Euklid und die Beschäftigung mit den Grundlagen hingewiesen wurden.

Vor allem haben wir Robert Simson zu nennen, der direkt Commandinus zugrunde legt und der besonders auf die englische Schulmathematik vorn allerwesentlichsten Einfluss gewesen ist. Der Kommentar erschien 1756, Titel: die sechs ersten Bücher des Euklid mit Verbesserung der Fehler, wodurch Theon und Andere sie entstellt haben etc. mit erklärenden Anmerkungen (aus dem Englischen übersetzt von Rieder. Herausg. von Niesert, Paderborn 1806).

Clavius kennt den Proklos ganz genau; auch er harrt noch der deutschen Herausgabe, der er in hohem Grade wert ist; er hat neben Borelli (Euklides restitutus 1658) sicher auf seinen Ordensbruder Saccheri gewirkt, von dessen: Euklides ab omni naevo vindicatus (Mediol. in 4. 1733), die heutige sogenannte nicht-Euklidische Geometrie gezählt wird. Es ist wahrscheinlich, dass Lambert in Chur den Saccheri kennen lernte und fast sicher, dass Gauss wieder Lamberts Abhandlung im Hindenburg'schen Archiv von 1786 gelesen. Gauss wirkte dann auf seinen Jugendfreund Wolfgang Bolyai und durch ihn auf seinen Sohn Johann und durch Vermittelung von Bartels auf Lobatscheffski.

Für Frankreich ist ausser Clavius noch Petrus Ramus, der sogenannte »Besieger der Scholastik«, von Bedeutung. Ramus, dem es an philosophischer Tiefe fehlte, war nicht imstande den Euklid zu würdigen wie ganz besonders seine Kritik des zehnten Buches beweist, aber seine revolutionäre Anfechtung der Autorität kommt in Frankreich im 18. Jahrh. zur Geltung. Hier geht der Weg von Clavius über Tacquet 1659 und Arnauld durch Zurückgreifen auf Ramus zu Clairaut 1741 und Legendre 1794 und Bertrand 1810. Clairaut, dessen wahrhaft kühne Elemente der Geometrie vom Rechteck als der unmittelbar anschaulichen Figur ausgeht, hat sich auch auf die deutschen Ritterakademien, z. B. Ilfeld verbreitet. Es scheint, als ob auch Lambert ihn gekannt hat; doch ist der Ausgangspunkt vom Rechteck ein so natürlicher, dass ich selbst um 1880 ohne eine Ahnung von Clairaut oder Lambert zu haben, im Unterricht einen ganz ähnlichen Weg einschlug. Der ausserordentliche Erfolg und die grosse Verbreitung der »Elements« Legendres (1794) ist bekannt und berechtigt; noch heute beeinflussen sie den Unterricht auf den Mittelschulen nicht nur Frankreichs sondern Spaniens, Hollands und Deutschlands.

Euklid-Gegner.

Was die deutschen Schulen betrifft, so möchte ich auf eine Schrift Hubert Müller's aus Metz aufmerksam machen: »Besitzt die heutige Schulgeometrie noch die Vorzüge des Euklid-Originals?« Ich kann meine Kritik in der deutschen Literaturz. 1887 No. 37 nur dahin ergänzen: die deutsche Schulgeometrie hat sie nie besessen. Weder Johannes Vogelin, bekannt durch die Vorrede Melanchthons in der Ausgabe von 1536, noch des Conrad Dasypodius Volumen I und II, noch die Mathesis juvenilis Sturms oder Wolffs oder Kästners Anfangsgründe oder Thibauts Grundriss, von Kambly, Mehler, Henrici und Treutlein ganz zu schweigen, sind jemals dem Gange Euklids gefolgt. Dagegen waren die Studenten und die Lehrer bis etwa um 1860, wie die rasch auf einander folgenden Ausgaben beweisen, völlig mit dem Euklid vertraut. Von da an ändert sich die Sache, und ich bin sicher, dass es nur eine minimale Anzahl von Lehrern gibt, die den Euklid gelesen haben.

Einen Teil der Schuld an dem Sinken der Autorität Euklids tragen auch die Angriffe Schopenhauers gegen die »Mausefallenbeweise des Euklid«. Schopenhauer hatte als Künstler, der er war, für die intuitive Erkenntnis vollstes Verständnis, aber bar aller mathematischen Bildung, fehlte ihm jedes Verständnis für die logische Erkenntnis, die oft ebenso unmittelbar wie jene ist. Nun ist aber die euklidische Geometrie als Wissenschaft eine chemische Verbindung von Anschauung und Logik, und darum musste der Versuch, den z. B. Kosak in dem Nordhäuser Programm anstellte die Geometrie nur auf Anschauung zu begründen, gerade so scheitern wie der noch berühmtere Bolzanos von 1804 die Geometrie rein logisch zu begründen. Bolzano hat übrigens viel mehr von Leibniz entlehnt als bekannt ist. Der grosse »aemulus« Newtons zeigt sich auch in der Auffassung der Grundlagen als Widerpart.

Während Newton in der Vorrede der Principia phil. nat. ausdrücklich auf den Ursprung der mathematischen Grundgebilde aus der Mechanik hinweist: »Gerade Linien und Kreise zu beschreiben sind Probleme, aber keine geometrischen,« ist Leibniz bemüht der Anschauung so wenig als möglich einzuräumen. Es scheint wenig oder gar nicht bekannt, dass schon bei Lebzeiten Leibniz' Ansichten desselben über die Grundlagen der Geometrie veröffentlicht sind bei La Montre 1691: Les 47 propos. du I livre des Elém. d'Euclide avec des remarques de G. G. Leibniz.

Ähnlich wie in Deutschland liegt die Sache in Frankreich und Italien, nur in England folgt Ausgabe auf Ausgabe und noch ist der sogenannte Syllabus nicht zustande gekommen, der den Euklid verdrängen sollte, doch ist das Festhalten an Euklid mehr Schein als Wirklichkeit s. mein Referat von 1906, No. 4 p. 26. Auch in Schweden und Norwegen scheint sich Interesse für Euklid dauernd erhalten zu haben. Für Deutschland und Italien ist mit dem Ende des 19. Jahrh. ein Umschwung eingetreten, man kann geradezu sagen, dass die Kenntnis des Euklid durch die neueste Richtung, deren Haupt in Deutschland Hilbert, in Italien Veronese ist, wieder unentbehrlich wird.

Euklid's Elemente: Definitionen.

Über den Inhalt des Euklid muss ich sehr kurz sein, von meinen Hörern kann ich erwarten, dass sie den Euklid selbst lesen. Nur wenige Worte über das Wichtigste des Wichtigsten, die ὁροι, αιτηματα, κοιναι εννοιαι, die Definitionen, Postulate und Axiome des ersten Buches. Eine Bibliothek ist gleich über die ersten Worte geschrieben: σημειον εστι ὁυ μερος ουθεν (oft auch οὐδὲν).

Punkt ist das, dessen Teil nichts ist oder das keinen Teil hat. In beiden Fällen ist klar, dass Euklid, der seinen Platon und Aristoteles kannte, hiermit ausdrücklich gesagt hat, dass der Punkt nicht unter die Kategorie Grösse fällt; so klar dies ist, ist es doch niemals gedruckt worden, ausser bei Kant (Kritik d. reinen Vernunft p. 169), wo es frei nach Aristoteles heisst: Punkte und Augenblicke sind nur Grenzen, der Raum besteht nur aus Räumen, die Zeit aus Zeiten.

Die Definition ist sicher platonisch; Aristoteles sagt der Punkt ist μονας θεσιν εχουσα eine Einheit, welche Lage hat. Definition 4: ευθεια γραμμη εστιν, ἡτις εξ ισου τοις εφ' ἁυτης σημειοις κειται. Die Gerade ist diejenige Linie, welche gleichmässig durch ihre Punkte gesetzt ist. Auch über diese Definition existiert eine ganze Literatur. Man hat nicht berücksichtigt, dass Euklid die gerade Linie erst völlig definiert durch die Forderungen 1 und 2. Es soll gefordert werden 1) dass sich von jedem Punkte bis zu jedem Punkte eine und nur eine Strecke führen lasse, 2) und diese Strecke sich kontinuierlich auf ihrer Geraden (vielleicht richtiger bis zur Vollendung der Geraden) ausziehen lasse. Mit Definition 4 zusammen definiert sie die Gerade völlig, natürlich nicht anschaulich, denn die Anschauung der Geraden, die psychologisch ist und experimentell gewonnen wird, setzt Euklid bei seinen Hörern voraus. Euklid sagt, die Gerade ist eine unterschiedslose und unendliche Linie, die durch zwei ihrer Punkte völlig bestimmt ist.

Def. 7) Ein ebener Winkel entsteht, wenn zwei Linien der Ebene zusammentreffen, welche nicht in derselben Geraden liegen, durch die Biegung von der einen Linie zur andern. Die Definition des Winkels ist oft und mit Recht getadelt worden. In Schottens vergleichender Planimetrie füllen die Abänderungen 40 Seiten aus; die von mir herrührende »der Winkel ist die Grenze des Kreissektors bei über jedes Mass wachsendem Radius«, ist für den Unterricht ungemein zweckmässig, aber ich fand sie nachträglich schon 70 Jahre vor mir bei Stein in Gergonnes Annales Bd. XV (1824) p. 77. —

Das Wort κλισις. »Neigung« kann Richtungsänderung bedeuten, kann Drehung bedeuten etc. Proklos (Eudemos) setzt daher κλασις in περί γωνίας. d. h. Brechung. Apollonius definiert: der Winkel ist die Verengerung der Ebene oder des Raumes an einem Punkte infolge der Biegung von Linien oder Flächen.

Dass Euklid den gradlinigen Winkel abc im Wesentlichen als eine Flächengrösse auffasst, das folgt aus der Definition 9 des gradlinigen Winkels, wo περιεχουσαι »enthaltend« gebraucht wird, und aus der ständigen Anwendung der Winkel ὑπὸ αβγ d. h. περιεχομενη, der von dem gebrochenen Linienzug αβγ umschlossene und besonders da er unmittelbar vom Winkel als der nicht völlig begrenzten Fläche auf die Figur »οχημα« übergeht als der völlig begrenzten.

Euklid's Elemente: Forderungen.

Nun zu den fünf Forderungen:

Proklos sagt, dass die Forderungen von den Grundsätzen sich unterscheiden wie die Aufgaben von den Lehrsätzen. Die ersteren verlangen Konstruktionen, die jeder leicht ausführen kann, die andern Sätze, die jeder leicht zugibt.

Aristoteles sagt: die Forderung ermangelt des Beweises, den man gern geben möchte, wenn man nur könnte, während der Grundsatz von jedem ohne Weiteres als richtig anerkannt wird.

Die Unterscheidung des Proklos passt aber nur auf das schon genannte 1. Petitum und das 3. »Und um jedes Zentrum und mit jedem Abstand sich ein und nur ein Kreis zeichnen lasse«, d. h. dass vom gegebenen Zentrum aus durch jeden Punkt der Ebene ein und nur ein Kreis geht. Es enthalten aber No. 1 und 3 Forderungen, die, ich erinnere an Newton, von der angewandten Mechanik ihre Lösungen empfangen haben. Es darf daher nicht überraschen, wenn in den Handschriften eine ziemliche Verwirrung herrscht und sich z. B. in sehr vielen No. 5, das schon erwähnte Parallelenaxiom, als 11. Grundsatz findet und das schon vor Theon rezipierte unechte »zwei Gerade schliessen keinen Raum ein« sich im Vaticanus als Forderung 6 und in andern Codices als Grundsatz 9 findet. Der richtige Unterschied ist der: die Forderungen enthalten Grundtatsachen der Anschauungen und die Axiome Grundtatsachen der Logik.

Forderung 4: »Und alle rechte Winkel einander gleich seien«.

Sie ist nach Proklos von Geminos und anderen angegriffen als beweisbar. Ich gebe hier den Beweis des Geminos: Wäre αβγ < δεζ und legte man δεζ auf αβγ, so dass δε u. αβ zusammenfallen, so fiele εζ als βη innerhalb und dann wäre κβα das nach Definition des rechten Winkels = αβη ist > θβα > αβγ, also δεζ zugleich kleiner und grösser als αβγ (Fig.).

Der Beweis setzt voraus, dass die Verlängerung von ηβ sich nicht mit θβ deckt, d. h. also, dass eine Strecke sich nur auf eine Weise zu einer Geraden verlängern lasse. Darin hat H. Zeuthen recht, aber dies zu sagen wäre die Forderung eine seltsame Form und Euklid hat eine ganze Reihe stillschweigender Voraussetzungen ohne die keine geometrische, d. h. anschauliche Geometrie existieren kann, und die genannte Forderung hat er in No. 1 und 2 ausgesprochen.

Dem Geminos und den andern, vermutlich den Mechanikern Heron und Archimedes ist die strenge Aristotelische Auffassung der Bewegung verloren gegangen; der Beweis verlangt ja auch die Verschiebbarkeit und Drehung der Ebene in sich selbst, bezw. die dritte Dimension und die will und kann Euklid von seinem Standpunkte aus hier nicht zu Hilfe nehmen; so bleibt ihm nur übrig zur Forderung seine Zuflucht zu nehmen.

Euklid's Elemente: Grundsätze.

Über die 5. und letzte Forderung, das Parallelenaxiom, und dem was drum und dran hängt, kann ich auf F. Engel und P. Stäckel, Theorie d. Parallellinien (1895) und auf meine früheren Schriften verweisen. So gehe ich zu den Grundsätzen. Von Proklos sind als echt bezeichnet:

1) Was demselben (zu ergänzen: dritten) gleich ist, ist unter sich gleich.

2) Und wird Gleiches zu Gleichem hinzugesetzt, so sind die Ganzen gleich.

3) Und wird von Gleichem hinweggenommen, so sind die Reste gleich.

8) Und das Ganze ist grösser als sein Teil.

7) Und einander Deckendes ist gleich.

Euklid sagt: χοιναι εννοιαι. Allen Vernünftigen gemeinsame Einsicht.

Proklos sagt: Axiome eigentlich »Meinungen«, aber nach dem Sprachgebrauch des Aristoteles allgemein angenommene logische Sätze, die man nicht beweisen kann, weil sie die logischen Grundlagen des Beweises sind. Proklos hat nur die 5 angeführt, richtig 8 vor 7, da 7 nicht rein logisch ist, sondern von dem Zusammenfallen in der Anschauung ausgeht um daraus den logischen Schluss der Gleichheit zu ziehen.

Das Axiom 7 ist von Schopenhauer »die Welt als Wille und Vorstellung« T. 2 S. 144 angegriffen, weil es entweder eine Tautologie ist oder eine Bewegung voraussetzt. Es ist von Bolzano und Grassmann (Leibniz) durch das Prinzip ersetzt worden: »Dinge, deren bestimmende Stücke gleich sind, sind gleich« (eine andere Fassung für »gleiche Ursachen gleiche Wirkungen«).

Schopenhauer hat Euklid gar nicht verstanden; Euklid braucht Axiom 7 zuerst beim Beweis des ersten Theorems, Satz 4, der erste Kongruenzsatz, und dort im Grunde nur als Axiom von der Gleichförmigkeit des Raumes, bezw. in dem Sinne Bolzanos und Grassmanns. Ich halte es für einen Fehler, dass Euklid nicht den 1. und 3. Kongruenzsatz in die Forderungen aufgenommen hat.

Technologie der Elemente.

Es folgen nun die 48 »Protasis« (Propositionen d. i. Sätze) des ersten Buches. Die Sätze zerfallen in »Probleme«, Aufgaben, die zur Erzeugung eines Gebildes führen und »Theoreme« Lehrsätze. Den Unterschied definiert Proklos S. 201, wo er, um mit P. Tannery (Géométrie grecque S. 87) zu sprechen, von der Technologie der Elemente handelt wie folgt: Bei den Problemen handelt es sich darum sich Fehlendes zu beschaffen, anschaulich hinzustellen und mit den Kunstmitteln (Lineal und Zirkel) zu erzeugen. Im »Theorem« nimmt man sich vor das Vorhandensein einer Eigenschaft bezw. das Nichtvorhandensein zu sehen, zu erkennen, zu beweisen. Jedes Problem aber und jedes Theorem, das aus seinen vollständigen Teilen zusammengesetzt ist, muss folgendes in sich enthalten: 1) Vorlage (προτασις). 2) Feststellung des Gegebenen (εκθεσις.) Voraussetzung. 3) Feststellung des Geforderten (διορισμός.) Behauptung. 4) Konstruktion (κατασκευη.). 5) Beweis (απόδειξις.) 6) Schluss (συμπέρασμα).

Die Protasis sagt aus, was gegeben und was gefordert wird; denn die vollständige Protasis besteht aus beiden.

Die Ekthesis setzt das Gegebene an und für sich, (d. h. ohne Rücksicht auf das Geforderte) genau auseinander und arbeitet dadurch der Untersuchung vor.

Der Diorismos aber macht das Gesuchte, es sei, was es sei, an und für sich deutlich. Der Ausdruck Diorismos wird hier bei Proklos anders gebraucht als bei Pappos; Peyrard hat Prodiorismos: Bei Pappos bezeichnet Diorismos genau das, was wir heute Determination nennen, d. h. die Angabe derjenigen Einschränkungen in bezug auf die gegebenen Stücke, welche zur Ausführbarkeit der Konstruktion nötig sind.

Die Kataskeuē fügt das hinzu, was dem Gegebenen zur Erlangung des Gesuchten mangelt. Proklos sagt zur »Jagd« θηραν und braucht das Bild wiederholt, so alt ist das Bewusstsein des Kampfes des Mathematikers mit seinem Problem.

Die Apodeixis leitet das Vorliegende logisch von dem, was bereits feststeht, ab.

Das Symperasma aber kehrt wieder zur Vorlage zurück, indem es den bewiesenen Satz klar und deutlich ausspricht. Und dies sind alle Teile sowohl der Probleme als der Theoreme.

1) πρότασις.

Technologie, Beispiel.

Ich gebe ein Beispiel (S. 5): Im gleichschenkligen Dreieck sind die Winkel an der Basis einander gleich, und werden die gleichen Schenkel verlängert, so sind die Winkel unterhalb der Basis einander gleich.

2) εκθεσις.

ΑΒΓ sei das gleichschenklige Dreieck mit ΑΒ gleich ΑΓ und es mögen auf ihrer Geraden ΑΒ und ΑΓ verlängert werden um ΒΔ und ΓΕ.

3) διορισμός.

Ich behaupte etc.

4) κατασκευή.

Man nehme auf ΒΔ einen beliebigen Punkt Ζ an, von ΑΕ nehme man ΑΗ gleich ΑΖ weg und ziehe ΖΓ und ΗΒ. (Fig.)

5) αποδειξις.

Dann ist ◁ΑΖΓ ≅ ΑΗΒ (Satz 4), folglich ◁ΑΓΖ = ΑΒΗ und ∢ΑΖΓ = ΑΗΒ, und da ΑΖ = ΑΗ und ihr Teil ΑΒ und ΑΓ auch gleich, so ist (Ax. 3) ΒΖ = ΓΗ; und, da bereits bewiesen, dass ΖΓ = ΒΗ und ∢ΒΖΓ = ΒΗΓ, so ist (4) Dreieck ΒΖΓ ≅ ΒΗΓ, folglich ∢ΖΒΓ = ΗΓΒ, und ΒΓΖ = ΓΒΗ. Da nun der ganze Winkel ΑΒΗ = dem ganzen Winkel ΑΓΖ erwiesen wurde, und die Teile ΓΒΗ und ΒΓΖ gleich, so ist (Ax. 3) ∢ΑΒΓ = ΑΓΒ und dies sind die Basiswinkel. Die Gleichheit aber von ΖΒΓ und ΗΓΒ wurde schon gezeigt und sie liegen unterhalb der Basis.

6) συμπέρασμα.

Also sind im gleichschenkligen Dreieck etc.

M. H.! ich habe dies Beispiel absichtlich gewählt, weil es zeigt, wie turmhoch Euklid über den Beweisen unserer geometrischen Lehrbücher steht, und weil aus Heibergs zitierter Arbeit über die Mathematik bei Aristoteles folgt, dass hier ein bedeutender Fortschritt des Eukleides über den Theudios vorliegt. Es fällt Euklid gar nicht ein den Satz zu benutzen: wenn die Winkel gleich sind, so sind ihre Nebenwinkel gleich.

Proklos fährt fort: Am notwendigsten aber und in allem vorhanden sind die Vorlage, der Beweis und der Schluss. Denn man muss a) vorher wissen, was zu suchen ist und b) es durch eine Kette von Schlüssen beweisen und c) das Resultat einsammeln. Die andern Teile fehlen mitunter wie Diorismos und Ekthesis bei dem Problem: Ein gleichschenkliges Dreieck zu konstruieren, worin jeder Basiswinkel das Doppelte des Winkels an der Spitze. Dies Fehlen tritt ein, sagt Proklos, wenn die Vorlage kein Gegebenes enthält (d. h. wenn es ausgelassen ist) wie in dem zitierten Beispiel die Basis des Dreiecks wie in B. X S. 20 eine 4. Wurzel zu konstruieren (nämlich bei gegebener aber nicht erwähnter Einheitsstrecke).

Technologie der Elemente, Lemma, Porisma.

Die Konstruktion aber fehlt in weitaus den meisten Theoremen, da die Ekthesis hinreicht um ohne einen Zusatz (nämlich von Zeichnung) das Vorgesetzte (d. i. die Figur, um die es sich handelt) sichtbar zu machen. Hin und wieder findet sich ein Hilfssatz, Lemma, (von λαμβάνω) und Zugaben, Porisma. Lemma ist eigentlich in der Geometrie ein Satz, der noch des Beweises bedarf, den wir für eine Konstruktion oder einen Beweis einstweilen annehmen vorbehaltlich des Beweises, und der sich durch diesen Vorbehalt von den Axiomen und Forderungen unterscheidet, welche wir ohne dass sie bewiesen, zur Rechtfertigung anderer Sätze herbeiziehen. Porisma ist ein Zusatz, der sich beim Beweis eines anderen als eine »Gottesgabe« ungewollt von selbst ergibt, im wesentlichen also eine andere Fassung des bewiesenen Satzes. Übrigens sind die meisten, ich möchte sagen alle Lemmata und vielleicht auch die Porismata verdächtig, so fehlt z. B. das Porisma zu I, 15: (Scheitelwinkel sind gleich) »Wenn zwei Gerade einander schneiden, so sind die vier Winkel vier Rechten gleich«, obwohl es sich bei Proklos findet in den besten Handschriften.

Zu bemerken ist, dass in den guten Handschriften sich weder Überschriften noch Bezeichnungen der einzelnen Teile finden. Die Sätze sind numeriert und dies ist sicher nicht original, da Euklid nicht auf die betreffende Nummer verweist, sondern den einschlagenden Satz vollständig angibt. Dies Schleppende der Darstellung veranlasste vermutlich die Bezifferung und zwang zu Abkürzungen. Übrigens erklärt sich die Breite, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das Original zu mündlichem Vortrag im Kolleg vor Studenten der Universität Alexandria bestimmt war. Und dies ist ein Umstand, der bei der Klage über Euklid und Euklids Methode viel zu wenig berücksichtigt ist; das Buch war für reife Männer bestimmt nur die Torheit der Scholarchen hat aus einem der tiefsinnigsten Werke aller Zeiten ein Buch für Schulknaben gemacht.

Euklids Elemente, Buch 1 bis 5.

Die Inhaltsangabe sei ganz kurz als Schluss angefügt. Buch 1, das bedeutendste, zerfällt in drei der Ausdehnung nach sehr ungleiche Teile. Satz 1–26 die wichtigsten Sätze über Dreiecke und Winkel mit den drei Kongruenzsätzen und unabhängig vom Parallelenaxiom; Satz 27–33 Parallelentheorie mit Satz 32 Winkelsumme; Satz 34–48 die Flächenvergleichung, (47 Pythagoras, 48 seine Umkehrung).

Das 2. Buch ist längst als geometrische Algebra erkannt, in Ausführung des Pythagoras wird das Rechnen mit Flächen gelehrt, z. B. √a2 + b2, √a2 - b2, dann die Multiplikation von Aggregaten, es geht bis zur Auflösung quadratischer Gleichungen in geometrischer Einkleidung, zunächst nur im speziellen Fall und endet mit dem geometrischen Existenzbeweis der Quadratwurzel durch die Verwandlung des Rechtecks in ein Quadrat.

Das 3. Buch handelt vom Kreis, aber die Kreisberechnung wird nicht gelehrt.

Buch 4 handelt von den dem Kreis ein- und umgeschriebenen Figuren, speziell von der Kreisteilung; es geht bis zur Konstruktion des regulären 15Ecks (ebenso wie wir: 215 = 13 - 15) S. 16; der dadurch merkwürdig ist, dass sogar die Analyse in die Konstruktion verwebt ist. Das 4. Buch hat seine Fortsetzung im Anfang des 12. Buches, wo in Satz 2: »Kreise verhalten sich wie die Quadrate ihrer Durchmesser«, alles steht, was bei Euklid über die Quadratur des Zirkels vorkommt.

Euklids Elemente, Buch 5 und 6.

Das 5. Buch enthält die Lehre vom Verhältnis und der Gleichheit der Verhältnisse (Proportionen) gleichartigen Grössen in vollständiger Allgemeinheit. Es ist mit grösster Wahrscheinlichkeit ein Werk des Eudoxos und scheint nur wenig von Euklid überarbeitet zu sein, da wo statt λέγεται steht καλεισθω. Auf sein höheres Alter deutet noch das Ringen mit dem Ausdruck und die oft schwer verständliche Fassung der Sätze hin. Es fehlt die Definition des Begriffes »kontinuierliche Grösse«, sie war aber durch Aristoteles gegeben, vermutlich auch von Eudoxos. Clavius (Ausgabe von 1607 p. 436) hebt wie Campanus S. 3 hervor, dass dem 5. Buch ein Axiom zugrunde liegt, welches Clavius formuliert: Quam proportionem habet magnitudo aliqua ad aliam, eandem habet quaevis magnitudo proposita ad aliquam aliam, et eandem habebit quaepiam alia magnitudo ad quamvis magnitudinem propositam. — »Das Verhältnis, das irgend eine Grösse zu einer andern hat, das wird jede beliebige gegebene Grösse zu irgend einer andern haben und eben dasselbe wird irgend eine Grösse zu jeder gegebenen Grösse haben«. Es ist das Axiom im Grunde nichts anderes als die Umkehrung des Weierstrass'schen Axioms: Zu jedem Punkt in der Zahlenreihe gibt es eine Zahl. Es wird zwar immer behauptet, die Hellenen hätten in der Irrationalzahl keine Zahl gesehen, aber aus dem 5. Buch geht unwiderleglich hervor, dass sie den Zahlbegriff in voller, fast wörtlich mit der Weierstrass'schen Auffassung sich deckender Schärfe besassen und dass Euklid wie Eudoxos im Verhältnis zweier gleichartiger Grössen nichts anderes sahen als eine Zahl. Und das erhellt schon aus dem Kunstausdruck »λόγος« für Verhältnis; denn Logik ist die Rechnung, Logistik die Rechenkunst und Logos heisst im Grunde nichts anderes als Masszahl einer Grösse in bezug auf eine andere.

6. Buch: Ähnlichkeitslehre. Mit dem 6. Buch schliessen die eigentlichen planimetrischen Bücher; wohl kommen noch einzelne planimetrische Sätze in den stereometrischen Büchern vor, wie z. B. die auf die stetige Teilung bezüglichen Sätze XIII, 1–12 und besonders der Satz XII, 1 und 2, aber sie werden doch nur zum Zweck ihrer Verwendung für stereometrische Konstruktionen und Satze gegeben.

Nachdem so die Planimetrie zu einem gewissen Abschluss gekommen war, sind die Bücher 7, 8, 9 der Arithmetik oder eigentlich besser der Zahlentheorie gewidmet.

Das 7. Buch knüpft geistig an die Lehre von den Verhältnissen an und lehrt den Algorithmus des Aufsuchens des grössten gemeinsamen Teilers, auf dem unsere ganze Zahlentheorie ruht, gerade so wie wir noch heute, durch die Kette von Teilungen.

Euklid, Elemente, Buch 8 bis 12.

Buch 8 behandelt die Proportionen noch ausführlicher, d. h. die Lehre von den Gleichungen ersten Grades.

Das 9. Buch beschäftigt sich besonders mit den Primzahlen und enthält den Satz, der der ganzen Entwicklung nach für Eigentum des Euklid gehalten werden muss, den einfachen Beweis, dass die Menge der Primzahlen unendlich: Entweder 1 · 2 · 3 · ... p + 1 ist keine Primzahl, dann ist sie durch eine Primzahl > p teilbar oder sie ist prim. Die erste Zahl die keine Primzahl ist, gibt 2 · 3 · 5 · 7 · 11 · 13 + 1 = 30031, die zweite das Produkt der Primzahlen von 2 bis 17 + 1, welche schon durch 19 teilbar ist.

Das 10. Buch zum Teil von Theätet herrührend, handelt ausführlich von den Irrationalzahlen, welche mit Zirkel und Lineal konstruierbar sind, d. h. im Grunde von den Gleichungen 4. Grades, welche sich auf quadratische reduzieren, dabei kommt auch die allgemeine Lösung des Pythagoras gleichzeitig vor durch die Formeln: αβγ; αβ2 - αγ22; αβ2 + αγ22. Der letzte Satz gibt dann den geometrischen Beweis von der Inkommensurabilität von Seite und Diagonale des Quadrats.

Das 11., 12., 13. Buch sind dann die stereometrischen Bücher. 11. Buch die Anfangsgründe, der granitne Satz vom Lote auf der Ebene, dann die dreiseitige Ecke, das Parallelepipedon, das Prisma.

Das 12. Buch enthält im wesentlichen Körperberechnung, d. h. es gibt nicht die wirklichen Formeln, sondern beweist nur, dass Pyramide bezw. Kegel 1/3 vom Prisma bezw. Cylinder sind, beweist als Lemma mittelst des Exhaustionsbeweis, den er Buch 10 formuliert hat: »Sind zwei ungleiche Grössen gegeben und nimmt man von der grösseren die Hälfte weg und so fort, so kommt man zu einem Reste, welcher kleiner ist als die gegebene kleinere Grösse« dass Kreise sich wie die Quadrate ihrer Durchmesser verhalten und damit dass Kugeln sich wie die Kuben ihrer Durchmesser verhalten.

Euklid, Elemente Buch 13.

Buch 13 behandelt die platonischen Körper und gibt einleitend 12 Sätze, die das Thema von Buch 6, die Kreisteilung oder die Konstruktion regulärer Polygone, noch einmal aufnehmen und geht dann auf die regulären Körper ein; es schliesst mit dem schon hervorgehobenen Beweis der Nichtexistenz eines sechsten regulären Körpers. Wir könnten auf Euklid denselben Schlusssatz wie bei Platon anwenden, Euklid hat das unscheinbare aber unerschütterliche Fundament geschaffen, auf dem sich der stolze Bau des Archimedes erheben konnte, dem wir uns jetzt zuwenden.

Archimedes (vita).

An Euklid, dem »Stoicheiotes«, schliesst sich Archimedes an, der Erzdenker, wie ich seinen Namen übersetze, der princeps matheseos des Altertums und vielleicht aller Zeiten, der nur an Galilei, Gauss, Newton und Fermat seines Gleichen hat. Gleich gross als Mathematiker, Physiker, Mechaniker und Astronom. Auch von seinem Leben wissen wir wenig, eine Biographie seines Zeitgenossen Herakleides, welche dem Eutokios noch vorlag, ist völlig verloren. Das Todesjahr steht fest, er fiel bei der Einnahme seiner Vaterstadt Syrakus durch. Marcellus der Roheit eines Soldaten zum Opfer; also 212, und zwar hochbetagt; zum Schmerz des Marcellus, der ausdrücklich befohlen hatte des Archimedes zu schonen. Tzetzes sagt, (chiliad. II, 36, 105) im Alter von 75 Jahren, dann war er 287 geboren, jedenfalls hochbetagt. Sein Vater soll der Astronom Pheidias gewesen sein und dann wäre auch Archimedes gleich wie Aristoteles auf die exakten Wissenschaften erblich hingewiesen. Plutarch erzählt im Leben des Marcellus, dass er dem Könige Hiero II. dem trefflichsten Regenten, den Syrakus besessen, nahe verwandt gewesen und jedenfalls war er ihm und seinem Sohne Gelon eng befreundet. Eine andere Version lässt ihn durch Missverständnis einer Stelle bei Cicero in den Tusculanen V, 23 aus armer Familie und von niedriger Geburt sein. Der »humilis homunculus« bezieht sich nur auf das traurige Ende des Archimedes. Diese andere Version ist so gut wie ausgeschlossen, wir wissen, dass er jede gewinnbringende Tätigkeit geringschätzte, ja sogar jede praktische, und nur auf Bitten des Hiero und schliesslich bei der Verteidigung seiner Vaterstadt sein technisches Genie betätigte. In den tiefsten rein wissenschaftlichen Spekulationen fand er seine Befriedigung und im ganzen späteren Altertum wurde ein schwieriges Problem Archimedeon problema genannt vergl. Cicero ep. ad Atticum 12, 4; 13, 28 etc. (Bunte, Progr. Leer 1877, Heiberg, Quaest. Archim. 1879). Und auch sein Tod soll nach mehrfach beglaubigter Angabe eine Folge seiner Vertiefung in die Wissenschaft gewesen sein. Jedenfalls war er nach dem schmucklosen und glaubhaften Bericht des Livius so tief in Gedanken versunken, dass er die Einnahme von Syrakus nicht bemerkt hat. Das »Noli turbare circulos meos« (Störe ja nicht meine Kreise) geht auf Tzetzes zurück oder richtiger auf Diodor., die andere Version, die G. Valla nach Zonaras berichtet, lautet: παρα ταν κεφαλάν και μα παρα ταν γραμμάν (Verletze den Kopf, aber nicht meine Linie).

Niemals ist das Wesen des Archimedes treffender verkündet worden, als es Schiller, Dichter und Prophet im Horazischen Sinne, mit dem Epigramm »Archimedes und der Schüler« vermocht hat.

Zu Archimedes kam ein wissbegieriger Jüngling,
Weihe mich, sprach er zu ihm, ein in die göttliche Kunst
Die so herrliche Frucht dem Vaterlande getragen
Und die Mauern der Stadt vor der Sambuca beschützt.
Göttlich nennst du die Kunst? Sie ist's, versetzte der Weise,
Aber das war sie, mein Sohn, eh' sie dem Staat noch gedient.
Willst du nur Früchte von ihr, die kann auch die Sterbliche zeugen,
Wer um die Göttin freit, suche in ihr nicht das Weib.

Die Sambuca war eine von Marcellus mit grossen Kosten erbaute gewaltige Maschine, durch welche die Mauern der Achradina, der Seefestung von Syrakus, in der vermutlich Archimedes selbst wohnte, zertrümmert werden sollte. Archimedes zerstörte die Sambuca durch drei hintereinander folgende Würfe. Seine Maschinen (organa), Wurfmaschinen — Katapulte und Ballisten —, und eiserne Krane, die mit ihrem Arm die Schiffe der Römer ergriffen, hochhoben und mit furchtbarer Gewalt fallen liessen, wirkten derart, dass die Römer, sobald nur ein Seil sichtbar wurde, davonliefen. Plutarch lässt Marcellus sagen: Sollten wir nicht aufhören gegen den mathematischen Briareus, den hundertarmigen Giganten zu kämpfen. Und er hob tatsächlich die Belagerung auf und schloss die Stadt nur ein, welche erst durch Verrat und Überrumpelung in seine Hände fiel.

Aus dem Leben des Archimedes steht soviel fest, dass er, vermutlich im Mannesalter, in Alexandria war, und dort wenn auch nicht unter Euklid selbst aber unter Schülern des Euklid studierte. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er bei dem ausgezeichneten Mathematiker und Astronom Konon aus Samos hörte, mit dem er befreundet war und dem er später seine Entdeckungen zusandte, wie er selbst berichtet. Nach Pappos (Collect. I p. 234) ist Konon, von dessen Schriften nichts erhalten ist, der Entdecker der Archimedischen Spirale gewesen (s. u.). Auch mit Eratosthenes muss Archimedes dort verkehrt haben, das berühmte »Rinderproblem« ist an jenen gerichtet, und wenn auch die Verse des Epigramm nicht echt sein mögen, das Problem selbst und die Sendung an den Alexandriner zu bezweifeln liegt kein Grund vor. Seit Sommer 1906 ist der Verkehr zwischen beiden Mathematikern durch das von J. L. Heiberg entdeckte »Ephodion« (s. u.), erwiesen. Dort in Alexandria hat er die berühmte Schraube erfunden, die κοχλιας, nach der Schnecke mit gewundenem Gehäuse, der Purpurschnecke Kochlos, aber auch Helix genannt wurde, mit der das Wasser aus dem Nil auf die Felder gehoben wurde.

Zurückgekehrt beschäftigte er sich mit den subtilsten mathematischen Untersuchungen, insbesondere mit Ausbildung der infinitesimalen Methoden und nur zu seiner Erholung mit praktischer Mechanik. Berühmt sind die von Cicero in de republica beschriebenen Globen, von denen namentlich die Hohlkugel, ein gewaltiges, mit Wasserkraft getriebenes Planetarium für ein Wunderwerk galt. Es war das einzige Beutestück, das Marcellus aus Syrakus für sich nahm. Auch die einzige Schrift, welche Archimedes über Technik verfasst hat, ist nach dem Zeugnis des Plutarch die Schrift über Anfertigung von Globen, περι σφαιροποιαν.

Von Archimedes werden zwei Züge autoritär berichtet und besonders der erste so gut beglaubigt, dass er wahr erscheint. König Hiero liess unter Leitung des Archimedes ein prächtig ausgerüstetes Riesenschiff bauen, etwa unsern Salondampfern vergleichbar, das Athenaios (2 Jahrh. nach Chr., Alexandriner, der uns Auszüge aus sehr vielen verlorenen Werken in seinen Deipnosophistae-Gastmahle Gelehrter — erhalten hat; siehe Details über das Schiff bei Bunte l. c.) ausführlich beschreibt. Hiero bezweifelte ob man das Riesenschiff vom Stapel lassen könne, da zog Archimedes mit dem von ihm erfundenen Flaschenzug allein ein beladenes Schiff, Proklos sagt sogar das Schiff, ans Ufer indem er sagte: δός μοι πᾷ στῶ καὶ τὰν γᾶν κινήσω. (Gib mir einen festen Punkt, und ich will die Erde bewegen.) Proklos (Friedlein p. 63) berichtet weiter: »Απο ταυτης, εφη, της ἡμερας περι παντος Αρχιμηδει λεγοντι πιστευτεον«. Und der erstaunte Hiero sagte: Von heute ab mag Archimedes behaupten was es sei, man muss ihm Glauben schenken. Das Hebelgesetz, die Grundlagen der Statik hat unbezweifelt Archimedes bewiesen vergl. Pappos VIII, 19.

Die andere Anekdote knüpft an seine Auffindung des Hydrostatischen Grundgesetzes von der gleichmässigen Fortpflanzung des Druckes in Flüssigkeiten an, des Archimedischen Prinzip: »Der Auftrieb ist gleich dem Gewicht der verdrängten Wassermasse«. Sie wird uns von Vitruv, dem bedeutendsten Römischen Baumeister, dem Lehrmeister unserer Architekten und Ingenieure, in de Architectura IX mitgeteilt. Es ist die bekannte in jeder Aufgabensammlung stehende Gleichung von der Krone des Hiero, Proklos nennt l. c. Gelon, doch hat H. Heiberg höchst wahrscheinlich recht, dass richtiger Hieron zu lesen ist, da Proklos zu Gelon nichts hinzusetzt. Der König glaubte sich von seinem Goldschmied betrogen, der Silber unter das Gold gemischt, und stellte die Aufgabe, ohne die Krone aufzulösen, herauszubringen, wieviel Gold und wie viel Silber die Krone enthalte. Archimedes habe sich im Bade mit dem Problem beschäftigt und als er das Steigen des Wassers in der Wanne beobachtet, sei er mit dem Ausruf, εύρηκα, εύρηκα, ich hab's (gefunden) ich hab's, nackt aus dem Bade gesprungen. Die ganze Badegeschichte fehlt bei Proklos, der nur angibt, dass jener die ihm gestellte Aufgabe gelöst habe.

Sicher steht dagegen die Tatsache, dass Archimedes den Wunsch ausgesprochen, man möge ihm auf sein Grab eine von einem Cylinder umschlossene Kugel setzen, mit der Angabe des Verhältnis der Volumina 2 : 3, denn auf diese Entdeckung legte er den grössten Wert, (man denke an Newton und den Binom). Marcellus hat den Wunsch erfüllt, Cicero berichtet l. c. dass er, der 75 v. Chr. als Quästor auf Sicilien seines Amtes waltete, an dieser Inschrift das verfallene Grabmal des Archimedes erkannt und das Grab wieder in Stand gesetzt habe.

Archimedes' Werke.

Und nun zu dem, was unsterblich an Archimedes ist, seine Leistungen und Schriften. Die grosse Bedeutung seiner Entdeckungen für die reine und angewandte Mathematik haben bewirkt, dass nur ein verhältnismässig kleiner Bruchteil wirklich verloren gegangen ist, wenn uns auch die Originalfassungen vielfach fehlen. Archimedes sprach und schrieb im dorischen Dialekt und seine Schriften sind erst später attisiert. Einen Teil kennen wir aus arabischen Quellen und lateinischen Übersetzungen.

Archimedes verdankte seine Leistungen der so seltenen Verbindung des höchsten experimentellen mit höchstem spekulativen Scharfsinn. Schon in der Einleitung habe ich das Citat aus Herons Metrika angeführt und die Auffindung des Kugelvolums, und ebenso ruht, wenn nicht die Einführung, doch sicher die Benutzung des Schwerpunktes auf experimenteller Grundlage. Aber was er auf dem Wege des Experimentes gefunden, das vermochte er zu beweisen mit Hilfe von Infinitesimalbetrachtungen, die er sehr früh mit vorbildlicher Klarheit und Schärfe ausgebildet haben muss. Es scheint mir ganz sicher zu sein, dass sein erster rein mathematischer Vorwurf das Problem der Bogenteilung und Quadratur des Zirkels, welche ja schon Dinostratos zusammengezogen hatte, gewesen ist, wenn auch die Kreismessung später redigiert ist. Dies geht daraus hervor, dass die an Konon gesandten Sätze über die »Archimedische Spirale« zeitlich so ziemlich das Erste sind, was er veröffentlicht hat. Die Spirale selbst soll ja Pappos zufolge Konon und nicht Archimedes gefunden haben, die Benutzung derselben zur Winkelteilung und Kreismessung und die Auffindung ihrer Eigenschaften sind sein Eigentum. Die Beweise der Sätze fand er mit Hilfe des Infinitesimalen, auf Differentialrechnung beruht seine Konstruktion der Tangente an die Spirale, die nichts anderes ist als die Roberval-Torricelli'sche Methode, auf Integration die Flächen- und Volumenbestimmung. Freilich sah auch er sich durch die Rücksicht auf seine Leser genötigt, die Differentialrechnung hinter dem sogenannten Archimedischen Prinzipe (s. u.) zu verstecken, wie wir das schon bei Eudoxos konstatierten, sind doch m. E. die Schriften des Demokrit nur deswegen verloren gegangen, weil sie mangels Konzessionen an die Beschränktheit nicht verstanden wurden. Eine der frühesten Anwendung muss der Hauptsatz der κύκλου μέτρησις, der Kreismessung, gewesen sein, und die Auffassung des Kreises als Grenze der regulären Polygone.

Archimedes' Werke (Ephodion).

Wie klar sich Archimedes über die Tragweite der Infinitesimalrechnung gewesen und wie scharf er den Grenzbegriff erfasst hat, ist jetzt durch die Wiederauffindung des bis 1907 verloren geglaubten Ephodion (εφοδιον) erwiesen. J. L. Heiberg hat durch die Entzifferung des Palimpsest [publiziert in deutscher Übersetzung Eneström Folge III, 7, 1907 S. 31 ff. und griechisch Hermes 42 Heft 2] auf den ihn H. Schoene, der Auffinder der Metrika des Heron hingewiesen hatte, seinen ohnehin schon überreichen Verdiensten um die Geschichte Hellenischer Wissenschaft die Krone aufgesetzt. Er hatte dabei die Freude die Vermutung die er in dem Quaestiones Archimedeae über den Inhalt des εφοδιον.εφοδιον 1879 ausgesprochen hatte, 1907 vollbestätigt zu sehen. Es heisst da: Potius crediderim, εφοδιον esse librum methodi mathematicae scientiam complectentem ...; εφοδος enim post Aristotelem significat methodum.

Die Schrift mag »druckfertig« gemacht sein wann sie will, ihr wesentlicher Inhalt fällt nicht nur vor Kugel und Cylinder, sondern bildete mit dem Begriffe des statischen Moments den Ausgangspunkt, gewissermassen das Leitmotiv seiner ganzen wissenschaftlichen Tätigkeit, wenigstens soweit Mechanik und Geometrie in Betracht kommen. In einem Vortrag zu Frankfurt auf der Naturforscherversammlung 1893 sagte ich schon, dass Galilei so genau an Archimedes anknüpfe, als habe er bei ihm gehört. Das Ephodion zeigt, dass selbst die Form Galileis und noch mehr Cavalieris, seines Schülers, merkwürdig mit Archimedes übereinstimmt. Die Renaissance besass gewiss ein ganz Teil Originaltexte die inzwischen verloren gingen, wie das von der Sammlung Regiomontans feststeht und von des Archimedes-Schrift περι οχουμενων., von der übrigens ein grosses Stück sich im selben Palimpsest vorgefunden hat und es scheint mir wahrscheinlich, dass ein Exemplar des εφοδιον Galilei und Cavalieri vorgelegen hat. So ist der Kunstausdruck für das Integral, den auch Leibniz zuerst von Cavalieri entnommen, »omnia«, eine Übersetzung des »παντα« aus dem Ephodion, so die Stelle Hermes S. 250 Z. 15–19 von και bis τμημα. und 254, 21 von συμπληχθεντος bis κώνου., welche den Archimedes, der doch seinen Aristoteles genau genug kannte, wie seiner Zeit Cavalieri dem Verdacht aussetzten die Fläche als Summe von Linien, den Körper als Summe von Flächen anzusehen. Die Identität der Exhaustionsmethode mit der Differentialrechnung hat kein Geringerer als Wallis zuerst hervorgehoben; ich verweise hierfür auf die 2. Auflage meiner Didaktik und Methodik, Baumeisters Handbuch IX pg. 168 (1907).

Archimedes' Werke (Ausgabe).

Archimedes' gesammelte Werke sind griechisch und lateinisch zuerst 1544 bei Herwagen in Basel, der auch in Strassburg eine Druckerei besass, gedruckt worden, der Herausgeber Thomas Grechauff nennt sich auf dem Titelblatt nicht. Der lateinische Text ist weit besser als der griechische, Heiberg macht es wahrscheinlich, dass wir es hier mit den Verbesserungen Regiomontans zu tun haben und ausserdem hat noch der von Nürnberg aus 1529 nach Strassburg berufene Christian Herlin wesentlichen Anteil. Das Exemplar, welches nach mannigfachen Schicksalen jetzt die Bibliothek des Lyceums ziert, kann sehr wohl Herlins eigenes Exemplar gewesen sein, der ursprünglich als Städtischer Rechenmeister, dann als erster Mathematiker des Sturmschen (jetzigen Protestantischen) Gymnasium bis 1562 in Strassburg wirkte. Die nächste Gesamtausgabe griechisch und lateinisch ist die Oxforder Ausgabe in Riesenformat des Giuseppe Torelli von 1792, sie wäre ein Meisterstück geworden, wenn nicht der 1781 im 61. Lebensjahr erfolgte Tod des hervorragenden Gelehrten die endgültige Ausgabe in die Hand des Engländers Abraham Robertson gelegt hätte, der sie vergl. Heiberg, Quaest. Arch. p. 110 und E. Nizze p. IX verdorben hat. Heiberg erwähnt noch wenig rühmend die Ausgabe des Rivaltus Paris 1615 fol., sie ist aber durch gute Figuren bemerkenswert. Torelli hat das Verdienst, durch Benutzung der Begleitbriefe mit denen Archimedes die meisten Werke in die Welt gesandt, und der eignen Zitate die Schriften in chronologisch richtigere Reihenfolge gebracht zu haben, als sie der Codex Florentinus, der wichtigste aller, da der »Archetyp« der Codex des Georg Valla (Heib. Praef.) seit 1544 noch nicht wieder zum Vorschein gekommen ist, und mit ihm die andern enthalten.

Es folgt als letzte und beste die Ausgabe von I. L. Heiberg Teubner 1880–81, ebenfalls mit dem Kommentar des Eutokios, griechisch und lateinisch, Heiberg bereitet auf Grund des von ihm entzifferten Palimpsest (s. o.) eine zweite Auflage vor.

Archimedes' Werke (Übersetzungen, Kommentare).

Von Übersetzungen hebe ich hervor die lateinische des Federico Commandino Venedig 15., der schon als Euklidübersetzer gerühmt werden musste; die deutsche des Altdorfer Professor Chr. Sturm, den ich in der Didaktik und Methodik so vielfach erwähnen musste, den Verfasser der Mathesis juvenilis, die französische von F. Peyrard 1807 mit einem Anhang Delambres über griechisches Zahlenrechnen (Logistik) und die vortreffliche des Stralsunder Ernst Nizze von 1824 mit wichtigen kritischen Anmerkungen, in denen auch der Kommentar des Eutokios »des einzigen, der aus dem Altertum selbst rührt« (Nizze p. VII) berücksichtigt ist. Über ihn sagt die Florentinus (Heiberg, Quaest. p. 113):

Ευτοκιου πινυτου γλυκερος πονος, ὁν ποτ' εκεινος
γραψεν, τοις φθονεροις πολλακι μεμψαμενος.

Treffliche Arbeit des weisen Eutokios, einstens geschrieben,
Welche die Neider des Manns öfter [mit Unrecht] geschmäht.

Ich wage es übrigens zu sagen, dass die einleitenden Worte Heib. B. 3, p. 2 zu frei übersetzt sind, ich würde »η δια την δυσκολιαν οκνησας« wiedergeben: »obwohl die Schwierigkeit mich zaudern liess«, den Superlativ »verisimillimum« als Übersetzung von πανυ εικος mit »nicht unwahrscheinlich« und das reizende »ει τι και παρα μελος δια νεοτητα φθενξομαι.« »und wenn ich auch meiner Jugend wegen ab und an falsch singen würde« etc. Leider hat Eutokios nur No. 1, 3, 4 der Schriften kommentiert.

Archimedes' Werke (Reihenfolge).

Die jetzt festgehaltene Reihenfolge der Schriften ist:

1) επιπεδων ισορῥοπιων α, Buch I vom Gleichgewicht der Ebenen (Flächen).

2) τετραγωνισμος τας ορθογονιου τομας, Quadratur der Parabel.

Über die Dorischen Eigenarten s. Heibergs Quaest. Arch. Cap. V.

3) επιπεδων ισορροπιων β, Buch II vom Gleichgewicht der Ebenen (Flächen) oder vom Schwerpunkt derselben.

4) περι σφαιρας και κυλινδρου αβ, 2 Bücher von der Kugel und dem Cylinder.

5) περι ἑλικων, über die Schneckenlinien (Archimedische Spirale).

6) Über Konoide und Sphäroide (Über Rotationsflächen 2. Grades).

7) κυκλου μετρησις, die Kreismessung.

8) ψαμμιτης, der Sandzähler, lateinisch arenarius.

9) περι οχουμενων, über schwimmende Körper. 2 Bücher, bis vor kurzem nur lateinisch erhalten.

10) προβλημα βοων, das Rinderproblem, bis vor kurzem (bis vor Entdeckung des Pariser Codex) bezweifelt.

11) εφοδιον, Methodik, das oben besprochene, jetzt erst wieder zum Vorschein gekommene Werk, welches H. Zeuthen l. c. vor No. 4 ansetzt, ich vermute, dass Heiberg in seiner neuen Ausgabe mit dem εφοδιον beginnen wird, da er jetzt schon die Schriften nach ihrem sachlichen Zusammenhang geordnet hat, ohne sich weiter über seine Gründe in der Vorrede zu äussern.

Aus dem arabischen Manuskript des Thabit ibn Qurrah, der die Euklidübersetzung des Ishaq ibn Hunein wesentlich verbessert hat, ist von S. Foster 1659 eine angeblich von Archimedes herrührende Sammlung von 13 Sätzen herausgegeben unter dem Titel liber assumptorum Λημματα, Wahlsätze. Dass ein Teil sicher auf ihn zurückgeht, wird durch Pappos bezeugt.

Dass der grosse Mann auch ein Kinderspiel »loculus Archimedis« unter dem Namen στομαχιον., von Drachmann mit Neckspiel (Heiberg, Hermes 42, 240) wiedergegeben, ersonnen hatte, wird von Heiberg auf Grund des Palimpsest von 1906 bestätigt, es bestand (Quaest. Archim. 43, 2) aus 14 teils quadratischen teils dreieckigen Plättchen aus Elfenbein und hat sich bis heute als das »Pythagoras« genannte Zusammensetzspiel erhalten.

Aus einer verlorenen Schrift hat uns Pappos, Buch V, Kap. 33–36 die 13 sogen. »Archimedischen Körper« erhalten, das sind halbreguläre Polyëder, begrenzt von abwechselnden regelmässigen Polygonen zweier Gattungen, worüber man R. Baltzers klassische Elemente nachsehen möge. Aus dem Umstand, dass Archimedes diese Körper, abgesehen von den Prismaten, vollständig aufgestellt hat, geht klar hervor, dass er den sogen. Euler'schen Satz e + f = k + 2 kannte, wie es ja auch ziemlich sicher ist, dass er die bei Pappos gegebene sogen. Guldinsche Regel vom Volumen der Rotationskörper kannte.

Bis auf minimale Spuren verloren sind περι ζυγων, über Wāgen, κεντροβαρικα. κατοπτρικα περι σφαιροποιας, welche von Pappos, Theon und Proklos erwähnt werden.

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