Hellas

Unser Werdegang müsste uns nun eigentlich nach Indien und China führen, aber die Kultur der Inder und Chinesen ist so abhängig von Babylon, oder, was richtiger ist, ganz Asien bildete von 4000 v. Chr. bis etwa 100 n. Chr. ein einziges Kulturgebiet, Ägypten bis zum Nil eingeschlossen, dass wir uns zunächst gleich nach Hellas wenden. Die Hellenen sind das erste Volk, das die Wissenschaft um der Wissenschaft willen getrieben hat, das Volk, von dem man wohl sagen kann, dass ihm an Begabung für Kunst und Wissenschaft kein anderes je gleichgekommen ist, und unter ihnen erwuchs im 6. Jahrh. v. Chr. aus den Handwerksregeln ägyptischer und babylonischer Priester die reine Mathematik als Wissenschaft.

Wohl steht seit den Ausgrabungen Heinrich Schliemanns fest, dass die Hellenische Kultur und Kunst sich unter starkem orientalischen Einflusse, Ägypten eingeschlossen, entwickelt hat, aber schon für Kreta, ja selbst für Cypern ist auch die selbständige Entfaltung Hellenischen Geistes deutlich. Die Aufeinanderfolge ist wohl diese. Cypern fast völlig unterm Einfluss Babyloniens (Phöniziens); Kreta: Ägypten und Babylon vereint. Für Kreta sind epochemachend die Ausgrabungen von Evans zu Knossos, Annalen der brit. Schule in Athen 1899 ff. bes. 1902 (Bd. 8) u. ff. Daneben die der Italiener in Phaistos, Acad. dei Lincei Bd. XII (1902) ff. Das von Evans in Knossos gefundene herrliche Kunstwerk des becherkredenzenden Epheben (Jüngling, Page) geht über die Orientalischen Vorbilder schon hinaus, auch Architektur und Kleinkunst, z. B. die polychromen Vasen (sogen. Kamaris-Stil) ist selbständig.

Es folgt dann die durch Schliemanns Ausgrabungen in Mykene, Tyrinz, Troja zeitlich früher bekannte »Mykene-Periode«. Auch sie bekundet starken Verkehr mit dem Orient durch kretische Vermittlung, aber sie zeigt auch Kreta gegenüber eigenartige Entwicklung. Die Palastanlage ist ganz verschieden, sie ist genau die von Homer beschriebene. Was die Kleinkunst betrifft, so genügt es an die Becher von Vaphio zu erinnern. Für die Mykeneperiode verweise ich auf C. Schuchhardts Wertung der Schliemann'schen Funde (2. Aufl.). Die Beziehung zwischen Mykene und Kreta ist zurzeit eine brennende Streitfrage. Dörpfeld, kret. u. hom. Paläste, Athen. Mitteilungen Bd. 30 (1905 p. 257), unterscheidet für die kretischen Paläste zwei Perioden, a) eine ältere genuin-kretische, b) eine jüngere, in der Mykenische Eroberer ihre Paläste auf den zerstörten Resten der älteren erbaut hätten. Gegen Dörpfeld hat Mackenzie, Annals of brit. School XI u. XII die Einheitlichkeit und Selbständigkeit der kretischen Paläste mit triftigen Gründen behauptet. Dörpfeld hat 1907, Athen. Mitt. 32 p. 576 erwidert. Die Herkunft der altkretischen Schrift ist zurzeit noch nicht entschieden, möglicherweise ist sie hetitisch.

Die politische Geschichte der Hellenen und die Geschichte der Hellenischen Kunst zu schildern, muss ich den Historikern und Archäologen von Fach überlassen.

Mathematikerverzeichnis des Proklos.

Die wichtigste Stelle für die Geschichte der hellenischen Mathematik ist das sogenannte Mathematikerverzeichnis bei Proklos. Es ist vermutlich ein bei Geminus, einem Schriftsteller des ersten Jahrh. v. Chr. erhaltener Auszug aus der Geschichte der Mathematik des Eudemos, von der leider nur wenige Fragmente, z. B. in dem Kommentar des Simplicius zu Aristoteles uns erhalten sind.

Thales von Milet.

Beginnen wir also mit Thales von Milet. Herodot sagt in seinem ersten Buch, dass Thales von phönizischer Abkunft gewesen, unzweifelhaft lebte er im 7. Jahrh. v. Chr. und war ein Zeitgenosse des Krösos und Solon. Proklos gibt p. 250 der Friedlein'schen Ausgabe an, dass er den Satz von der Gleichheit der Basiswinkel im gleichschenkligen Dreieck gefunden habe und zwar habe er die Winkel nicht ἴσας sondern ὁμοιας genannt; p. 299 Satz von der Gleichheit der Scheitelwinkel; p. 157 Satz, dass die Durchmesser den Kreis halbieren, und p. 352 sagt Proklos, nach Eudemos, dass Euclid I, 26 der sogenannte 2. Kongruenzsatz von Thales herrühre, der sich seiner notwendig bedienen musste bei seiner Methode die Entfernung der Schiffe im Meere zu bestimmen.

Marcus Junius Nipsus, ein römischer Agrimensor, gibt (M. Cantor) folgende alte Methode, die so ziemlich die einzige sein kann, die mit den geringen Kenntnissen, welche nach Proklos dem Thales zur Verfügung standen und zugleich mit der Angabe des Eudemos stimmt:

Die Dreiecke ASD und DCB (s. Fig.) sind nach den 2 Congr. congruent und damit ist CB die gesuchte Entfernung.

Ausser Proklos haben wir Angaben von Plutarch (100 n. Chr. Neuplatoniker, ziemlich zuverlässig), in septem sapient. conviv., wonach Thales die Höhe der Pyramide durch Messung ihres Schattens bestimmt habe; aber die Quelle dieses Berichtes ist nach Diogenes Laertios (Kompilator des 3. Jahrh. n. Chr.) Hieronymos von Rhodos, welcher sagt, er mass die Pyramiden aus dem Schatten, wenn der Schatten der Pyramidenhöhe gleich, d. h. bei einer Sonnenhöhe von 45°. Noch weit unsicherer ist die Angabe bei Diogenes Laertius: Pamphila (Ende des 1. Jahrh. n. Chr.) erzählt uns, dass er als der erste, den Halbkreis in den rechten Winkel einschrieb, und dass er bei dieser Gelegenheit einen Ochsen opferte. Andere, z. B. Apollodoros, der Rechenmeister, schreiben diesen Zug den Pythagoräern zu. Da Proklos den Satz ausdrücklich erst den Pythagoräern zuschreibt und eine bei Eutokios erhaltene Stelle dies bestätigt, so verliert die Nachricht der Pamphila ihren Wert.

Auch als Astronom wird Thales gerühmt; im Theätet des Platon p. 174 lesen wir die Anekdote, dass, als er, den Blick nach oben gerichtet um den Himmel zu schauen, in den Brunnen fiel, eine thracische Magd ihn verspottet habe: das was am Himmel vorginge, wäre ihm bekannt, aber was vor seinen Füssen läge, das sähe er nicht. (Socrates setzt bekanntlich hinzu, dass man mit diesem Spott noch immer gegen die ausreiche, die in der Philosophie leben.) Die von ihm vorausgesagte Sonnenfinsternis ist, wie Herodot berichtet, die vom 28. Mai 585 bei der Schlacht zwischen Medern und Lydern. Nach Eudemos hat er auch die Ungleichheit der Jahreszeiten gekannt. Beides würde auf babylonische Bildungsquellen deuten; und das wird ganz sicher durch ein Missverständnis des Diogenes Laertius, er habe die Sonne als 720 mal Mond angegeben, während der eigentliche Autor Apulejus klar und deutlich sagt, er habe den Sonnendurchmesser als 1720 der Ekliptik gefunden. Soviel steht fest durch das einwandfreie Zeugnis von Herodot, Platon, Aristoteles, Eudemos und wohl auch von Xenophanes, des zeitlich ersten Eleaten: sein Ruhm war sehr bedeutend, er steht stets an der Spitze der sieben Weisen, und nach Aristoteles ist er der Begründer der ionischen oder physikalischen Philosophenschule, des (fälschlich) sogenannten Hylozoismus. Aristoteles sagt, dass Thales im Wasser die eigentliche Urmaterie gesehen habe und setzt hinzu, er vermute, dass er dazu durch die Beobachtung geführt sei, dass die Nahrung aller Tiere feucht ist und dass alles aus Samenfeuchtigkeit entstehe.

Thales von Milet, Anaximander.

Aristoteles (περί Ψυχής, de anima) fügt hinzu, Thales habe vielleicht angenommen, dass alles voll Götter sei; beispielsweise habe er gesagt, dass der Magnet eine Seele habe. Noch müssen wir seinen Schüler oder wohl richtiger jüngeren Stadtgenossen Anaximander erwähnen, obwohl das Mathematikerverzeichnis ihn nicht nennt. Anaximander markiert in der Geschichte des Erkenntnisproblems die Stelle, in der das Mathematisch-Unendliche auftritt. Er lehrte, der Weltstoff müsse unendlich sein, damit er sich nicht in der Erzeugung erschöpfe. Er darf daher nicht unter den empirisch gegebenen Stoffen gesucht werden, und es bleibt nur das Merkmal der zeitlichen und räumlichen Unendlichkeit übrig. Daher sagte er αρχη εστι το απειρον. Anaximander erklärte also die sinnliche Welt durch ein Gedachtes, er sagt: απειρον ist αιδιον, und ist somit ein Vorläufer der Pythagoräer, und er hat auch eine Vorstellung davon, dass gegen das Unendliche die Endliche Anzahl verschwindet.

Pythagoras.

Die dem Thales zugeschriebenen Schriften sind alle Fälschungen; der nach ihm von Proklos genannte Mamerkos samt seinem Bruder, dem Dichter Stesichoros, sind spurlos verschollen, nicht aber der zu dritt genannte Pythagoras, der einzige Mathematiker, der in den ganz und halb gebildeten Schichten aller Kulturnationen populär geworden ist. Und doch ist in dem Fabelmeer, in dem er geradezu ertrunken ist, sehr wenig wirklich festes Land zu finden.

E. Zeller sagt: »Unter allen Philosophenschulen, welche wir kennen, ist keine, deren Geschichte von Sagen und Dichtungen so vielfach umsponnen und fast verhüllt, deren Lehre in der Überlieferung mit einer solchen Masse späterer Bestandteile versetzt wäre wie die der Pythagoräer.«

Pythagoräer.

Die Schriftsteller vor Aristoteles erwähnen des Pythagoras und seiner Schüler nur selten. Aus dem 5. Jahrh. haben wir einzelne Angaben von Xenophanes, Heraklit, Empedokles, Jon aus Chios, Herodot, Demokrit; aus dem 4. Jahrh. von Platon, Isokrates, Anaximander II, Andron, Heraklid, Eudoxos, Lyko, dem Pythagoräer. Platon, der doch in die Schule der Pythagoräer ging, ist sehr zurückhaltend mit historischen Nachrichten. Aristoteles hat zwar die pythagoräische Philosophie in eigenen Schriften behandelt; was uns erhalten ist, ist wenig und besonders was die Zahlenlehre betrifft, nicht frei von Unklarheiten. Pythagoras selbst spielt dabei nur eine geringe Rolle. Unter den Schülern des Aristoteles beginnt schon die Sage das Leben des Pythagoras zu umspinnen, aber erst in der Zeit des Neupythagoreismus vom 1. Jahrh. v. Chr. ab sind Romane wie die des Apollonios von Thyana und des Porphyrios und des Jamblichos entstanden.

Feststeht durch das Zeugnis Herodots, IV., 95, der ganz beiläufig dort den Pythagoras erwähnt, dass er als Sohn des Mnesarchos in Samos geboren, feststeht, dass er um die Mitte des Jahrhundert, etwa von 580–500 gelebt hat, als reifer Mann 530 etwa nach Unteritalien ausgewandert ist, in Kroton eine Kongregation, die etwa nach Art der Freimaurer organisiert war, gegründet hat, und hochbetagt in Metapont gestorben ist. Vorher soll er zu seiner Bildung lange Jahre Reisen in so ziemlich alle Länder des orbis terrarum gemacht haben, und dies scheint nicht unwahrscheinlich. Ganz besonders lange soll er in Ägypten verweilt haben; aber dann wäre es im höchsten Grade auffallend, dass Herodot, der etwa 100 Jahre nach ihm Ägypten bereist hat, und der den Spuren des Hellenentums dort sehr sorgsam nachgegangen ist, kein Wort davon erwähnt.

Der Bund der Pythagoräer war ein religiös ethischer; er sollte eine Pflanzschule der Mässigkeit, der Tapferkeit, der Ordnung, des Gehorsams gegen Obrigkeit und Gesetz, der Freundestreue, überhaupt aller jener Tugenden sein, die zum griechischen und insbesondere zum dorischen (Spartaner) Begriff eines wackeren Mannes gehören. Neben den religiösen Beweggründen, die sich aus dem Walten der Götter und vor allem aus des Stifters Lehre von der Seelenwanderung für das sittliche Ideal ergaben, wurde von ihm auch als Bildungsmittel in erster Linie auf die Beschäftigung mit Mathematik, Musik, auch auf Diätetik und Beschwörung mittelst Zahl und Musik zur Heilkunst hingewiesen. Da der Bund seiner ganzen Natur nach sehr bald politisch oligarchisch wurde und die Regierungsgewalt in den grossen unteritalienischen Kommunen Kroton, Tarent, Metapont etc. an sich riss, so richtete sich die demokratische Strömung gegen ihn und in den Kämpfen, die um die Wende des 5. Jahrh. die Aristokratie der Städte stürzten, wurde der Bund gesprengt, ein grosser Teil der Pythagoräer getötet, darunter vielleicht Pythagoras selbst, die andern vertrieben.

Diese Vertreibung hatte eine Wirkung, die wir mit der durch die Eroberung von Constantinopel geweckten Renaissance vergleichen können. Die mathematischen, philosophischen, naturwissenschaftlichen Kenntnisse, die bisher auf einen kleinen Kreis beschränkt waren, wurden nach Griechenland, Kleinasien, Sizilien verbreitet und bewirkten dort das Aufblühen der mathematischen Wissenschaften.

Von den Lehren der Pythagoräer ist am bekanntesten die Lehre von der Seelenwanderung (Metempsychose) und die Anschauung, dass das Wesen der Dinge die Zahl sei, dann ihre Kosmologie mit der Ordnung der Sphären, dem Zentralfeuer, der Sphärenmusik, und dann die Harmonielehre gestützt auf die Auffindung der Intervalle mittelst des Monochords. Ihre ganz hervorragende Pflege der Mathematik ist unbestreitbar und ebenso, dass sie zuerst das Bedürfnis nach Systematik und wirklichen Beweisen empfanden und befriedigten. Wie weit aber die Kenntnisse der Pythagoräer selbst reichten, ist ganz unmöglich zu bestimmen und schwierig ist es auch den Stand des Wissens in der Schule der Pythagoräer, die wir bis zu Platon und Archytas rechnen, zu skizzieren.

Philolaos.

Die ersten wirklichen Nachrichten über die Lehre des Pythagoras rühren von Philolaos her, einem älteren Zeitgenossen des Sokrates und Demokrit, der nach der Vertreibung aus Unteritalien sich nach Theben geflüchtet hatte. Es scheint, dass Platon seine Schrift von den Erben in Sizilien gekauft und daraus seine Kunde des Pythagoreismus und auch viele Anregung für seine eignen mathematischen und philosophischen Gedanken geholt hat. Sein Neffe und Nachfolger in der Leitung der Akademie, Speusippos, hat die Schrift geerbt und dessen Bibliothek hat Aristoteles gekauft, der das Werk veröffentlichte, d. h. mehrfach abschreiben liess. Nicht unbedeutende Fragmente dieses Glaubensbekenntnisses der Pythagoräer haben sich erhalten und Aug. Boeckh hat ihre Echtheit dargetan. Ausserdem besitzen wir eine geringe Anzahl echter Bruchstücke des Archytas und haben an guten Quellen die Dialoge des Platon: Philebos, Theätet, Timäos, der ganz besonders wichtig ist, und die Physik und Metaphysik des absolut zuverlässigen Aristoteles, sowie einige Stellen des Eudemos, die uns besonders durch Proklos erhalten sind.

Philolaos bezeichnet die Zahl als das Gesetz und den Zusammenhalt der Welt, als herrschende Macht über Götter und Menschen, die Bedingung aller Bestimmtheit und Erkenntnis. Das Begrenzende aber und das Unbegrenzte, diese zwei Bestandteile der Zahlen, sind die Dinge, aus denen alles gebildet sei. Die Zahl ist nicht bloss die Form, durch welche der Zusammenhang der Dinge bestimmt wird, sondern auch die Essenz, das Wesen, (nicht etwa die Materie), aus welcher sie bestehen, oder vielleicht richtiger das Gesetz, welches die Dinge erschafft. In Fortbildung des auf Naturerkenntnis gerichteten Gedankengangs der Ionier erkannten sie die Bedeutung der Zahl, insbesondere der relativen Zahl, für eben diese Erkenntnis. Philolaos braucht die Ausdrücke ουσια, Wesen, und αρχη, Grundlage. Aristoteles und Philolaos selbst geben als Grund an, dass alle Erscheinungen nach Zahlen geordnet sind, dass namentlich die Verhältnisse der Sphärenharmonie und der Töne, alle ästhetischen, alle räumlichen Bestimmungen, von gewissen festen Zahlen und Zahlenverhältnissen beherrscht sind. (Symbolische Rundzahlen z. B. 40. Kabbala der Chaldäer), und dass unsre Erfahrung nur in der Feststellung der Zahlenverhältnisse besteht (vgl. Diels, Fragmente der Vorsokratiker p. 250).

Die Zahlen zerfallen in gerade und ungerade und die gerad-ungeraden 2 (2n + 1). Eins, die unteilbare monas, steht ausser oder richtiger über den Zahlen; in der reinen Eins, die geradezu mit der Gottheit identifiziert wird, sind die Gegensätze vereinigt, und so wird auch die Eins als gerad-ungerad bezeichnet.

Zunächst möchte ich die scheinbaren Widersprüche, die sich bei Aristoteles in seinem Bericht über die Grundlagen der Pythagoräischen Philosophie finden, rechtfertigen. Zwischen der »phantastisch orakelnden, grossartig erhabenen« Sprache des Philolaos und der Darstellung bei Archytas, dem grossen Mathematiker, sind sicher nicht bloss zeitliche, sondern auch sachlich bedeutende Differenzen. Ich zweifle gar nicht, dass Archytas der Pythagoräer gewesen, dessen einfache Klarheit Dionysios von Halikarnassos rühmt (Boeckh l. c. p. 43). Und zwischen beiden gab es sicher zahlreiche Nuancen. Übrigens interpretiere ich die Stelle Metaph. XIII, 8, 1083b so: »Die Körper bestehen auf Grund von Zahlen (Verhältnissen).« Auf chemische Ideen der Pythagoräer habe ich schon in meinem Aufsatz »Über Mathematik«, Bd. II, Heft 1 der Cohen-Natorp'schen Hefte hingewiesen. Die Pythagoräer haben die Tonempfindungen durch den Monochord in Zahlenverhältnisse umgewandelt, und so sind sie es gewesen, welche zuerst den Schritt von ungeheurer Tragweite getan, Qualitäten in Quantitäten umzusetzen und so die Welt der äusseren Erscheinungen, die Physik, in die Welt der inneren Verknüpfungen, die Mathematik, umzuwandeln. Und so kommen sie naturgemäss darauf als ουσια, als Substanz, nicht als ὑλη, Materie, der Dinge, das Bleibende in der Vergänglichkeit, die Zahl zu setzen, d. i. das math. Gesetz. Als Belag für diese Auffassung genügt es auf die von Boeckh p. 141 angeführte Stelle aus Stobäos zu verweisen; Boeckh hat sie frei in dem eben angeführten Sinne übersetzt, und den Vergleich mit dem Gnomon meisterhaft interpretiert: »Das Erkannte (die Dinge) wird von dem Erkennbarmachenden (der Zahl) umfasst und ergriffen, wobei eine ursprüngliche Übereinstimmung und Anpassung, wie des Gnomon um sein Quadrat herum vorausgesetzt wird.«

Das Gnomon ist die ungerade Zahl 2a + 1, welche durch ihr Hinzukommen aus a2 das Quadrat von (a + 1) liefert und zwar in der geometrischen Form des Winkelhaken.

Eine nähere Ausführung zeigt die Analogie mit den Chaldäern noch deutlicher, die Zuordnung von Zahlen an die Planeten und an bestimmte Begriffe. Die Gerechtigkeit z. B. entsprach dem ισακις ισος, dem Gleichmal gleichen, d. h. der 4 oder der 9, als der ersten geraden, bezw. ungeraden Quadratzahl; 5 als Verbindung der ersten männlichen mit der ersten weiblichen Zahl gleich Ehe, die Einheit Vernunft, weil sie unveränderlich, die 2 Meinung, weil sie veränderlich etc.

Das Männliche und Weibliche bezieht sich auf die bekannten 10 Gegensätze des Philolaos: 1) Grenze und Unbegrenztes. 2) Ungerade und Gerade. 3) Einheit und Vielheit. 4) Rechts und Links. 5) Männliches und Weibliches. 6) Ruhendes und Bewegtes. 7) Gerades und Krummes. 8) Licht und Finsternis. 9) Gutes und Böses. 10) Quadrat und Rechteck.

Aristoteles berichtet uns auch in der Metaphysik über das dekadische System. Die Zahlen über 10 sind nur Wiederholungen der ersten 10. (Eine Art arithm. Kongruenzidee.) Die Dekas umfasst alle Zahlen und alle Kräfte der Zahlen; sie heisst daher bei Philolaos gross, gewaltig, alles vollbringend, Anfang und Führerin des göttlichen wie des irdischen Lebens, sie gilt ihm nach Aristoteles als das Vollkommene, welches das ganze Wesen der Zahl einschliesst. Wir danken es nur ihr, dass uns ein Wissen überhaupt möglich ist.

Eine ähnliche Bedeutung hatte die 4heit nicht als 22, sondern weil 1 + 2 + 3 + 4 = 10, so wird in der Tetractys, dem Schwur der Pythagoräer, die Zehn, d. h. die Zahl selbst als Wurzel und Quelle der ewigen Natur gefeiert.

Auch von den anderen Zahlen hat jede ihre eigene Wesenheit, z. B. 3 ist die erste vollkommene, denn sie hat nur Anfang, Mitte und Ende (||| älteste Zahlenschreibung); 6 die zweite gleich der Summe ihrer Teiler 1 + 2 + 3; 3, 4, 5 sind die Zahlen des vollkommensten rechtwinkligen Dreiecks.

Sie sehen in dieser »Zahlenspielerei« den Ernst der Zahlentheorie, und wenn Aristoteles uns erzählt, dass der Pythagoräer Eurytos die Bedeutung der einzelnen Zahlen dadurch beweisen wollte, dass er die Figuren der Dinge, denen sie äquivalent gesetzt wurden, aus der entsprechenden Zahl von Steinchen (Kinderspiel: Pythagoras) zusammensetzen wollte, so sehen Sie hier die Richtung gewiesen, welche die griechische Arithmetik (nicht die Logistik, die Rechenkunst) während der ganzen klassischen Epoche eingehalten hat; man vergleiche die Kapitel des Hauptarithmetikers Nikomachos von Gerasa über die figurierten Zahlen.

Ich komme damit auf die Anwendung der Zahlenlehre auf die geometrischen Figuren. Aristoteles sagt, sie haben die Linie durch die Zahl 2 erklärt. Philolaos nennt 4 die Körperzahl, Platon scheint die 3- und 4-Zahl als Flächen- und Körperzahl von Philolaos entnommen zu haben. Die Pythagoräer setzten die Einheit den Punkten gleich, weil die μόνας (Leibniz' Monade) unteilbar; die gerade Linie als 2, weil sie durch 2 Punkte bestimmt sei, das Dreieck durch 3 Punkte, der einfachste Körper durch 4 Punkte bestimmt seien.

Der Körper besteht ihm zufolge auf Grund der ihn umschliessenden Linien und Flächen, wie die Linien und Flächen durch Punkte und Linien determiniert werden. Von den 4 Elementen weisen sie nach Philolaos der Erde den Kubus, dem Feuer das Tetraëder (eine Ableitung von Pyramide), der Luft den Oktaëder, dem Wasser den Ikosaëder zu, dem fünften alles umfassenden Element, dem Äther, den Dodekaëder, d. h. sie nahmen an, dass die kleinsten Teile dieser Elemente die betreffende Form hätten. (Hier haben wir also schon den Grundgedanken der Stereochemie, nur kommt der Tetraëder dem Feuer statt der Kohle zu.) Daher heissen diese Körper oft die kosmischen, und, da sich Platon im Timäus von Philolaos diese Zueignung angeeignet hat, so heissen sie auch oft die platonischen.

Es scheint nicht unglaubhaft, dass der fünfte Körper, der Dodekaëder, eine Entdeckung der Pythagoräer gewesen und im Zusammenhang damit steht die Konstruktion des regelmässigen Fünfecks und damit des goldenen Schnittes.

Boeckh's Interpretation des Philolaos.

In der Geschichte des Erkenntnisproblems, das die eigentliche Geschichte der Kultur ist, bezeichnen die Pythagoräer einen grossen Fortschritt gegenüber den Ioniern, da sie zum ersten Mal nicht in religiöser sondern in philosophischer Form die Erkenntnis haben, dass die sinnliche Erscheinung der Welt nicht das letzte, sondern dass ein geistiges Prinzip dahinterstehe. Sie fanden es in der Mathematik, die ja auch Plato als zwischen den Dingen und den Ideen stehend auffasst; und nicht weil sie sich mit Mathematik beschäftigten, sahen sie in der Zahl die Substanz der Dinge, sondern umgekehrt, weil sie nach einem die Erscheinungswelt beherrschenden Gesetz der Vernunft suchten, fanden sie dies in Mass und Zahl. Das Hauptwerk für die Philosophie der Pythagoräer ist neben Brandis und Zeller, die Geschichte der Phil. von Ritter 1828, wozu die Kritik von Ernst Reinhold (Jena) im Jahrb. für wiss. Kritik 1828 p. 358 zu vergleichen ist. Am tiefsten scheint mir der grosse Philologe August Boeckh in den Geist der Pythagoräer eingedrungen zu sein in seiner Schrift: Philolaos des Pythagoräers Lehren etc., Berlin 1819. Gegenüber Zeller, dem Klassiker der griechischen Philosophie, der aber auch m. E. nach den Pythagoräern nicht gerecht geworden ist, ist W. Kinkel in seiner Geschichte der Philosophie als Einleitung in das System der Philosophie Bd. 1, 1906 neben eigenen Auffassungen vielfach auf Ritter und Boeckh zurückgegangen. Bei dieser Sachlage sei mir ein näheres Eingehen auf den Kern des Pythagoreismus gestattet.

Auch über den dunkelsten Punkt der Lehre des Philolaos hat Boeckh mit bewunderungswürdig genialem Instinkt Licht verbreitet: Es ist die Stelle Metaphysik I, 5 des Aristoteles: Του δε αριθμού στοιχεια το τ' αρτιον και το περιττόν, τούτων δε το μεν πεπερασμενον το δε άπειρον, το δ' ἑν εξ αμφοτέρων ειναι τουτων [και γαρ αρτιον ειναι και περιττον], τον δ' αριθμον εκ του ἑνος. »Grundlegungen der Zahlen sind das Gerade und das Ungerade, das erste begrenzt, das andere unbegrenzt. Die Eins besteht aus beiden. Die Zahl aber stammt aus der Eins.« Was zunächst die Gegensätze begrenzt (bei Philolaos und Platon richtiger begrenzend oder Grenze) und Unbegrenztes, und Gerade und Ungerade, wie überhaupt die 10 Gegensatzpaare der Pythagoräer betrifft, so stimme ich Ritter bei, dass sie den einen Heraklitischen Gedanken verkörpern, der Streit (id est die Polarität) ist der Vater der Dinge. Gerade in der Ausgleichung dieser Gegensätze besteht nach Philolaos die pythagoräische Harmonie. Dann aber hat Boeckh es hervorgehoben, dass hier in andrer Form in der Bildung der Zahl aus Grenze und Unbegrenztem, auch Unbestimmtem, eigentlich schon von den Pythagoräern genau dasselbe ausgedrückt wird, was ich 1884 chemisch rein von Kenntnis des Pythagoreismus auf S. 1 meiner »Elemente der Arithmetik als Vorbereitung auf die Funktionentheorie«, sub 4, d gesagt habe: »d) wird die erzählte Zahl als Anzahl des abgezählten Komplexes erhalten durch eine eigne Tätigkeit, welche den Zählprozess abschliesst (begrenzt).« Und 1906 fügte ich hinzu: Hierin haben wir die erste Äusserung des so entscheidend wichtigen Grenzbegriffs (Meth. der elem. Arithm. p. 9 u.). Und ganz analog dem was bei Boeckh S. 55 über 1 und die unbestimmte Zweiheit, die erst durch Anwendung der begrenzenden Eins zur zwei wird, gesagt wird, habe ich l. c. gesagt, dass zwei im Grunde die einzige Zahl sei, und die Drei eine neue Zwei. In diesem doppelten Zusammentreffen sehe ich wieder eine Bestätigung meines Lieblingssatzes: Nie hat irgendwer irgendwas gefunden.

Der Grund, weshalb in sekundärer Weise die ungeraden Zahlen dem Begrenzenden zugeordnet werden und die geraden dem Unbegrenzten, scheint mir darin zu liegen, dass aufgelöst in Einheiten die ungeraden Anfang, Mitte und Ende haben, die geraden nur Anfang und Ende, und die Mitte unbestimmt ist. Ausserdem hat Boeckh wohl auch darin recht, dass im Volke eine Bevorzugung der ungeraden Zahl herrscht: (Aller guten Dinge sind 3, 1001 Nacht etc.).

Auch der Zusammenhang der Zahl mit der Zeit findet sich angedeutet. Zeit und Raum verlegen sie an die Peripherie der Welt, von wo aus sie in die Welt eintreten, und indem sie sich mit der schöpferischen Eins verbinden die Erzeugung des Seienden bewirken. Hier liegt, wenn auch bildlich verschleiert, die Ahnung von Zeit und Raum als Bedingung der Erfahrung vor und zugleich davon, dass die Kategorie Zeit mittelst der Kategorie Zahl die Welt der Erscheinungen realisiert d. h. begreiflich macht.

Kosmogonie und Pantheismus der Pythagoräer.

Die Kosmogonie der Pythagoräer ist von Boeckh l. c. und in seinen Arbeiten zum Timäos des Platon erschöpfend behandelt, sie ist voll tiefer Gedanken und der des Aristoteles entschieden überlegen. Aber die gewaltige Autorität des Aristoteles, dem sich Poseidonios anschloss, hat die Entwicklung heliozentrischer Ideen wie sie sich schon bei Philolaos und noch mehr bei Hiketas finden auf Jahrtausende gehemmt, bis infolge der Renaissance Kopernikus auf die Pythagoräer zurückging.

Nur noch ein paar Bemerkungen, welche für die Frage nach der Priorität des Pythagoräischen Satzes wichtig sind. Der bei Philolaos (vgl. Boeckh und Ritter) scharf ausgesprochene Pantheismus und die Weltseele weisen deutlich auf Indien, wie die Zahlenmystik, das grosse Weltjahr auf Babylon. Wie die Babylonier den einzelnen Göttern einzelne Zahlen zuordnen, so werden hier den einzelnen Göttern, d. h. den Personifikationen von Kräften des Einen einzelne Winkel zugeordnet. Möglicherweise können auch die Orphiker mit ihrer Geheimlehre die Vermittler zwischen dem Orient und den Pythagoräern gewesen sein.

Mathematische Kenntnisse der Pythagoräer.

Nach diesem Exkurs fahre ich in dem Bericht über die rein mathematischen Kenntnisse der Pythagoräer fort.

Es ist sehr glaubhaft, dass ihnen das Sternfünfeck, das Pentalpha oder pentagramma bekannt gewesen und dass sie sich desselben als Symbol für »sei gesund« bedienten, wofür die bekannte Stelle aus Lukianos (pro lapsu in salut.) angeführt wird (s. Fig.).

Das Θ statt des Diphtonges ει, die Figur als Anfang der Briefe statt des sonst üblichen: »sei gegrüsst«.

In Verbindung damit steht die Kenntnis von den Proportionen, der arithmetischen a - b = c - d, der geometrischen a : b = c : d, und der Spezialfälle a - b = b - c, a : b = b : c, d. h. des arithmetischen und geometrischen Mittels, dem sie als drittes das harmonische Mittel anreihten: a - bb - c = ac; (2b = 1a + 1c); harmonisch, weil die Seitenlängen des Grundtones c der Quinte g der Oktave C 1, 23, 12 diese Proportion bilden, denn 1 - 23 : 23 - 12 = 11/2. Dass sie diese Verhältnisse kannten, bezeugt Philolaos ausdrücklich und ebenso Eudemos, und sie fanden sie auch am Würfel anschaulich vor.

In der Geometrie schuldet man ihnen nach dem Zeugnis des Eudemos bei Proklos den Beweis des Satzes von der Winkelsumme im Dreieck durch Ziehen der Parallele und den Satz von den Wechselwinkeln.

Nach der durch Geminos, dem Eudemos vorlag, verbürgten Notiz im Kommentar des Eutokios zu den Kegelschnitten des Apollonios bewiesen »die Alten den Satz für jede besondere Form des Dreiecks einzeln, zuerst für das gleichseitige aus der Sechsteilung des Kreises, dann für das gleichschenklige und zuletzt für das ungleichseitige.«

Diese Notiz ist für die Geschichte des Parallelenaxioms von grösster Bedeutung, sie beweist, dass der vielleicht neueste Weg das Axiom zu begründen, von der Sechsteilung des Kreises aus, zugleich der älteste ist.

Wir haben ferner das Zeugnis des Eudemos, Proklos I prop. 44, dafür dass die Pythagoräer sich schon mit den drei Aufgaben beschäftigten, welche die Grundlage der Kegelschnitte enthalten: An eine gegebene Strecke einen gegebenen Flächenraum zu entwerfen (παραβαλειν) bezw. die Aufgabe (Euclid 1, 44 Eucl. 3, 28, 29) so zu verallgemeinern, an eine gegebene Strecke AB einen gegebenen Flächenraum als Rechteck Ay so anzulegen, dass ein Quadrat By übrig bleibt (ελλειψις) oder überschiesst υπερβολή. Man sieht in der Tat (s. Fig.), wir haben: ax = y2; ax - x = y2; ax + x2 = y2.

Das Irrationale bei den Pythagoräern.

Nehmen wir dazu noch die Kenntnis der Pythagoräer von der Irrationalität der √2 und damit die Entdeckung des Irrationalen, oder, wie es zuerst weit passender genannt wurde, des ἄρρητον, so fehlt uns nur noch der Pythagoräische Lehrsatz selbst.

Von der ungeheueren Revolution, die diese Entdeckung des Irrationalen in den Köpfen der griechischen Mathematiker hervorbrachte, haben wir noch deutliche Spuren. Es wird uns erzählt, dass sie diese Kenntnis als das Hauptgeheimnis behandelten und dass ein Pythagoräer, der es unter die Leute gebracht, zur Strafe ertrunken sei. Man denke sich nur den Eindruck! Die Zahl, die das Mass aller Dinge, die Grundlage aller Ordnung und damit Erfahrung, hier versagte sie, und Grössen, deren Verhältnis in der Potenz, έν δυνάμει, im Quadrat, das denkbar Einfachste, haben in der Linie kein Verhältnis. Die ganze Grundlage des Gebäudes wankte, alle Satze, wie z. B. die Streckenteilung, mussten neu geprüft werden. Aristoteles hat uns den mutmasslich ältesten Beweis erhalten:

»Wenn eine √2 existierte, so müsste Gerades gleich Ungeradem sein.«

Wir wissen aus dem Theätet, dass dann geometrische Beweise gegeben sind; der für 2 ist im Euclid erhalten, der für ist vermutlich der, den Bretschneider und ich selbst unabhängig von ihm gegeben, für 5 ist er selbstverständlich. Theätet erzählt bei Plato, dass der Pythagoräer Theodoros von Schritt zu Schritt bis zu 17 solche einzelnen Beweise gegeben und dann den allgemeinen auf arithmetischer Grundlage, indem er die Zahlen in Quadratzahlen und in Rechteckzahlen geteilt, d. h. in solche die nicht in zwei gleiche Faktoren zerlegt werden können. Der Beweis war also arithmetisch:

n = p2q, √n = λ, λ2 = p2q, λ = p√q, √q = ν, q = ν2 gegen die Voraussetzung.

Resumieren wir, so waren den Pythagoräern im wesentlichen die geometrischen Sätze bekannt, die auf Gleichungen ersten und zweiten Grades führten; das erste und zweite Buch des Euclid, ein grosser Teil des dritten und des zwölften; und ihre Ausläufer insbesondere Archytas und Hippokrates haben schon die Probleme dritten Grades in Angriff genommen.

Der Pythagoräische Lehrsatz.

Ich wende mich nun zu dem Satz, der den Namen des Pythagoras seit über 2 Jahrtausenden trägt.

Über diesen grossen Satz, den magister matheseos, auf den die Flächenrechnung und die Trigonometrie sich stützen, drückt sich Proklos sehr vorsichtig so aus: »Wenn wir auf die, welche alles erzählen wollen, hören, so finden wir, dass sie diesen Satz auf Pythagoras zurückführen und sagen, bei der Auffindung habe er einen Ochsen geopfert.« Der erste Schriftsteller, welcher ganz bestimmt Pythagoras nennt, ist der römische Architekt Vitruv, und nur in Verbindung mit der Hekatombe wird die Sache erzählt. Hankel sagt: »Doch möchte ich nicht so weit gehen, den Satz dem Pythagoras abzusprechen, obwohl keine einzige nur einigermassen glaubwürdige Nachricht darüber vorhanden ist.« Cantor plädiert für Pythagoras selbst, und er hat darin wohl recht, dass die Schule durch den Meister den Satz kennen gelernt; den Satz selbst aber hat Pythagoras aus Asien und mit ausserordentlicher Wahrscheinlichkeit aus Indien. Auf Babylon weist die Zahlenmystik, die Symbolisierung der Begriffe in Zahlen, und auf Indien der Lehrsatz und die Lehre von der Seelenwanderung.

Die Geometrie der Inder.

M. Cantor hat noch in der 2. Aufl. die indische Geometrie als nicht original erklärt, er hat es wiederholt, dass wir die Geometrie nur auf indischer Grundlage nicht begreifen können, ja, er hat sie von Heron von Alexandria, dessen Blüte zwischen 100 v. Chr. und 100 n. Chr. schwankt, abhängen lassen, und das, obwohl er die Existenz der Sulba-sutras, d. i. der Schnurregeln, der Zimmermannsregeln für die Herstellung der Opferstätte aus Thibauts schöner Arbeit in der Asiatic society of Bengal von 1875 kannte. Dabei hat 1884 der Sanskritist Leopold v. Schröder ein Buch geschrieben: »Pythagoras und die Inder,« in welchem er bereits ziemlich entscheidende Beweise für die Beeinflussung der Pythagoräer durch die Inder beigetragen hat.

Ich schiebe hier einiges aus meinem Vortrag im mathem. Kolloquium vom 2. Febr. 1903 ein. — Als ich für die Enzyklopädie den Artikel Pythagoras abschliessen wollte, machte mich unser Indologe Leumann auf die damals gerade erschienene Arbeit von A. Bürk über das Apastamba Sulba-sutra (Zeitsch. d. Deut. Morgenl. Ges. Bd. 55, 1901, p. 543) aufmerksam. Leumann gab mir auch die Schrift L. v. Schröders »Pythagoras und die Inder« Dorpat 1884. Auf Grund dieser Arbeiten inkl. Thibauts trat ich den Ansichten Schröders und Bürks, dass der Pythagoras bei den Indern weit älter als bei den Hellenen und vermutlich von den Indern her entlehnt sei, bei und machte die Mathematiker auf die Arbeit Bürks aufmerksam, Hoffm. Ztsch. 33, S. 183, 1902. Wie Bürk legte auch ich besonderen Wert auf das Auftreten des Satzes vom Gnomon, d. i. von der Gleichheit der Ergänzungsparallelogramme, bei den Indern. Etwa ein Jahr später erschien, auf Verlangen Cantors beschleunigt, im Archiv ein Artikel desselben, in dem er ebenfalls von der Arbeit Bürks Notiz nahm. Aber statt dass nun Cantor die Selbständigkeit oder wenigstens die relative Selbständigkeit der Inder, d. h. die Unabhängigkeit ihrer Geometrie von den Griechen zugegeben, drückt er sich äusserst gewunden aus, ja selbst seine Heron-Hypothese gab er nicht auf, indem er sie hinter der zweifelnden Frage am Schluss versteckt, ob nicht am Ende in den Sulba-sutras verhältnismässig moderne Einschiebsel seien. Das Auftreten von Stammbrüchen bei den erstaunlich genauen Näherungswerten von √2 sollte auf Heron und Ägypten hinweisen; aber sieht man näher zu, so liegt gerade hier ein entscheidender Unterschied. Während bei den Ägyptern die gemeinen Brüche als Summe von Stammbrüchen erscheinen, haben wir bei den Indern auch Differenzen oder genauer Aggregate; und die Stammbruchform rechtfertigt sich als Bruchteilung der Massschnur.

Kulturzusammenhänge bezweifle ich so wenig wie jeder der sich nicht bloss mit der Kultur eines einzigen Volkes beschäftigt hat. Angesichts der babylonischen Zahlenzerlegungen und der quadratischen Gleichungen der Ägypter glaube ich persönlich, dass der Pythagoras Babyloniern wie Ägyptern vielleicht schon vor 3000 v. Chr. bekannt war. Aber Glauben ist kein Beweis.

Und was den Einschub in das Sulba-sutra nach Apastamba betrifft, so wäre der gleiche Einschub bei Taittirīya, Baudhāyana, Maitrāyana, Katyāyana und Mānava, und im Satapatha-Brāhmana gemacht worden!

Als ich Heft 9 des Bühler'schen Grundrisses der Indo-Arischen Philologie, Astronomie, Astrologie und Mathematik von G. Thibaut las, wunderte ich mich, wie befangen sich dieser hervorragende Kenner des indischen Wissens auf dem Gebiet der exakten Wissenschaften der Autorität Cantors gegenüber zeigte. Derselbe Mann, der 1875 so treffend geschrieben hatte: »Was nur immer fest mit altindischer Religion verknüpft ist, muss betrachtet werden, als bei den Indern selbst entsprungen, wenigstens so lange bis das Gegenteil erwiesen«, der liess sich verblüffen durch Argumentationen von solcher Ungeheuerlichkeit, wie die rhetorische Frage: »Kann unmittelbare Anschauung zur Erfindung neuer Satze führen?« Ich sehe von Jakob Steiner ganz ab, von dem es ja notorisch ist, wie viele seiner Sätze, gelegentlich auch unrichtigen, er der unmittelbaren Anschauung verdankt, sondern weise nur auf E. E. Kummer hin, gewiss ein reiner Mathematiker wie nur einer, und doch der eigentliche Urheber der Modellgeometrie für Flächen. Herr Bürk hat sich dann auch nicht geniert, die Schwäche der Cantor'schen Argumente auch bezüglich der Seilspannung beim Tempel von Edfu — nebenbei bemerkt erst 237 v. Chr. — aufzudecken, und er wies mit Recht auf H. Hankel hin, dessen dünnleibige Fragmente von einem fast prophetischen, wahrhaft genialen Verständnis für die Seele der Völker zeugen. Angesichts einiger Bemerkungen möchte ich hier sagen, dass ich von Bewunderung für die beinahe übermenschliche Arbeitsleistung Cantors erfüllt bin, aber die betreffenden Äusserungen in meiner Entwicklung der Elementargeometrie aufrecht halte. Das Recht zur Kritik, das mir Weierstrass zugestand, lasse ich mir von niemandem und niemand gegenüber rauben, und wenn an irgend einer Stelle, so gilt für die Wertung der indischen Mathematik durch Cantor das Horazische:

Interdum bonus dormitat Homerus,
Nec semper arcum tendit Apollo.

Übrigens ist die indische Verwandlung des Rechtecks in ein Quadrat ohne eine schulgerechte Analyse unmöglich, und bei der Ausmessung der Saumiki vedi findet sich derselbe Beweis, den wir heute noch für die Flächenformel des Trapezes geben.

Erklärlich wird das Verhalten Cantors durch sein Dogma, dass die Hellenen speziell für Geometrie, die Inder für Arithmetik, insbesondere für Rechnen begabt waren. Leider ist dies in dem Umfange, wie es Cantor annimmt, falsch. Der leitende Gesichtspunkt der Entwicklung der griechischen Mathematik war ein rein arithmetischer. Sie haben erst die Gleichungen ersten Grades in Form der Proportion gelöst, dann die der zweiten vermöge der Satzgruppe des Pythagoras und dann die Gleichungen dritten Grades angegriffen, wie man absolut deutlich aus den beiden sogenannten Delischen Problemen, der Verdoppelung, bezw. Vervielfachung des Würfels und der Trisektion des Winkels erkennt, an die sie sich unmittelbar nach der im zweiten Buch des Euclid ausführlich behandelten Lösung der quadratischen Gleichungen machten. Und die Inder, welche im Anfang ihrer Geschichte in der Astronomie und damit in der Rechenkunst durchaus abhängig von Babylon waren, haben höchst wahrscheinlich ihre Geometrie infolge ihres Kultus selbständig entwickelt.

Abhängigkeit der Pythagoräer von den Indern.

Für die Abhängigkeit der Pythagoräer von den Indern hat v. Schröder auf die Lehre von der Seelenwanderung hingewiesen; sie war ein Hauptbestandteil der Pythagoräischen Lehre, unzweifelhaft, schon Xenophanes berührt sie; Philolaos trägt sie vor; Aristoteles bezeichnet sie als pythagoräisch; Plato hat seine poetische Darstellung von dem Zustand nach dem Tode den Pythagoräern nachgebildet. Philolaos sagt, die Seele sei an den Körper zur Strafe gefesselt und gleichsam im Körper begraben. Diese Anschauung hat Platon in dem durch und durch von Philolaos beeinflussten Timäos angenommen, im Gegensatz zu seiner früher z. B. im Phädon aufgestellten Ansicht.

Herodot, der die Seelenwanderung als durchaus unhellenisch bezeichnet, schreibt sie den Ägyptern zu, aber die Denkmäler der Ägypter, soviel sie sich auch mit dem Tode und dem Leben nach dem Tode beschäftigen, weisen keine Spur der Metempsychose auf. Und was für einen Zweck hätten dann die riesigen Opfer, welche die Ägypter für die Behaglichkeit des Kha brachten, ihre Pyramidenbauten, ihre Einbalsamierung gehabt? Ein einziges ägyptisches Märchen, das von den drei Brüdern, könnte allenfalls herangezogen werden, doch das gehört unzweifelhaft in den Kreis der Osirissage.

Altindischer Kulturzustand.

Aber in Indien da beherrschte und durchdrang gerade um diese Zeit die Lehre von der Seelenwanderung das ganze Volk. Wir wissen mit Bestimmtheit, dass gerade um diese Zeit der Buddhismus hereinbrach, als dessen Ziel einzig und allein die Befreiung von dem Kreislauf der Geburten, von der Wanderung der Seelen durch immer neue Existenzen bezeichnet werden muss. Und nicht Buddha Gautama war der erste (Oldenberg 1881, Buddha, sein Leben, seine Lehre, seine Gemeinde), sondern vor und mit ihm durchzogen schon Asceten, Mönche, Wanderpriester teils einzeln, teils schon Orden und Kongregationen bildend das Land, um in Busse das Ziel der Erlösung zu suchen.

Buddhas Erfolg beruht gerade darauf, dass er den Zug nach Erlösung von der sich immer wiederholenden Qual des Sterbens durch seine Lehre befriedigte.

Der Rigveda und der Yajurveda.

Die Lehre von der Seelenwanderung entwickelte sich in Indien naturgemäss im Zusammenhange mit der Lehre vom All-Einen, deren Wurzeln schon in dem Rigveda, der Sammlung der uralten heiligen Lieder, die die Inder zum Teil beim Einwandern aus Afghanistan mitbrachten, zu finden sind. Wohl sind auch ein paar weltliche Lieder dabei, aber sie finden sich erst im 10. Buch des anerkannten Textes, der Redaktion der Çakalaschule, das erst etwa um 1000 v. Chr. den übrigen 9 Büchern oder mandala zugefügt ist, wenngleich ihr Ursprung natürlich viel älter ist. Wenn wir uns den Kulturzustand der Inder, der Arya zurzeit der Entstehung des Rigveda vergegenwärtigen wollen, so brauchen wir nur die Germania des Tacitus zu lesen, nicht einmal der Spieltrieb fehlt, wie 10, 34 bekundet: »Nach seinem Weibe greifen fremde Hände, indes mit Würfeln er auf Beute ausgeht.« Auch hier ein freies Volk, der König eigentlich nur Herzog, d. h. Heerführer im Kampfe, der Hausvater, der Sippenälteste, Herr und König in seinem Hause und zugleich auch Priester. Eine eigentliche Priesterkaste, ein Bramanentum gab es noch nicht, überhaupt kein Kastenwesen, auch keine Witwenverbrennung. Das alles hat sich erst in der folgenden Periode entwickelt und hängt mit der Ausbildung des Opferrituals eng zusammen. Wohl spielt auch im Rigveda das Opfer, insbesondere das des Agni und noch mehr des Soma eine bedeutende Rolle, aber im Vordergrund steht doch der Hymnus. Übrigens ist die Periode des Rigveda nicht mehr die altindogermanische, wie aus dem Zurücktreten des indogermanischen Lichtgottes Djaus, Zeus, des Tiu der Germanen, angerufen als Djaùs-pitar, Griech. Ζευ πατερ, umbrisch Dispiter, Lat. Jupiter (vgl. A. Kaegi, der Rigveda Anm. 112), des Lichtgottes, des Himmelsvaters, und der Gäa, der Mutter Erde, Prithivi, hervorgeht.

Auch die Götter des Rigveda müssen in der Brahmanen-Periode dem Dreigestirn Brāhman, Vishnu, Çiva weichen. Der erstere eine priesterliche Abstraktion der Weltseele, die beiden anderen, in den Veden erwähnt, aber doch erst später hervortretend gegen Varuna, den Himmel, und Indra, den Kriegsgott, den eigentlichen Nationalgott des Rigveda. Namentlich der Kult des schrecklichen Zerstörers Çiva entstammt so recht eigentlich dem Grund der einheimischen Volksseele, welche die Gewalt der Naturmächte oder Götter als schwer versöhnliche Feinde der Menschheit empfindet. Im übrigen sei für die altindische Kultur zur Vedenzeit auf H. Zimmers klassisches Werk: Altindisches Leben (1879) verwiesen.

Die Bedeutung des Opfers.

In der auf die Rigvedazeit folgenden Periode, der des Yajurveda, der Lehre vom Opfer, und der Brāhmana-Texte, der Kommentare der einzelnen hervorragenden Weisen, nimmt der Zug nach Erlösung von der Qual des Wiedersterbens seinen Anfang. Und auf der andern Seite in der Flucht der Erscheinungen bildet nur eins den ruhenden Pol, der Kern aller Wesen, der Atman Brahman, der in allem ist, die heilige Weltseele. Seelen, die in der Hölle der Existenz wandern, werden durch Busse erlöst zu einem seligen Sein auf dem Monde, aber die gleiche Vorstellung findet sich bei den Pythagoräern, nur dass an Stelle des Mondes die Sonne tritt, wie im Satapatha Brāhmana die seligen Seelen als Sonnenstäubchen erscheinen.

Gemeinsam ist auch in der Buddha- und Pythagorassage die Erinnerung an den früheren Seelenzustand.

v. Schröder sagt in Pythagoras und die Inder:

»Wer nun mit dieser durch mehrere Jahrhunderte sich erstreckenden Epoche der indischen Kulturgeschichte vertraut ist, der nur eigentlich vermag es ganz zu ermessen, welch eine Rolle zu jener Zeit das Opfer mit seinen unzähligen Details im Geistesleben der Inder spielte. Das gesamte Sinnen und Trachten des hochbegabten Volkes ist in diesem Jahrhundert auf das Opfer, seine Vorbereitung und Ausführung gerichtet. Die umfangreiche Literatur, die als Zeuge jener Zeiten zu uns redet, handelt vom Opfer und immer nur vom Opfer. Dem Opfer in allen seinen Einzelheiten wird die höchste Bedeutung beigelegt, die Kraft Götter und Welten zu zwingen, Natur und Menschen zu beherrschen. Wunderbar übernatürliche Macht wohnt ihm inne und selbst die Kosmogonie geht auf das Opfer zurück. Aus Opfern sind alle Welten und Wesen, alle Götter und Menschen, Tiere und Pflanzen entstanden. Das Zeremoniell des Opfers, wie schon die Yajurveden zeigen, ist ein ungeheuer kompliziertes und die kleinste Äusserlichkeit wird mit einem Nimbus von Wichtigkeit umgeben, der für uns nicht selten das Lächerliche streift. Die Vorbereitung zum Opfer, die Fertigstellung des Opferplatzes etc. spielt hier eine hervorragende Rolle. Dabei ist natürlich die Konstruktion der Altäre von allerhöchster Bedeutung. Jede Linie, jeder Punkt, jedes Formverhältnis war hier von entscheidender Wichtigkeit und konnte nach dem indischen Glauben jener Zeit, je nachdem es ausgeführt war, Segen oder Unheil bringen. Über die Gestalt und Grösse der Altäre, ihr Verhältnis zueinander und zu ihren einzelnen Teilen, zu den mannigfachsten abstrakten Begriffen, ihre symbolische Bedeutung und die richtige, nicht bloss gottgefällige, sondern selbst Götter zwingende Art ihrer Herstellung haben Generationen eines hochbegabten, für Spekulation und Abstraktion und namentlich für rechnerische Leistung sehr beanlagten Volkes gegrübelt und immer wieder gegrübelt.«

Und Bürk und Leumann stimmen dem zu.

Es mussten daher die Inder schon in jener sehr frühen Zeit gezwungen werden, wenigstens auf dem Opferplatze eine Feldmesskunst auszubilden. Cantors Ansicht ist um so unbegreiflicher als er selbst sagt, dass die Sulba-sutras Schriften von geometrisch-theologischem Charakter sind; wie sie abgesehen von einigen ägyptischen Inschriften in keiner Literatur sich wiederfinden.

Konstruktion der Opferstätten und Altäre.

Wenn nun Pythagoras in Indien war, so konnte er nicht nur, so musste er von dort den Satz über das Quadrat der Hypotenuse mitbringen. Selbst Cantor hat sich dem, wie erwähnt, nicht ganz verschliessen können.

Das Apastamba-Sulbasutra, die Lehre von der Messschnur nach Apastamba, gehört in den Ausgang der Brāhmana-Literatur, der Zeit, die auf die Veden folgt.

Die Veden, von Veda (Lehre, Wissenschaft), enthalten die ältesten religiösen Satzungen: den Rigveda, soweit sie sich in Liedern formulieren, und den (schwarzen und weissen) Yajurveda, der vom Opfer, seiner Zurüstung, den Zeremonien etc. handelt. Die Veden sind kurz und dunkel. Die riesige Brāhmana-Literatur bestand in Kommentaren zu den Veden, die die Veden selbst als bekannt voraussetzen. Gehören die Veden der Zeit von 1200–1000 an, so gehen die Brāhmanas bis etwa 600, der Zeit vor dem Auftreten Buddhas.

Die Sulba-sutras bilden in den verschiedenen Lehrbüchern der Schulen ein Kapitel der Kalpa-Sutras oder Çrauta-Sutras, deren Aufgabe es ist das Opferritual übersichtlich darzustellen, und ihr Sulba-Sutra gibt die Regeln für die genaue Abmessung des Opferplatzes, der verschiedenen Altäre etc.

Diese Schulen entsprechen den Babylonischen Tempelhochschulen, und wie die Fürstpriester Babylons stehen die altindischen Weisen, die rishi, an genialer Begabung für religiöse und philosophische Spekulation keinem Platon und Aristoteles nach.

Die Anfänge des indischen Opferwesens reichen bis in die Zeit des Rigveda zurück; schon in ihm werden die Altar-Stätten (vedi) und der dreifache »tri-schadhastha« Sitz des Agni, des Feuers (= lat. igni-s), des sozusagen irdischen Gottes im Rigveda, die drei geschichteten Altäre erwähnt: der Altar des Hausherrn, der garhapatya — der ahavanīya — Opferaltar — und der daksinagni — Südaltar. Nach den Angaben des Yajurveda handelte es sich bei dieser Dreiteilung um Quadrate, Kreise und Halbkreise, die von gleicher Fläche sein mussten.

Altindische Geometrie.

Das Verfahren wird selbstverständlich in dem Rigveda, den wir auf 1200 v. Chr. setzen, nicht erwähnt, doch heisst es: »kundige Männer massen den Sitz des Agni aus.« Die eigentliche Blütezeit des indischen Opferwesens war die Periode der Brahmanas, welche nach Leumann sich bis ins 7. Jahrhundert vor Chr. erstreckt. L. v. Schröder sagt in »Pythagoras und die Inder«, was Bürk und Leumann akzeptieren: »Auf Grund dieser Sulba-Sutras und unter Berufung auf noch bedeutend ältere Werke wie die Taittirīya-Samhita (Sammlung) und das so hochbedeutende Satapatha-Brāhmana (die hundertpfadige Lehre) lassen sich nun die geometrischen Kenntnisse bestimmen, welche die Konstruktion der Altäre erforderte,« und ich werde hier also Gelegenheit nehmen auf die altindische Geometrie näher einzugehen.

Bei den Altären unterscheidet man die vedi, d. h. das Altarbett, und den Agni, d. h. den beim Agni-Opfer und beim Soma- (dem heiligen Trank-) Opfer aus meist quadratischen Backsteinen geschichteten Feueraltar. Das Somafest wurde zu Ehren Indras, des Kriegsgottes, gefeiert. Der Gott und die Krieger sollten sich berauschen an dem Somatrank, der aus einer stark milchsafthaltigen Pflanze bereitet wurde. Es hatte so hohe Bedeutung, dass der Somatrank selbst zum Gott gemacht wurde.

I. Vedi. Die Inder legten grossen Wert auf genaue rechtwinklige Herstellung ihrer Altäre, und Apastamba lehrt zu diesem Zwecke bei der Vedi für das Somafest mehrere ganzzahlig rechtwinklige Dreiecke anzuwenden, deren Masse zum Teil schon im Taittirīya- Text und im Satapatha-Brāhmana vorkommen. Und auf diese bei der Saumiki vedi gelehrte Methode der Ausmessung weist er bei einer Reihe andrer Vedis zurück. Unter diesen ist erstens noch die Vedi der Sautramani-Zeremonie hervorzuheben, welche nach einer alten Vorschrift 13 der Saumiki vedi messen soll (Thibaut). Es handelt sich dabei um das Opfer für Indra Su-trāman (Ζευς σωτηρ). Ihre Konstruktion geschah entweder mit Hilfe der tri-karani oder trtīya-karani (der drei oder 13 machenden), d. h. entweder mittelst der geometrischen Konstruktion von √3 oder √1/3, und das geht nicht ohne Pythagoras (denn √1/3 = 1/3√3). Apastamba Kap. II, 2 steht die Figur (s. S. 158), natürlich ohne Buchstaben. Ferner die vedi beim asvamedha (Rossopfer); da diese doppelt so gross als die Saumiki vedi sein soll, wird sie mit der dvi-karani; der √2, ausgemessen.

Grundriss des Normalaltar.

Damit ist auch die trtīya-karani erklärt: das Quadrat über der tri-karani ist in 9 Teile zu teilen (Fig. S. 158).

Nur wenn die Vedi genau den Vorschriften entsprach, war das Opfer Gott wohlgefällig, im andern Fall eine Beleidigung. Die genannten Arten der Vedi und die meisten andern hatten die Form eines Achsentrapez; dies musste zuerst in ein Rechteck verwandelt werden (Ap. V, 7), dessen Berechnung, z. B. Ap. S. V 7 und 9 gelehrt wird.

II. Agni — geschichteter Feueraltar. Alle in den Brāhmanas und Sutras vorkommenden Vorschriften beziehen sich, wenn nicht anders angegeben wird, auf den catur-asra syena-cit, auf den viereckig falkenförmigen. Der atman (Wesen, Seele, Körper) des Altars, der die Gestalt eines Falken in rohen Umrissen nachahmte, bestand aus vier Quadraten über dem purusa (Menschenlänge) und der Schwanz und jeder Flügel aus einem Quadrat-purusa; um der Gestalt des Vogels noch näher zu kommen wird jeder Flügel um 1 aratni (Elle = 15 purusa) und der Schwanz um 1 pradesa (= 110 purusa) verlängert (s. Fig.). Gemäss seiner Zusammensetzung heisst dieser Altar auch agni saratni-pradesa saptavidha (z. B. Ap. Sulb. s. XV, 3.).

Altindische Geometrie zur Konstruktion der Altäre.

Bei der Anlage der Grundfläche handelt es sich nun um die Konstruktion von Quadraten, wofür Apastamba zwei Methoden überliefert. Die erste Ap. VIII, 8 bis IX, 2 beschrieben, ist höchst altertümlich und primitiv (Fig. 2), sie ist älter als die bei Thibaut beschriebene von Baudhāyana zum caturasra-karana. Für alle vier Quadrate sieht sie aus wie Fig. 3, aus der sich dann die von Baudhāyana beschriebene Fig. 4 entwickelt hat.

Die zweite jüngere ist die mittelst des visesa, d. h. mit einem Rest, d. h. der Näherungswert 17/12 (Thibaut) für die √2, also 1,417, Fehler < 0,003; sie setzt den Pythagoras voraus für den Spezialfall. (Ap. Sulba sutra IX, 3), bei Apastamba 577408 = 1,4142156; der Bruch ist auf 5 Dezimalen richtig

1 + 1/3 + 1/3·4 - 1/3·4·34; √2 = 1,414213; Fehler < 3/10 6.

Wenn der Inder durch das Opfer besondere Wünsche erzielen wollte, so traten an die Stelle der Normalform die Kamyas, d. h. es gibt besondere agnis für solche Zwecke. Dahin gehört der agni in Gestalt eines Falken mit eingebogenen Flügeln und ausgebreitetem Schwanze, der in Form eines gleichschenkligen Dreiecks praüga-cit, vordere ochsenjochförmig, eines Doppeldreiecks, eines Wagenrads, rathacakra-cit, eines Troges etc. Aber so mannigfach die Gestalten der Kamyas waren, so musste die Grundfläche genau so gross sein wie bei der Normalform. Man musste also schon zur Zeit der Taittirīya Samhita verstehen, eine geometrische Figur in eine andere ihr flächengleiche zu verwandeln.

Die Aufgabe zu diesem Zwecke war:

1. Beim kreisförmigen hatte man zunächst ein Quadrat = der 71/2 Quadrat-purusa messenden Grundfläche des caturasra syena-cit zu zeichnen, was ohne Pythagoras nicht möglich, und das Quadrat in einen Kreis zu verwandeln.

2. Beim praüga-cit musste man das Quadrat 71/2 verdoppeln, also die dvi-karani konstruieren; die Hälfte des Quadrats über der √2 gab dann das gesuchte gleichschenklige Dreieck. Nun kommt das für die Geometrie eigentlich Wesentlichste: Nach Satapatha-Brāhmana, Baudhāyana Sulb. Sutra; Ap. S. und Ap. Sulba S. war der agni, wenn er das zweite Mal konstruiert wurde, um einen Quadrat-purusa grösser als beim ersten Mal, ebenso beim dritten um einen Quadrat-purusa grösser als das zweite Mal und so fort. Also mussten die Inder spätestens schon zur Zeit der Sat. Brāh. verstehen eine Figur zu konstruieren, die einer gegebenen ähnlich ist und zu derselben in bestimmtem Verhältnis steht.

a) War nun der erstmals konstruierte agni der »einfache« (eka-vidha) gleich ein Quadrat-purusa — was Apastamba nebenbei noch zulässt, während Satapatha Brāhmana es verbietet — so hatte man den zweiten ebenfalls quadratischen doppelt so gross herzustellen, den dritten dreimal und Apastamba geht bis zum sechsfachen, d. h. der Reihe nach √2 √3 bis √6 zu konstruieren, d. h. die Summe zweier Quadrate zu addieren, also Pythagoras.

b) War aber der erste agni der sapta-vidha wie meist, so konnte man bei den folgenden Malen entweder, wie Baudhāyana vorschreibt, alle Teile der Normalform proportional vergrössern und dann das, was hinzukam zunächst in 15 gleiche Teile teilen, oder, wie Apastamba nach älterer Tradition lehrt, nur die 7 purusas, nicht aber auch die beiden aratnis und den pradesa des caturasra syena-cit zunehmen lassen und dann den Zuwachs in 7 gleiche Teile teilen. Ein solches Siebentel musste dann, wenn es zunächst als Rechteck gezeichnet war, in ein Quadrat verwandelt werden (Apast. S. S. II. 7) und hierbei tritt bei Apastamba die Subtraktion von Quadraten als Hilfskonstruktion auf, und dieses Quadrat musste dann mit jedem der sieben zu einem neuen Quadrat vereinigt werden.

3. Beim asva-medha musste der sapta-vidha von vornherein mit 3 oder 21 multipliziert werden, und beide Vorschriften sind nach Angabe des Baudhāyana Sulba Sutra durch Brāhmana-Stellen belegt.

Pythagoras bei den Indern.

Wir sehen also, dass der Pythagoras und seine Satzgruppe eine geradezu prominente Rolle beim indischen Opferkult spielt.

Wir kommen nun zu der Frage, wie alt ist der Pythagoras?

Ausgesprochen ist der Satz bei Baudhāyana, Katyāyana, Apastamba, z. B. Ap. Sulba S. I, 7: Die Diagonale eines Rechtecks bringt beides hervor, was die längere und die kürzere Seite desselben jede für sich hervorbringen, und I, 5: Die Diagonale eines Quadrates bringt eine doppelt so grosse Fläche des Quadrates hervor samasya dvi-karani (die das Doppelte hervorbringende). Der Satz ist also jedenfalls so alt als die genannten Sulba Sutras. Die des Apastamba bildeten den 24. Prasna (Buch) des Srauta Sutra, und dieses kann nach der Untersuchung der Sanskritisten nicht nach dem Anfang des 4. Jahrh. v. Chr. entstanden sein. Damit ist die Heron-Hypothese Cantors ohne weiteres beseitigt.

Aber der Pythagoras ist den Indern, musste den Indern viel länger bekannt sein. Zunächst ist das Baudhāyana S. S. wahrscheinlich mindestens 200 Jahre vor dem Apastamba Sulba Sutra redigiert; und dann ist klar, dass die Vorschriften selbst weit älter sind als ihre schriftliche Fixierung. Insbesondere scheint das Apast. Sulba Sutra durchaus die ältere Tradition festgehalten zu haben. Dann aber finden sich Vorschriften über die Vergrösserung z. B. des Asvamedha- und Sutrāmani-Altars und über die Konstruktion der Kamyas in der Taittirīya Samhita und über die Vergrösserung des falkenförmigen Normalaltars im Satapatha-Brāhmana, die ohne Pythagoras unmöglich sind. Nun ist die Taittirīya S. noch etwas älter als das Satapatha, und beide gehören zu einer Klasse von Werken, von denen Oldenberg (Buddha 3. Aufl. S. 19) sagt: »Wir werden schwerlich fehlgehen, wenn wir ihre Entstehung vom 10.-8. Jahrh. setzen.« Übrigens wird dieses Minimal-Alter durch Bürk l. c. nachgewiesen mittelst zweier Stellen, je eine aus der Taitt. Samh. und aus dem Sat. Brāh. Taitt. Samh. 6. 2, 4, 5 heisst es von der Vedi für das Somaopfer: Die westliche Seite ist 30 padas lang, die praci 36; die östliche Seite 24, und genau dasselbe sagt die Stelle im Satapatha-Brāhm. 10, 2, 3, 4.

Bei Baudhāyana erscheint der allgemeine Pythagoras an zweiter Stelle, und er setzt hinzu: diesen zweiten Fall erkennt man aus den Rechtecken mit den Seiten 3 und 4, aus 12 und 5, aus 15 und 8, aus 7 und 24, aus 12 und 35, aus 15 und 36, und Cantor selbst sagt 2. Aufl. S. 398: »Das ist nun offenbar der Pythagoräische Lehrsatz, erläutert an Zahlenbeispielen.« Das Fehlen der Hypotenuse darf nicht auffallen. Die Taittirīya- und die anderen Srauta-sutras sind die Yajurveden in der Redaktion der betreffenden Schule und diese enthalten »diejenigen Sprüche oder Verse, welche der die eigentliche Opferhandlung verrichtende Priester, der Adhvaryu, zu sprechen oder zu murmeln hatte.«

Auch die Brāhmanas bieten keine fortlaufende Darstellung des Opfers, sondern vielmehr Erläuterungen zu demselben. Im Sulba Sutra bei Apastamba, da wird die wirkliche Konstruktion gegeben und da tritt denn auch z. B. beim Dreieck 30 : 15 die ganzzahlige Hypotenuse 39 auf.

Das Alter des Pythagoras bei den Indern.

Somit ist der Pythagoras bei den Indern aus dem 8. Jahrh. sicher konstatiert, aber höchst wahrscheinlich den Indern schon viele Jahrhunderte vorher bekannt gewesen. (H. Hankel.) — »Was nun das Alter der Sulba-Sutras betrifft, so weiss jeder, der sich mit indischer Literatur beschäftigt hat, dass jedes Erzeugnis nach seinem Zusammenhange mit der ganzen Literaturgruppe, zu der es gehört, beurteilt werden muss.« (E. Leumann.) Da kann nun kein Zweifel darüber sein, dass die Sulbas, sie mögen niedergeschrieben sein wann sie wollen, zur Yajurveden-Literatur gehören, d. h. zum Opferkult, sie bilden ein durchaus nötiges Kapitel des Srauta Sutra, der bis aufs i-Pünktchen detaillierten Lehre vom Opferzeremoniell und damit ist entschieden, dass ihr Inhalt bis etwa 900 v. Chr., vielleicht sogar noch höher hinaufreicht, und insbesondere zeichnen sich die Apastamba- wie die Taittirīya-Schule durch Bewahrung alter Tradition aus. Nun sind noch zwei Punkte zu besprechen. Indische Manuskripte sind verhältnismässig jung. Baumrinde kann sich an Dauerhaftigkeit nicht mit Papyrus, noch weniger mit gebrannten Tontafeln messen, zudem tritt die Schrift im eigentlichen Sinne bei den Indern verhältnismässig spät auf und ist nicht original. Dasselbe würde ja auch für das gewaltig umfangreiche Heldengedicht des Mahabharata gelten. Aber abgesehen davon, dass Zeichen analog den Runen der Germanen vermutlich auch bei den Indern uralt waren, so war das Gedächtnis eben durch den Mangel an Schrift enorm entwickelt. Leute, die täglich ein Kapitel auswendig lernten, etwa wie die arabischen Geistlichen die Suren des Koran, die kannten bald ganze Werke auswendig, und auch heute sind solche Gedächtniskünstler nicht selten unter den Brahmanen.

Ein zweiter Einwand klingt einleuchtender. Die erstaunlich verklausulierten Vorschriften der Kalpasutras sollen Zeichen der Erstarrung und des Verfalls sein. Ganz abgesehen davon, dass die Indologen von Fach die Blüte des detaillierten Opferkults zwischen 1000 und 800 setzen, ist darauf folgendes zu erwidern: Das richtig vollbrachte Opfer hat die Macht, die Götter unter den Willen des Opferers zu beugen; ich habe ja schon bei Babylon darauf hingewiesen, dass die Arier sich der Gottheit nicht annähernd so knechtisch gegenüberstellten wie die Semiten. Ein durch Germanen, Hellenen und Inder, kurz durch die ganze Arische Welt hindurchgehender Zug ist das Misstrauen gegen die Götter, die Furcht vor ihrem Neide, die Teufelslehre knüpft hier an, und der Stammbegriff des Wortes Teufel ist das Sanskritische Wort für Gott. Grade aus der ältesten Zeit tiefster Religiosität stammt dies Gefühl und jene Genauigkeit ist grade ein Zeichen der naiven Periode, es darf dem Gott auch nicht die leiseste Handhabe geboten werden, seinem Unwillen über den auf ihn ausgeübten Zwang Ausdruck zu verleihen.

Ich glaube nicht, dass irgend ein heutiger Indologe bezweifeln wird, dass das Alter der Sulba-Sutras dem Inhalt nach bis mindestens 1000 heraufgeht, und dass sich die indische Geometrie auf dem Boden der Opferlehre, des Aufbaues der Altäre entwickelt hat.

Der Satz vom Gnomon.

Was aber die Entlehnung des Pythagoras von den Indern seitens des Pythagoras noch viel sicherer macht, das ist das Auftreten des sogenannten Gnomon, des Satzes von dem Ergänzungsparallelogramm. Schon Bretschneider sagt, dass die Kenntnis dieses Satzes dem Pythagoras mutmasslich zur Auffindung des Satzes gedient hat, und Hankel sagt l. c. mit ahnungsvollem Scharfblick, diese Herleitung erscheine wahrscheinlich. Aber eben dieser Gnomon war den Indern auch bekannt. Baudhāyana geht mittelst desselben vom Quadrat mit der Seite 16 zu dem mit der Seite 17; er sagt z. B.: Wenn man aus 256 quadratischen Backsteinen ein Quadrat gebildet habe, so soll man nun 33 Backsteine hinzufügen. Und Apastamba sagt II, 7, es folgt nun eine allgemeine Regel: Man fügt: 1. das [Rechteck], welches man mit der jedesmaligen Verlängerung (und mit den Seiten des gegebenen Quadrates) umzieht [d. h. herstellt], an den zwei Seiten des Quadrates, nämlich an der östlichen und an der nördlichen hinzu, und 2. an der nördlichen Ecke das Quadrat, welches durch die Verlängerung hervorgebracht wird; dazu die Figur und das ist klipp und klar

(a + b)2 = a2 + 2ab + b2.

Der Satz konnte ihnen, da sie meist mit Backsteinen arbeiteten, gar nicht entgehen.

Die Pythagoräischen Dreiecke bei den Indern.

Dass die Inder den Satz gefunden haben, ist natürlich nicht bewiesen, aber so lange babylonische und ägyptische ältere Quellen uns nicht zur Verfügung stehen, sind sie diejenigen, die am frühesten nachweisbar den Satz besessen haben und die Auffindung kann ganz gut so wie Bürk es angibt, geschehen sein; sie kann aber auch ganz leicht direkt erfolgt sein, zunächst für das Dreieck 3, 4, 5 durch Drehen der Schnur, was ja eine ihnen ganz geläufige Operation war. Es kommen im Apastamba Sulba-Sutra 5 »erkennbare«, d. h. ganzzahlige rechtwinklige Dreiecke vor, die Inder sagen: Rechtecke.

Zeichnung Pythagoräisches Dreieck

3

4

5

5

12

13

7

24

25

8

15

17

12

35

37

15

36

39

, letzteres

das wichtigste für die Vedi. Davon fallen die ersten 3 auch unter die von Proklos ausdrücklich dem Pythagoras, bezw. seinen Schülern zugeschriebenen Formeln 2a + 1; 2a2 + 2a; 2a2 + 2a + 1; die beiden folgenden sind platonisch 2a; a2 - 1; a2 + 1.

Das letztere ist dem zweiten ähnlich; aus Apastamba V, 4 folgt, dass diese Ähnlichkeit ihm völlig klar war. Angesichts von Thibauts Darstellung in Bühlers Grundr. ist es nicht uninteressant an der Hand der Sulba-Sutras nachzusehen, was den Indern jedenfalls um 800 v. Chr. an geom. Kenntnissen zur Verfügung stand. Ich benutze Thibauts Übersetzung des Baudhāyana und Bürks Übers. des Ap. S. S. im 56. Bande der Zeitschrift der D. Morgenländischen Gesellschaft. Das Werkzeug, dessen sie sich für ihre Konstruktionen bedienten, war die Schnur (sulba oder rajju), und gelegentlich auch ein Bambusstab. Ich beginne mit der Konstruktion des einfachen Quadrats, Ap. Kap. VIII, 5–10, IX, 1.

»Man schneide an einem Bambusrohr in einer Entfernung gleich der Höhe des Opferers mit emporgehobenen Armen (der purusa, Menschenlänge, später war das Mass die babylonische Doppelelle) zwei Zeichen (A und B) ein, und in der Mitte ein drittes (die Mitte wird durch die zusammengelegte Schnur bestimmt). Man lege das Bambusrohr westlich von der Grube des Opferpfostens längs der prsthya (d. i. Rückenlinie, die schon zuvor ein für allemal von Westen nach Osten prak gezogen war, daher sie auch oft praci heisst). Schlage an den Einschnitten Pflöcke ein (D, E, F), mache (das Rohr) von den beiden westlichen (Pflöcken E und F) los und beschreibe (von F aus) in der Richtung nach Südosten einen Kreisbogen bis zu dem (östlichen) Ende (des zu konstr. Quadrats).« Entsprechend verfährt man von F aus, legt das Rohr von E über G nach H, schlage in H einen Pflock ein, befestige in H das mittlere Zeichen des Rohrs, lege die beiden andern an die Enden der beiden Linien und schlage in die beiden Zeichen zwei Pflöcke.

Altindische Geometrie.

Hier haben wir die Konstruktion des Lotes mittelst der Symmetrieachse, und die gemeinsame Tangente zweier Kreise im speziellen Falle und die Quadratkonstruktion, die wir mit 4 Kreisen ausführen, zugleich eine Art mechanischer Konstruktion, die bei den Hellenen Neusis heisst (s. unter Apollonius).

Diese Methode gilt als die älteste für die »Quadratmachung«, das Catur-asra-karana, älter als die des Baudhāyana, welche die Figur auf S. 148 zeigt. Von der einfachen Quadratform war dann der Agni vom einfachen bis zum 6fachen des Grundquadrats, es musste also mittels Pythagoras das Quadrat mit 2, 3, 4, 5, 6 multipliziert werden. Dann kam der Saratni-pradesa saptavidha, d. h. also der caturasra syena-cit, der viereckig falkenförmige, und dann die Vorschrift: Was beim 8fachen und den folgenden von den 7 verschieden ist, teile man in 7 Teile, und lasse in jedes purusa einen Teil eingehen, weil die Veränderung der Gestalt nicht schriftgemäss wäre. Auch hier hat Apastamba weitaus die ältere Methode, während B., wie oben gesagt, die Zunahme auf alle 10 Flächen gleichmässig verteilt, da auch paksa und puccha, Flügel und Schwanz, berücksichtigt werden, was schon recht komplizierte Teilungs- und Messungsoperationen voraussetzt. A. geht bis zum 101fachen des Quadratpurusa.

I, 2 Konstruktion der Achsentrapez-förmigen Opfergrube, Vedi, mittelst des rechtwinkligen Dreiecks 36, 15, 39.

Man nimmt eine Massschnur (pramāna, A1B1 = 36, Fig. 1), verlängert sie um ihre Hälfte (bis G), macht dann am westlichen Drittel (d. h. also von G aus) weniger 1/6 desselben ein Zeichen (H). Man befestigt die beiden Enden (der verlängerten Schnur) an den Enden der prsthya, zieht an dem Zeichen nach Süden (daksina), ebenso verfährt man im Norden (uttara), und nachdem man vertauscht hat, nämlich die in A und G befestigten Enden, nach beiden Seiten (im Osten). Denn die Fertigstellung durch diese wird eine Verkürzung oder eine Verlängerung (12, 17) herbeiführen.

I, 3 wird dann zur Konstr. des rechten Winkels das Dreieck 3, 4, 5 analog benutzt (Fig. 2).

I, 4 und 5 der Pythagoras.

Bei Apastamba zuerst in 4 der allgemeine:

Die Querschnur (aksnaya-rajju, Diagonale) eines Rechtecks, was die längere und kürzere jede für sich hervorbringt, das bringt sie zusammen hervor. Mittelst dieser und zwar solcher, die »erkennbar« sind, ist die Konstruktion (in § 2 u. 3) gelehrt worden. (jneya würde wohl besser mit »feststellbar« d. h. als ganzzahlige rechtw. Dreiecke wiedergegeben.)

5. Die Diagonale des Vierecks erzeugt die zweifache Fläche (ausdrücklich das Wort bhumi Fläche, dvis-tāvati bhumi), sie des Quadrats Doppeltes hervorbringende (dvi-karani). Viereck, schlechtweg catur-asra, ist wie das griechische τετραγωνον das Quadrat, um aber ganz deutlich zu sein, wird es im Nachsatz sama »das mit gleichen Seiten« genannt. Katyāyana unterscheidet sogar die beiden Arten gleichseitiger Vierecke.

Wurzel aus 2.

6. Konstruktion des besseren Näherungswertes der √2.

Man verlängere das Mass A B um seinen dritten Teil und diesen wieder um seinen vierten Teil weniger einem 34stel dieses vierten Teils (Fig. 3). Die √2, die dvi-karani von karana »machen«, heisst (sa-visesa) d. h. die Zahl mit dem Rest. Die Verlängerung ist der visesa; √2 ist also 1 + 13 + 13·4 - 13·4·34 = 577408 = 1,4142156; da √2 = 1,414213, so ist der Fehler kleiner als 3 Einheiten der 6. Dezimale. Der Näherungswert des Baudhāyana ist 1712 = 1,417, also genau bis auf 0,003. G. Thibaut hat ganz richtig (bis auf einen kleinen Rechnungsfehler) angegeben, wie sie zu beiden Näherungswerten gekommen sind. Sie suchten zunächst nach einem Quadrat, das doppelt so gross wie ein anderes sei, und fanden, dass 2·122 annähernd gleich 172, und setzten daher √2 = 1712, wodurch der Gott ja nicht zu wenig erhielt. Da sie aber genauer verfahren wollten, so setzten sie (17 - x)2 = 288. Dass ihnen der Satz vom Gnomon bekannt, wird gleich aus dem Text nachgewiesen werden. Das ergab 34x - x2 = 1, und indem sie das ersichtlich sehr kleine x2 vernachlässigten, setzten sie 34x = 1, also x = 134 und somit die Dvi-karani (rajju) gleich 1712 - 112 · 134, was ja immer noch eine Zugabe enthielt.

Hervorzuheben ist hier zunächst die intuitive Erfassung der Ähnlichkeit. Sodann setzt die Konstruktion die Teilung der Strecke im vollen Umfang voraus, aber auch Ansatz und Lösung einer Gleichung. Ausserdem geht aus der Bezeichnung der √2 als der Zahl mit dem Rest hervor, dass sie sich bewusst waren, die √2 zwar geometrisch, aber nicht arithmetisch genau konstruieren zu können, d. h. also, dass sie bis zu einem gewissen Grade in diesem einen Falle die Erkenntnis der Irrationalen hatten. Ob sie den Begriff des Areton, des Alogon gehabt haben, bleibt freilich durchaus zweifelhaft; aber, und darauf ist der Hauptwert zu legen, diese Näherungskonstruktion kann keine Frucht des Zufalls sein, sondern sie musste eine Folge zielbewusster Tätigkeit sein.

Kap. II, 1 wird dann die eben konstruierte Savisesa-Grösse zur Konstruktion des Quadrats benutzt. Sehr hübsch ist das Sama-caturasra-karana in I, 7, wo gleich alle 4 Quadrate des Atman des Falkenförmigen konstruiert werden mittelst der Raute, die aus zwei gleichseitigen Dreiecken besteht. (Euklid I, prop. 1. Die Figur wird wohl genügen.)

II, 2 wird dann, wie schon oben S. 156 beschrieben, die dvi-karani und mit ihr nach I, 4 die tri-karani und mittelst ihrer in II, 3 die √1/3 als 1/3√3 konstruiert.

Anwendungen des Pythagoras.

II, 4 wird der Pythagoras zur Addition zweier Quadrate verwandt, II, 5 dann zur Subtraktion; es wird ein regelrechter Beweis in N 6 mittelst des Pythagoras gegeben. Wir sehen, dass die Bedeutung des Pythagoras für die Flächenrechnung vollkommen klar erkannt ist; es wird systematisch multipliziert, addiert, subtrahiert und dann dividiert, wozu es erforderlich ist, ein Rechteck in ein Quadrat zu verwandeln; dies lehrt I, 7. Das Rechteck heisst dirgha-caturasra, directum quadrangulum, die Aufgabe das sama-caturasra-cikirsana. Wünscht man das Rechteck in ein Quadrat zu verwandeln, so schneide man mit der kürzeren Seite ab, teile den Rest, füge an beiden Seiten hinzu, fülle den leeren Platz mit einem zugefügten Stück, dessen Subtraktion gelehrt worden ist.

Addition zweier Quadrate.

Subtraktion zweier Quadrate.

M. H. Diese Verwandlung setzt notwendig die Analysis voraus a(a + b) = a2 + ab = a2 + 2 ab2 = a2 + 2 ab2 + (b2)2 - (b2)2 = (a + b2)2 - (b2)2.

Sie kommt m. W. bei den Hellenen nicht vor.

III, 1. Will man ein Quadrat in ein Rechteck verwandeln, so mache man eine Seite so lang als man das Rechteck wünscht. (Es ist ganz klar, dass hier die Rechnung xy = a2 die Analyse gibt, und dass sie wissen, dass eine Seite unbestimmt bleibt, also »so lang sein kann als man wünscht«.) Darauf füge man den Rest zu dem Rechteck hinzu wie es passt. Die Methode wird dann von dem Kommentator Sundara des Baudh. an dem Beispiel des Quadrats mit der Seite 6 erläutert (s. Fig.), das in ein Rechteck mit der Seite 4 verwandelt werden soll 36 = 4 . 6 + 4 . 2 + 4 . 1 = 4(6 + 2 + 1) = 4 . 9.

Hochinteressant ist es, dass hier die Inhaltsgleichheit wie bei Wolfgang Bolyai aufgefasst wird. Der Kommentator des Baudh., G. Thibaut 1875 l. c. 247, gibt dann unsere auf den Satz von den Ergänzungsparallelogrammen gegründete Kegel, doch kommt dies für die altindische Geometrie nicht in Betracht.

Verwandlung des Quadrats in den Kreis und v. v.

III, 2. Verwandlung eines Quadrats in einen Kreis (nötig für den Aufbau des rathacakra-cit, s. Fig.), denn »so viel als verloren geht, kommt hinzu«. Der Kreis hat den Radius MN = MG + 13 GE und wenn MG = 1 gesetzt wird, so ist MN = 1 + 13 des visesa = 1 + 0,414213 : 3 = 1,138071, also 1,1380712π = 4, also π = 3,0883 = 18(3 - 2√2) = 105/34. Die Regel scheint durch Probieren gewonnen, die halbe Seite ist zu klein, und die halbe Diagonale zu gross.

III, 3. Kreis-Quadratur, nötig für Vervielfältigung des »Wagenradförmigen«. Als Seite wird 13/15 des Durchmessers genommen, also π = 169 . 4/225 = 3,004. Baudhāyana hat genau den vorhin ermittelten Wert für π nämlich 105/34 und gibt als Regel an 78 + 18 . 29 - 18 . 29 . 6 + 18 . 29 . 6 . 8 vom Durchmesser. Dies setzt erstens eine sehr bedeutende Gewandtheit in der Bruchrechnung voraus, zweitens die Auflösung einer reinquadratischen Gleichung, d. h. die Ausziehung der Quadratwurzel, da der Wert λ = √π4 = √105136 = √0,77205882353 = 0,8786688 mit seiner Zahl 9785/11136 = 0,878682 übereinstimmt bis auf 13 Einheiten der 6 Dezimale!

III, 7. Eine Schnur bringt jedesmal soviel Reihen hervor als sie Masse enthält, d. h. ein Quadrat über a Längeneinheiten enthält a Reihen von Flächeneinheiten zu a; also die Inhaltsformel des Quadrates, die in § 4, 6, 8, 10 spezialisiert ist.

Der Satz vom Gnomon.

III, 9. Der Satz vom Gnomon: Es folgt nun eine allgemeine Weise (nämlich ein Quadrat zu vergrössern, s. Fig.). Man fügt das (Rechteck), welches man mit der jedesmaligen Verlängerung umzieht, an zwei Seiten (Norden und Osten) hinzu und an der (nordöstlichen) Ecke das Quadrat, welches durch die betreffende Verlängerung hervorgebracht wird. — D. h. also nichts anderes als (a + b)2 = a2 + 2ab + b2.

Der Satz vom Gnomon konnte ihnen, da sie ihre Quadrate vergrösserten und meist mit quadratischen Backsteinplatten arbeiteten, nicht entgehen, und dass in ihm die Quelle des Pythagoras liegt, haben Bretschneider und Hankel gesehen. Der durch die punktierte Linie angedeutete Beweis, der sich bei Bhaskara findet, heisst noch heute der indische und beruht vermutlich auf uralter Tradition.

Dreieck und Trapez.

Kap. IV, 4 wird gelegentlich der Anlage der drei Feueraltäre (S. 145) die Konstruktion des Dreiecks aus den drei Seiten gelehrt.

Man teilt eine Schnur gleich dem Abstand zwischen garhapatya und ahavanīya (der, falls der Opferpriester ein brāhmana war, 8 Schritt betrug) in 5 oder 6 Teile, fügt einen 6. bezw. 7. Teil hinzu, teilt das Ganze in 3 Teile und macht am westlichen Drittel ein Zeichen, dann befestigt man die beiden Enden am garh. und ahav., zieht die Schnur an dem Zeichen nach Süden und macht ein Zeichen; das ist, gemäss der Schrift, die Stätte des daksinagni.

Sie wissen, wie man sieht, dass 2 Seiten eines Dreiecks zusammen grösser sind als die dritte.

Kap. V ist von besonderer Bedeutung. Zuerst § 1 die Konstruktion der grossen Vedi für das Somaopfer aus I, 2, nur dass statt des Rechtecks das Achsentrapez gezeichnet wird; das rechtw. Dreieck oder nach indischem Sprachgebrauch das Rechteck ist das mit den Seiten 36 und 15 und der Diagonale (Hypotenuse) 39. Ganz besonders ist § 3 interessant. Es heisst da: [Sind] die beiden Seiten eines Rechtecks 3 und 4, so ist die Diagonale 5. Mit diesen legt man die beiden amsa (Schultern), nachdem man sie je um ihr Dreifaches verlängert hat, fest, und nachdem sie um ihr Vierfaches verlängert worden sind, die beiden sroni (die Schenkel).

Ähnlichkeit.

Hier leuchtet ein, dass sie mit dem Begriff der Ähnlichkeit vertraut gewesen sind. Das gleiche gilt bei No. 4. Die beiden Seiten 12 und 5, die Diagonale 13. Mit diesen die beiden Amsa und nachdem sie um ihr Doppeltes verlängert sind, die sroni.

V, 5. Das Dreieck 15, 8, 17 gibt die sroni; sind die Seiten 35 und 12, so ist die Diagonale 37, mit diesen die amsa.

So viele »(als rational) feststellbare« Konstruktionen der vedi gibt es.

V, 7. Die grosse Vedi (d. h. die sub 2–5 konstruierte Saumiki Vedi) misst 972 (Quadrat) pada (Fuss). Man ziehe vom südlichen Amsa zur südlichen sroni hin zu 12 (s. Fig.). Darauf drehe man das abgeschnittene Stück um und füge es auf der Nordseite hinzu. So erhält die Vedi die Gestalt eines Rechtecks. In dieser Form berechne man den Inhalt 27 . 36 = 972.

Hier haben wir einen vollgültigen Beweis, denselben, den wir heute noch geben,

V, 8. Für die Sautrāmani-Zeremonie wird gelehrt: Man opfere in dem 3. Teil der vedi des Soma-Opfers; hier tritt die trtīya-karanī an Stelle des pramana (des Grundmasses). Oder man konstruiere mit der tri-karani (√3). Hierbei sind die kürzeren Seiten 8 und 10 und die prsthya (die Rückenlinie) das 12fache desselben. (Ich vermute, dass die Vedis den Querschnitt durch einen menschlichen Rumpf darstellen sollten.) Hier ist die Ähnlichkeit sogar erfasst als Abänderung des Massstabs!

Und das wird durch die Vorschriften in V, 10 und VI, 1 bestätigt. In V, 10 heisst es: Die Vedi des asva-medha, des Rossopfers, soll das Doppelte der saumiki vedi sein und in VI, 1 heisst es: Es tritt die dvi-karani des Masses an Stelle desselben!

Es folgen nun in den Sulba-Sutras die detaillierten Vorschriften für den Aufbau der verschiedenen Kamyas; sie sind alle in Beziehung auf die speziellen Wünsche gedacht, der falkenförmige Agni z. B. für den, der die himmlische Welt zu erlangen wünscht, weil der Falke sich dem Himmel am nächsten aufschwingt. Die Vorschriften für die Anfertigung der Ziegel offenbaren ein ganzes Teil mathematischer Kenntnisse, insbesondere der Flächenteilung, wie beim Anblick der Figur das vakra-paksa-syena-cit des Falken mit den krummen Flügeln klar wird.

vakra-paksa-syena-cit.

Aber das hier Mitgeteilte genügt, um den Standpunkt der indischen Weisen etwa um 900 v. Chr. zu beurteilen. Zunächst ist es Ehrenpflicht, des Mannes zu gedenken, der zuerst auf die Sulba-Sutras als Schlüssel zur Geometrie der Inder hingewiesen. Es war A. C. Burnell, der in seinem »Catalogue of a Collection of Sanscrit Manuscripts« 1869 p. 29 gesagt hat: »Wir müssen die Sulba-Teile der Kalpa-sutras ansehen als die ersten Anfänge der Geometrie unter den Brahmanas.« Die Kenntnisse selber sind achtbar genug; sie umfassen so ziemlich das ganze erste Buch des Euklid inkl. I, 47 (der Pythagoras), Streckenteilung, Flächenberechnung, Ähnlichkeit und die Kenntnis einer Anzahl ganzzahliger rechtwinkliger Dreiecke.

Altindische Arithmetik.

Die Null bei den Indern.

Auch die arithmetischen Kenntnisse der Sulba-sutras sind keineswegs unbedeutend; sie kennen Quadratwurzelausziehung, auch Auflösung von Gleichungen, sind mit der Bruchrechnung vertraut. Gegen die Rigveda-Zeit zeigen die Yajur-veden sehr erhebliche Fortschritte. H. Zimmer l. c. p. 348 gibt an, dass die höchste bestimmte Zahl im Rig-veda 100000 sata sahasra ist; aber schon in der Yajurveden-Zeit, wie z. B. in der Taitt. Samh. und im Satapatha-Brahmana finden sich Zahlworte bis zu 10 Billionen, und im Mahabhārata Zahlworte für die Potenzen von 10 bis 1017. Im Rig-veda kommen nur wenig Brüche vor; ardha halb, auch sami, pada ein Viertel (der Fuss des Rindes), tri-pad drei Viertel, sapha ein Achtel (Halbhuf der Kuh), kala ein Sechzehntel. Als eine Grosstat, wozu sich zwei gewaltige Götter, Indra und Vishnu, vereinigen müssen, gilt die Teilung von 1000 durch 3. Dagegen finden sich schon im Satapatha-Br. eigene Namen bis zu 15-430-1 als Zeitmass, und die Sulbas, insbesondere Baudh., haben hoch entwickelte Bruchrechnung. Was das indische Positionssystem betrifft, kann höchstens noch, vgl. Babylonien, die Einführung der Null in Frage kommen. Nun kommt die Null vor in dem Manuskript von Bakhshali. In Bakhshali (im nordwestlichen Indien) wurden 1881 Bruchstücke eines Manuskripts auf Birkenrinde ausgegraben. Da die Indologen das Alter dieses Manuskriptes oder seines Inhaltes jetzt auf den Beginn unserer Ära setzen, so müssen wir es hier besprechen. Es enthält Textgleichungen, auch diophantische, und die Kuttaka- d. h. Zerstäubungs- id est Kettenbruchmethode; diese würde damit vermutlich schon 500 Jahre vor Aryabhata indischer Besitz gewesen sein; ferner Summation arithmetischer Reihen, ein eigenes Subtraktionszeichen; und was für uns das Bedeutsamste ist, es enthält die Null in Form eines Punktes . als Zeichen für das leere Feld und als Bezeichnung der Unbekannten, die ja auch vorläufig leer ist. Die erste sonstige Erwähnung der Null, auch in Form eines Punktes, findet sich in Subandhu's Vasavadatta, wo die Sterne mit Nullen verglichen werden, die der Schöpfer bei der Berechnung des Wertes des Alls wegen der absoluten Wertlosigkeit des Samsara (Weltgetriebe) mit seiner Kreide — der Mondsichel — überall auf das Firmament einzeichnete. (G. Bühler, Grundriss der Indo-Arischen Philol. u. Altertumskunde II, 11 p. 78.) Die Null in Kreisform kommt zuerst in den Cicavole Kupferplatten vor. Ihr Name ist eigentlich sunya-bindu und wird abgekürzt zu sunya oder bindu. Über die verschiedene Bezeichnung der Zahlen und Ziffern vgl. Bühler l. c. Kap. VI, die Zahlenbezeichnung.

Eleaten: Xenophanes, Parmenides.

Wenden wir uns nun aus Indien nach Hellas zurück und zunächst zu den Eleaten.

Xenophanes aus Kolophon, ein jüngerer Zeitgenosse des Pythagoras, ist ihr Stifter. Das Weltganze als unvergängliches, ewig unveränderliches, ewig gleichartiges Sein ist sein Gott, er ist der erste wirkliche Pantheist. Wenige Fragmente seiner Lehrgedichte sind erhalten, aus denen ich die Stellen anführe:

ἑις θεος εν τε θεοισι και ανθρωποισι μεγιστος,
ουτε δεμας θνητοισιν ὁμοιιος ουτε νοημα.

Ein Gott unter den Göttern und unter den Menschen der Grösste, nicht an Gestalt den Menschen vergleichbar noch auch an Denkkraft.

Und an einer andern Stelle sagt er, nachdem er gegen den Anthropomorphismus geeifert: »Wenn die Pferde und Ochsen ihre Götter malen könnten, so würden sie dieselben ohne Zweifel als Pferde und Ochsen darstellen.« Xenophanes ist der Urheber der Lehre vom ἑν και παν, von der Einheit aller Dinge, wie Platon und Aristoteles, Theophrast und Timon übereinstimmend bezeugen. Ob der Pantheismus des Xenophanes von den Pythagoräern beeinflusst ist, ob beide von den Orphikern, und diese wieder von den Indern hierin beeinflusst sind, wage ich nicht zu entscheiden.

Xenophanes, der sich in Elea in Lukanien niedergelassen hatte, ist für uns besonders wichtig, als Lehrer des Parmenides aus Elea, des eigentlichen Hauptes der Eleaten, welche noch weit schärfer als die Pythagoräer, ja bis zum Extrem, die Priorität der Begriffe vor den Erscheinungen gelehrt haben. Geboren etwa um 515 aus vornehmer Familie, fällt seine ακμή, seine Blütezeit, etwa um 480. Die Lehre der Pythagoräer war ihm vertraut; ohne der Schule anzugehören, hat er sich die Sittenlehre der Pythagoräer zur Richtschnur genommen, während er als Philosoph die Lehre des Xenophanes, welche hauptsächlich theologischen Charakter hatte, weiterbildete. Er hat seine Ansichten in seinem Lehrgedicht περί φύσεως niedergelegt, von dem uns nicht unbedeutende Bruchstücke erhalten sind, welche zuletzt von Diels mit dem ganzen Rüstzeug philologischer Schärfe herausgegeben sind. (H. Diels, P. Lehrgedicht, griech. und deutsch, Berl. 1891.)

Eleaten: Parmenides, Zenon.

Parmenides ging weit über Xenophanes hinaus. Es gibt, ihm zufolge, nur ein einziges unteilbares lückenloses Kontinuum des Seienden, unveränderlich, nicht werdend, nicht geworden, unbeweglich, zeitlos. Es ist klar, dass die Eleaten mit der Veränderung auch das Zeitproblem ausschalteten. Die Zeit, mitsamt der Vielheit der Dinge, ihr Werden und Vergehen, wird uns durch die Sinne vorgetäuscht (die Maja der Inder!), als Bleibendes, als einziges Sein erkannten sie nur das des Begriffes, und das enthält die Zeit nicht mehr. Indem Parmenides aussprach, dass wahres bleibendes Sein nur dem Begriffe zukommt, identifizierte er Denken und Substanz. Das für uns interessanteste ist, was Parmenides über den Raum sagt. Da zitiere ich l. c. Vers 42 ff. die Stelle:

αυταρ επει πειρας πυματον, τετελεσμενον εστι
παντοθεν, ευκυκλου σφαιρης εναλιγκιον ογκωι
μεσσοθεν ισοπαλες παντηι· το γαρ ουτε τι μειζον
ουτε τι βαιοτερον πελεναι χρεον εστι τηι η τηι.

»Aber da es eine letzte Grenze gibt, so ist er von allen Seiten aus abgeschlossen, der wohlgerundeten Kugel ähnlich an Gestalt, von der Mitte aus an Kräften gleich überall, denn da darf es kein Mehr oder Weniger, Hier oder Dorten geben.« Hier also bei Parmenides treffen wir Jahrtausende vor Riemann die Hypothese von der Endlichkeit des Raumes an und zugleich das Axiom von der Gleichförmigkeit des Raumes. Parmenides hat auch das Verdienst, auf das Problem der Kontinuität weit deutlicher hingewiesen zu haben als die Pythagoräer, die das Problem allerdings auch in ihrer geometrischen Veranschaulichung der Zahlenbeziehungen gestreift haben. Und Zeno, der dritte grosse Eleat, hat grade durch diese Frage seine bleibende Stelle in der Geschichte der Mathematik:

Die Paradoxien des Zenon.

Zenon (Ζηνων) aus Elea, der Sohn des Teleutagoras, ist ungefähr 500 geboren und seine Reife fällt um 450. Es ist sein Verdienst, die Schwierigkeiten und Widersprüche, welche der Begriff der Bewegung, wie überhaupt der der Veränderung enthält, aufgedeckt zu haben, Widersprüche, welche zu ihrer Auflösung den Grenzbegriff, diesen wichtigsten aller mathematischen Begriffe erfordern. Eine Geschichte der Differentialrechnung wird stets von Zeno und seinen berühmten Paradoxien auszugehen haben. Von Zeno aufgestellt, um einerseits die Einheit und Unveränderlichkeit des Seins und andrerseits die Unbeweglichkeit des Seienden zu beweisen, sind sie uns in der Fassung des Aristoteles, Physik 202a, 210b erhalten und die Beweise insbesondere durch den Kommentar des Simplicius zur Physik des Aristoteles.

A) Beweise gegen die Vielheit des Seienden.

1. Wenn das Seiende Vieles wäre, so müsste es zugleich unendlich klein und unendlich gross sein. Unendlich klein, denn jede Vielheit ist Summe von Einheiten, diese selbst aber unteilbar (Pythagoräer), also hat sie keine Grösse, ist nichts, also ihre Summe desgleichen. Andrerseits muss jede solche Vielheit, um zu sein, Grösse haben, ihre Teile voneinander entfernt sein, die Teile der Teile desgleichen und so fort, also müssen sie unendlich gross sein.

2. Zeigt Zeno, dass das Viele auch der Anzahl nach begrenzt und unbegrenzt zugleich sein müsste. Begrenzt, denn es ist so Vieles als es ist, nicht mehr und nicht weniger. Unbegrenzt, denn zwei Dinge sind nur dann zwei, wenn sie voneinander getrennt sind; damit sie getrennt sein, muss etwas zwischen ihnen sein usw.

Als konsequenter Denker und ausgezeichneter Dialektiker leugnet Zeno in Numero 3 den Raum.

3. Die Dinge scheinen sich im Raum zu befinden, aber das ist nicht wahr, es gibt gar keinen Raum. Denn jedes Ding ist in einem andern; ist nun der Raum wirklich, so ist auch er in einem andern Dinge, und muss doch wohl in einem andern Raume sein; von diesem gilt nun dasselbe wie vom ersten, es ist also kein letzter Raum denkbar, mithin auch kein erster und überhaupt keiner. (Dies ist wörtlich Kants Antinomie.)

4. Ein fallendes Korn macht kein Geräusch, aber der Scheffel, also auch das Korn, denn 0 + 0 wäre 0; also täuscht uns das Gesicht, wenn es uns eine Vielheit von Körnern vorspiegelt.

B) Beweise gegen die Bewegung.

1. Der sich bewegende Körper, der durch unzählig viele Punkte hindurchgehen müsste, was nicht möglich.

2. Der Achilleus; Achilleus, der 100mal schneller als die Schildkröte ist, kann diese, wenn sie einen Vorsprung von einem Stadion hat, nicht einholen, denn während er das Stadion zurücklegt, kommt die Schildkröte um 0,01 vorwärts, und so fort in inf.

3. Der fliegende Pfeil müsste in einem bestimmten Augenblick an einem bestimmten Orte sein und nicht sein.

Ein vierter Beweis bezieht sich auf die Relativität der Bewegung. (Einem ruhenden Körper gegenüber scheint die relative Bewegung zweier sich mit gleicher aber entgegengesetzter Geschwindigkeit bewegender Körper verdoppelt.) Sie sehen, wie bei Zeno der Begriff der unendlichen Reihe nach Gestaltung ringt; den infinitären Prozess hat er erfasst, aber noch nicht seinen Abschluss, den Grenzbegriff, auf dem die Konvergenz der Reihe beruht, und der zugleich das Differential liefert. Den hat erst ein grösserer als Zeno, den hat Demokrit erkannt. Aber Sie sehen auch, dass die ganze Lehre von der Bewegung, von der Veränderung überhaupt, von der Stetigkeit, von der Grenze ihre Quelle bei Zeno hat, der seinerseits in der Erfassung des Widerspruchs an die Pythagoräer anknüpft.

Die Bearbeitung der Paradoxien des Zeno hat sehr viel Gedankenarbeit hervorgerufen, ist doch nach Hegel die Auflösung des Widerspruchs die Hauptarbeit des menschlichen Geistes. Die Paradoxien des Zeno kehren in anderer Form immer wieder. Es genügt, an Berkeley zu erinnern und seine Kritik des infiniment petit. Aber sie haben noch heutigen Tages ihre Geltung für nicht hinlänglich philosophisch durchgebildete Mathematiker, erst vor wenigen Wochen las ich in einer mir zur Durchsicht gegebenen pädagogischen Arbeit so ziemlich dieselben Einwände.

Insbesondere haben sich, wie in der Natur der Sache liegt, die Scholastiker mit Zenon beschäftigt, und namentlich der grösste der Scholastiker und einer der grössten Denker überhaupt, Thomas von Aquino, hat die Paradoxien mit grossem Scharfsinn kritisiert. Die völlige Überwindung der Schwierigkeiten danken wir Galilei, Leibniz, Bolzano, an den Kerry in Versuch eines Systems der Grenzbegriffe anknüpft. Aber vor allen diesen, insbesondere auch vor G. Cantor, hat Aristoteles das schwierigste Paradoxon, B 1, aufgeklärt. Die einzelnen Punkte der Raum- und Zeitstrecke zwischen Anfang und Ende der Bewegung lassen sich gegenseitig eindeutig einander zuordnen, d. h. in der Sprache G. Cantors: die Raum- und Zeitstrecke sind von gleicher Mächtigkeit, und dieser so hochmoderne Begriff hat seine Quelle bei Aristoteles, der Zeno gradezu als den Erfinder der Dialektik bezeichnet.

Was den Achilleus betrifft, so bildet er heutzutage eins der typischen Beispiele der Grenze, indem die Differenzen zwischen den Reihenzahlen 1,01 und [11/9] eine Nullreihe bilden.

Mit den Paradoxien des Zeno haben sich auch Bayle, Descartes und Leibniz beschäftigt, von Neueren nenne ich Ch. L. Gerling (Marburg). Ed. Wellmann, Prgr. Frankf. a. O. 1870, P. Tannery, Rev. philos. B. X, 1885. Tannery behauptet, dass Zeno nur habe beweisen wollen, dass der Raum nicht aus Punkten, die Zeit nicht aus Augenblicken bestehe, aber ohne Beweise für seine Behauptung beizubringen. Diese Sätze selbst sind von Aristoteles Phys. VI, 1, 231 a 24 bewiesen. Ich erwähne noch J. H. Loewe, Böhm. Gesellsch. d. Wiss. VI. Folge 1. Bd. 1867, und Überweg, System d. Logik 5. Aufl. 1882 S. 245 ff.

Paradoxien des Zenon; Anaxagoras, Oinopides.

Das Mathematikerverzeichnis des Proklos erwähnt den Zeno nicht, es wertet die »Begriffsmathematiker« nicht, sondern grade so wie noch heute, zählt es nur die doch gegen jene sekundären »Problemmathematiker«, die geschickten Handwerker der Mathematik, zu den wirklichen Mathematikern. Zunächst wird Anaxagoras erwähnt, aber nicht als Philosoph, nicht wegen des monotheistischen Prinzipes, der Vernunft, des νους, der die Welt geordnet hat, sondern weil er sich im Gefängnis mit der Quadratur des Zirkels beschäftigt hat. Danach wird Oinopides genannt, der die Konstruktion des zu fällenden Lotes aus Ägypten importiert haben soll, und es fährt dann mit Hippokrates aus Chios fort, den man nicht mit Hippokrates aus Kos, dem Vater der Medizin, verwechseln darf. Proklos sagt: »Nach diesen wurden Hippokrates der Chier, der die Quadratur der Möndchen fand, und Theodoros aus Kyrene in der Mathematik berühmt.«

Hippokrates von Chios und seine Möndchen.

Hippokrates gehörte dem Pythagoräischen Kreise an, Aristoteles erwähnt seiner als eines Menschen, der im gewöhnlichen Leben unbeholfen und stumpfsinnig gewesen, »βλαξ και άφρων,« und doch ein tüchtiger Mathematiker. (Übrigens auch heute noch nichts Seltenes.) Nach Verlust seines Vermögens soll er in Athen von mathematischem Unterricht gelebt haben. Ob er wirklich Mitglied des Bundes war, ist nicht sicher, jedenfalls knüpft seine Beschäftigung mit der Quadratur und der Winkelteilung an den Gedankenkreis der Pythagoräer an. Seine Blütezeit fällt etwa um 430 v. Chr.

Lunulae Hippocratis.

Ihnen allen sind ja die Lunulae Hippocratis bekannt. Sie haben den Satz gelernt in der Form: die beiden Halbmonde, begrenzt von den Halbkreisen über den Katheten nach aussen und dem über der Hypotenuse nach innen sind gleich dem rechtwinkligen Dreieck. Und dieser Satz steht als Satz des Hippokrates selbst in der 6. Aufl. des einzigen in bezug auf historische Angaben zuverlässigen Elementarbuches, das ich kenne, »die Elemente der Mathematik« von R. Baltzer, ja selbst im Rouché von 1900.

Hippokrates hat nur einen Mond (Meniskos, lunula) quadriert und zwar zuerst den, dessen äusserer Bogen der Halbkreis, dessen innerer der Quadrant ist. Den allgemeinen Satz von den Lunulae gleich dem rechtwinkligen Dreieck fand ich weder bei Heron, noch Pappos, noch bei Cardano, Vieta, Clavius, Gregorius a. St. Vincentio, und Sturm, wohl aber in der Ausgabe des Taquet von Whiston und zwar schräg gedruckt, also nicht von Taquet herrührend, und noch früher in der 4. Ausgabe der Elemente der Geometrie von 1683 bei Pardies, Soc. Jesu. Der Satz ist aber zweifelsohne erheblich älter. — Die Arbeit des Hippokrates ist durch einen Glücksfall erhalten.

Simplicius aus Kilikien, der Neuplatoniker, der zu den von Justinian 529 vertriebenen Professoren der Hochschule Athen gehörte, hat einen umfangreichen Kommentar zur Physik des Aristoteles verfasst und uns darin ein Bruchstück aus des Eudemos Geschichte der Mathematik aufbewahrt. Es ist zuerst von Bretschneider griechisch und deutsch 1870 publiziert nach der lateinischen Ausgabe L. Spengel's: »Eudemi Rhodii Peripatetici Fragmenta quae supersunt.« Berlin 1865, 2. Aufl. 1870, während der Kommentar des Simplicius schon 1526 bei Aldus Manutius in Venedig gedruckt ist und 1882 in dem grossen Kommentar der Aristoteles-Ausgabe der Berliner Akademie von H. Diels.

Die wichtigste neuere Arbeit zur Simpliciusfrage ist die von Rudio 1902 in der Bibliotheca mathematica von Eneström: »Der Bericht des Simplicius über die Quadraturen des Antiphon und des Hippokrates.«

Aristoteles bekämpft in seiner Physik im 1. Buch an einer Stelle die eleatische Weltanschauung, die das Seiende als eins und unwandelbar auffasste, und erklärt dabei, dass man nicht alle falschen Sätze widerlegen müsse, sondern nur solche, die nicht schon von vornherein gegen die Prinzipien verstossen, und als Beispiel gibt er an: So ist zum Beispiel der Geometer verpflichtet, die Quadratur (sc. des Zirkels) mittelst der Segmente zu widerlegen, die des Antiphon aber nicht. Und hierzu gibt Simplicius einen Bericht über die genannten Quadraturen, der für uns vorn historischen Standpunkt aus gradezu unschätzbar ist.

Es ist Rudio gelungen, nach Vorarbeiten von P. Tannery, dem vor kurzem gestorbenen grossen Kenner hellenischer Mathematik und hellenischer Wissenschaft, und Allman, seinem englischen Nebenbuhler, den Text des Eudemos wohl so ziemlich endgültig festgestellt zu haben. Rudio hat durch eine einzige, ganz nahe liegende, schlagend einfache Konjunktur Licht und Klarheit in den ganzen Bericht und zugleich in den Gedankengang des Hippokrates gebracht und zugleich sein Urteil über Simplicius als eines durchaus tüchtigen Mathematikers, wie dies ja von Simplicius dem Philosophen schon feststand, begründet. Es handelt sich um das Wort τμήμα, das von τεμνω schneiden herkommt und allgemein irgend einen Abschnitt, im speziellen Kreissegment, bezeichnet, aber auch, wie Rudio bemerkt, den Sektor und an der entscheidenden Stelle kann es nur Sektor heissen; dann lautet die Stelle nach Rudio:

»Aber auch die Quadraturen der Möndchen, die als solche von nicht gewöhnlichen Figuren erschienen wegen der Verwandtschaft mit dem Kreise, wurden zuerst von Hippokrates beschrieben und schienen nach rechter Art auseinandergesetzt zu sein, deshalb wollen wir uns ausführlicher mit ihnen befassen und sie durchnehmen. Er bereitete sich nun eine Grundlage und stellte als ersten der hierzu dienenden Sätze den auf, dass die ähnlichen Segmente der Kreise dasselbe Verhältnis haben wie ihre Grundlinien in der Potenz (δύναμις), d. h. im Quadrat. Dies bewies er aber dadurch, dass er zeigte, dass die Durchmesser in der Potenz dasselbe Verhältnis haben wie die Kreise. Wie sich nämlich die Kreise verhalten, so verhalten sich auch die ähnlichen Sektoren (τμήματα). Ähnliche Sektoren nämlich sind die, die denselben Teil des Kreises ausmachen wie z. B. Halbkreis und Halbkreis und Drittelkreis und Drittelkreis; deswegen nehmen die ähnlichen Segmente auch gleiche Winkel auf. Und zwar sind die aller Halbkreise rechte und die der grösseren kleiner als rechte, und zwar um so viel, um wie viel die Segmente grösser als Halbkreise sind, und die der kleineren grösser und zwar um so viel, um wie viel die Segmente kleiner sind.«

Sie sehen, Hippokrates kannte die Sätze vom Peripheriewinkel ganz genau; er hat den wichtigen Satz Euklid, Elem. XII, 2; k : k´ = d2 : d´2 bewiesen, vermutlich wie Euklid, ihm war die Ähnlichkeitslehre völlig vertraut wie allerdings schon den Pythagoräern, er kannte, wie aus dem folgenden hervorgeht, auch den sogenannten erweiterten Pythagoras.

Was nun die Quadratur der Halbmonde betrifft, so kann es keinem Zweifel unterliegen, dass Hippokrates von folgender von Tannery, aber auch schon einige Jahrhunderte früher von Vieta, angegebenen Erwägung ausgegangen ist:

ε : i = p : q z. B. 5 : 3; ε5 = i3 und εp = iq

Dann sind die Segmente e1 und i1, welche von den kleinen Sehnen abgeschnitten werden, ähnlich und es ist e1 : i1 = re 2 : ri 2. Wenn nun re 2 : ri 2 gleich q : p gemacht wäre, so wäre e1 : i1 = q : p (hier 3 : 5) und damit pe1 = qi1, d. h. aber der Sehnenzug im äusseren Bogen schneidet so viel an Fläche ab, als der des inneren hinzubringt und das Möndchen ist gleich der von des beiden Sehnenzügen begrenzten geradlinigen Figur. Damit aber der Halbmond quadrierbar sei, ist nötig, dass die Figur mit Zirkel und Lineal konstruiert werden könne, und dies tritt ein für pq = 21; 31; 32; 51; 53.

Sie sehen aus der Gleichung Winkel εi = pq = ri 2/re 2 oder re 2 . ε = ri 2i, dass die Sektoren AEB und AJB flächengleich sein müssen, dazu ist AB = AB, also re sin ε/2 = ri sin i/2, also haben wir die entscheidende Gleichung: √p . sin i/2 = √q . sin ε/2.

Die elementare Behandlung findet sich bei Vieta (Variorum de rebus mathem. responsorum liber VIII 1593). Hippokrates hat die Fälle 2/1, 3/1, 3/2 erledigt; die Fälle 5/1 und 5/3 von Th. Clausen, Crelle 21 (1840). Sämtliche 5 quadrierbare Möndchen finden sich aber schon in der Dissertation von M. J. Wallenius (Abveae 1766). Vgl. den Artikel 6 bei M. Simon, Über die Entwicklung der El. Geom. im 19. Jh. p. 73 (1906). Der Fall 2/1 ist der bekannteste, er sichert Hippokrates das Verdienst, die erste krummlinige Figur quadriert zu haben. Den Fall 3/2 findet man ausführlich bei F. Enriques Questioni riguardanti la Geom. elem. (1900) p. 518, er bietet, trigonometrisch behandelt, keinerlei Schwierigkeit. Den Fall 4/1 behandelt Vieta. Er führt auf eine reine Gleichung 3. Grades und damit auf die Verdoppelung des Würfels, und dass Hippokrates diesen Weg gegangen, das geht klar daraus hervor, dass er nach dem Zeugnis des Proklos-Geminos und dem wichtigeren des Eratosthenes das Problem auf die Einschiebung zweier mittleren Proportionalen zwischen a und 2a zurückgeführt hat, a : x = x : y = y : 2a und so Proklos zufolge das erste Beispiel einer απαγωγή, einer Zurückführung eines Problems auf ein anderes, noch dazu in einem über das Elementare hinausgehenden Fall geliefert hat. Hippokrates ist auch der erste Grieche, der »Elemente« geschrieben hat, wie Proklos im Mathematikerverzeichnis angibt, und sie können nach dem Muster von Hippokrates Darstellung aus des Simplicius Kommentar in der Form nicht sehr wesentlich vom Euklid verschieden gewesen sein, wenn nicht Eudemos (oder Simplicius) redigiert haben. Hippokrates hat dann auch noch, wie wir bei Simplicius lesen, die Summe eines Mondes und eines Kreises quadriert, den Zirkel selbst natürlich nicht, obwohl er höchstwahrscheinlich bei der Suche nach dieser Quadratur auf seine Monde gekommen ist.

Antiphon.

Bryson.

Der gleichzeitig erwähnte Antiphon, ein Sophist, Zeitgenosse des Sokrates, glaubte die Quadratur des Zirkels dadurch gefunden zu haben, dass er in den Kreis ein reguläres Polygon, z. B. ein Quadrat einschrieb, dann über die Seiten gleichschenklige Dreiecke u. s. f., und annahm, dass eines dieser Polygone dem Kreise gleich sein müsste. Wenn nun auch Aristoteles die Annahme des Antiphon als gegen die Prinzipien der Logik verstossend scharf getadelt hat, so hat doch Hankel vollständig recht, wenn er sagt: er verdient einen ehrenvollen Platz in der Geschichte der Geometrie, denn er hat, als der erste, den völlig richtigen Weg betreten, um den Flächeninhalt eines krummlinigen Raumes zu ermitteln, indem er ihn durch Vielecke von immer wachsender Seitenzahl zu erschöpfen (exhaurire) suchte. Der gleichzeitig mit ihm genannte Bryson hat dann das umgeschriebene Polygon hinzugefügt; lächeln wir auch heute über seinen Schluss, »weil der Kreis zwischen dem ein- und umgeschriebenen Quadrate 2r2 und 4r2 so schön in der Mitte liege, wie 3 zwischen 2 und 4, so müsste der Kreis gleich 3r2 sein,« so haben doch Antiphon und Bryson den Weg gewiesen, auf dem dann Archimedes gegangen und der das Riesenproblem beherrscht hat, bis er schliesslich Vieta zu dem unendlichen Produkt für π/2 führte.

Auf Hippokrates und seine Elemente folgt bei Proklos unmittelbar Platon, aber eine Geschichte der Mathematik, welche zugleich auf die Begriffsbildung Wert legt, darf an den beiden ihm an Tiefe ebenbürtigen Vorgängern Heraklit und Demokrit nicht vorübergehen.

Heraklit.

Heraklit, Ηράκλειτος, aus Ephesos in Kleinasien, aus der angesehenen Familie des Gründers von Ephesos, des Kodriden Androklos, war ein Zeitgenosse des Xenophanes, er hat seine Blütezeit um 500. Wir haben als Hauptquellen für seine Lehre die Fragmente seiner einzigen Schrift περι φύσεως (Von der Natur, ed. von H. Diels 1901) und Platons Dialog Kratylos, ferner Aristoteles und seine Kommentatoren. Daneben kommen Plutarch und Diogenes Laertios in Betracht. Eine für ihre Zeit ausgezeichnete Darstellung gab der bekannte Ferdinand Lassalle in seiner Schrift »Die Philosophie Herakleitos des Dunkeln,« Bd. 2, Berlin 1858, aus neuester Zeit nenne ich W. Kinkel, l. c. 1906. H. Diels, Her. von Eph., Berl. 1901, P. Natorp, Neue Heraklitforschung, Ph. Monatsh. 24. Heraklit, der Dunkle, ὁ σκοτεινός, war kein Systematiker, aber vor seinen tiefsinnigen, orakelhaften Weisheitssprüchen stand das ganze Altertum voll staunender Ehrfurcht. Er erinnert an Nietzsche, der formaliter und materialiter sehr viel von Heraklit entlehnt hat. Am bekanntesten ist das πάντα ῥεῖ, alles fliesst; πάντα χωρεῖ καὶ οὐδὲν μένει, alles weicht und nichts bleibt; — πόλεμος πατήρ πάντων, der Streit ist der Vater der Dinge. In der Kosmologie knüpft Heraklit zunächst an seine Ionischen Landsleute, an Anaximander und besonders an dessen schwächeren Nachfolger Anaximenes an, der die Luft als Grundstoff (ὑλη) ansah. Heraklit nimmt das Feuer als Substanz aller Dinge an, aber ein ideales Feuer, das zugleich die Weltvernunft, der Logos, die Weltseele ist. Im bewussten Gegensatz zu den Eleaten, insbesondere zu Xenophanes, denn Parmenides ist jünger, leugnet er alles Sein, und erfasst die Welt als in beständiger Veränderung, in ewigem Wechsel befindlich. »Wir steigen nicht zweimal in denselben Strom.« Ein Schein des Beharrens wird nur dadurch erzeugt, dass Abfluss und Zufluss des Feuers annähernd gleich ist. Er ist in noch höherem Masse und mit voller Klarheit Pantheist als Xenophanes. Das Urfeuer oder die Gottheit, ist, in beständiger Umwandlung begriffen, in allem, soweit es überhaupt ist. »Dieses Weltganze (Kosmos) hat keiner von allen Göttern und keiner von allen Menschen geschaffen, sondern es war, ist und wird sein ein ewig lebendiges Feuer, das sich entzündet und verlöscht nach bestimmter Ordnung.« Man sieht, es ist die Kategorie Bewegung, die er, etwa wie seinerzeit Ad. Trendelenburg, als das Bleibende im Wechsel setzt, während die Eleaten grade die Bewegung leugneten. Und indem ihm der Widerspruch im Begriff des Werdens, das zugleich ein Sein und Nicht-sein ist, nicht entging, fasste er eben diesen Widerspruch als »Vater der Dinge«. Hegel hat in seiner Logik an Heraklit angeknüpft, der Widerspruch, überall vorhanden und doch für uns undenkbar, erfordert seine Auflösung und Versöhnung als unsere geistige Arbeit. Die späteren Stoiker schliessen sich direkt an Heraklit an wie auch Philon von Alexandria in seiner Logos-Lehre. Für uns kommt vom Standpunkt der exakten Wissenschaft besonders in Betracht, dass sich bei ihm der erste Gedanke eines physikalischen Kreisprozesses findet. »In dieselben Ströme und aus denselben steigen wir.«

Rein mathematisch ist von Bedeutung die grosse Betonung der Veränderlichkeit aller Werte und Grössen; auffallend ist es, dass er, der kein Entstehen und Vergehen der Materie, sondern eine beständige Bewegung gelehrt hat, das Zeitproblem, wie es scheint, nie gestreift hat.

Die Dunkelheit des Heraklit erklärt sich zum Teil daraus, dass er für seine tiefe Lehre vom Logos keine termini technici vorfand, welche begriffliches Denken mitteilsam machen, immerhin ist er der erste Philosoph, welcher das Problem der Erkenntnis als solches empfunden hat, »εδιζησαμην εμαυτον« (ich suchte mir mich selbst zu verschaffen).

Empedokles, Sophisten.

Ich übergehe Empedokles aus Agrigent, so wichtig er auch für die Physiker und Chemiker ist, denn er hat zuerst die 4 Elemente, Feuer, Wasser, Luft und Erde, als qualitativ und quantitativ unveränderliche Urstoffe aufgestellt, um mich zu den sogen. Atomikern zu wenden zum Leukipp und seinem grossen Schüler Demokrit. Vorher aber noch ein paar Worte über die so übel berüchtigten »Sophisten«, deren Bekämpfung das Leben des Sokrates galt, und zugleich der Tod. Denn dadurch, dass er jene mit ihrer eignen Waffe, der Dialektik, bekämpfte, hielt ihn das Volk für den Hauptsophisten, und er fiel dem Aufbäumen des Volksgeistes gegen die unsittliche Lehre der Sophisten zum Opfer.

Das geistige Haupt der Sophisten ist Protagoras aus Abdera, von 480–410; von Zeno, Heraklit und Leukipp beeinflusst, war er an sich von durchaus ernster, wissenschaftlich nicht unbedeutender Beschaffenheit, so schildert ihn auch der gleichnamige Dialog des Platon, ein Kunstwerk ersten Ranges.

Indem Protagoras ganz wie Kant empfand, dass wir das Ding an sich nicht erkennen, sondern nur unsere Wahrnehmung, kam er zu dem Faustischen: »Seh ein, dass wir nichts wissen können,« wenigstens nichts von allgemeiner, sondern nur etwas von subjektiver Wahrheit. Und indem er ausspricht, dass unsere Wahrnehmung, für uns wahr ist, formulierte er den Satz: »Der Mensch ist das Mass der Dinge.« Von diesem Standpunkt aus kamen seine Nachfolger Gorgias, Hippias etc. zu einer Verwerfung aller sittlichen Normen und von allen Wissenschaften blieb nur die Dialektik übrig oder die Rhetorik, die Kunst, den eignen Willen, das eigene Mass, den anderen aufzuzwingen. Zeitlich traf ihre Blüte mit dem grossen Aufschwung des öffentlichen Lebens in Hellas nach den Perserkriegen zusammen, wodurch eine zweckmässige Vorbildung der Staatsmänner nötig wurde. Die Sophisten fanden daher als Lehrer der Redekunst gewinnreiche Tätigkeit, Protagoras selbst war ein sehr geschätzter Wanderlehrer. So haben die Sophisten, die prinzipiellen Gegner des Wissens, dennoch die Wissenschaft der Satzbildung, der Grammatik, des Wohlklangs gradezu geschaffen, und was sie für uns Mathematiker wichtig macht, sie haben die Lehre vom Beweis mächtig gefördert.

Ich komme zu den Atomikern. Vom Leukipp wissen wir so wenig, dass Epikur meinen konnte, er habe gar nicht existiert. Das Zeugnis des Aristoteles ist aber unanfechtbar. Leukipp ist wohl der Urheber des Grundgedankens, aber in der überragenden Persönlichkeit seines Schülers Demokrit ist er verschwunden. Zeller fasst beide zusammen als Atomiker.

Demokrit.

Demokrit ist in Abdera etwa um 470 geboren, und ist zwischen 90 und 100 Jahre alt geworden. An umfassender Bildung nur dem Aristoteles vergleichbar, hat er das Wissen, das er auf vielen Reisen, insbesondere nach Ägypten und Babylonien, erworben, in einer Reihe von Schriften niedergelegt, von denen leider zurzeit nur wenige Bruchstücke, meist ethischen Inhalts, erhalten sind. Glücklicherweise hat sich Aristoteles sehr viel mit Demokrit beschäftigt, während Platon in auffallender Weise über ihn schweigt. Platon neigt überhaupt nicht zu literarischen Angaben in seinen Dialogen, und wird wohl in seinen Vorlesungen sich genügend mit Demokrit beschäftigt haben, auch konnte er die Lehre des Demokrit zu seiner Zeit als bekannt voraussetzen. Jedenfalls ist beim Charakter Platons irgendwelche böswillige Absichtlichkeit zurückzuweisen. Soviel steht fest, je tiefer die Quellenforschung ging, um so höher ist die Gestalt des Demokrit emporgewachsen, den wir jetzt neben Platon und Aristoteles als den dritten grossen Hellenischen Philosophen werten. Trotz des geringen Umfangs der erhaltenen Fragmente können wir uns von der Fülle und Kühnheit seiner Gedanken ein ziemlich deutliches Bild machen.

Mit den Eleaten hat er die Ewigkeit und Unveränderlichkeit des Seienden gemeinsam, die Überzeugung von der Unzerstörbarkeit der Materie. Aber Heraklit missverstehend, fassten jene sein »Werden« als ein Vergehen und Entstehen der Materie und nicht als einen Wechsel der Form im Kreisprozess, und da sie den Unterschied zwischen »Werden« und »Veränderung« verfehlten, leugneten sie schlankweg die Bewegung und damit die ganze erkenntnistheoretische Physik der Erscheinung, welche ja in der reinen Bewegungslehre besteht. Hier setzen Leukipp und Demokrit ein, sie müssen den Begriff der Materie umarbeiten, um die Bewegung begreiflich zu machen. Das Seiende ist ihnen nicht, wie dem Parmenides, die kugelförmig gedachte, lückenlose Masse alles reell Existierenden, sondern es sind die unteilbaren, αδιαιρητα, Atome, ὁι ατομοι, die er hochmodern als der ουσια, dem Wesen nach, ganz gleich denkt, nur mathematisch, d. h. in bezug auf Figur, Grösse und Zahl verschieden. Leukipp und Demokrit haben den Begriff des Atoms geschaffen, diesen Hilfsbegriff, den Physik und Chemie bis auf den heutigen Tag und in alle Zukunft nicht entbehren können; ein sehr bekannter Chemiker sagte mir: »Was Demokrit über die Atome gesagt, bildet die beste Einleitung zu einem modernen Lehrbuch der Chemie.«

Und von Heraklit entnahm er den Gedanken der beständigen Bewegung und Veränderung in der Zusammensetzung der Atome zu Molekülen. Die Atome bewegen sich ewig und anfangslos, weil das in ihrem Wesen liegt, nach einem Grund dieser Bewegung zu fragen, erklärt er für töricht, wie etwa die Frage, warum ein Löwe Fleisch frisst. Dass aber die Atome sich bewegen können, das liegt daran, dass sie voneinander durch den leeren Raum getrennt werden, und auch dieser für die Mathematik so entscheidend wichtige Grenzbegriff des leeren Raumes und der Porosität hat bei Demokrit seine Formulierung gefunden, denn »das Leere« (το κενόν) der Pythagoräer ist wohl nur ein Synonym für Raum überhaupt, obwohl selbstverständlich Keime für Demokritische Gedanken bei den Pythagoräern liegen.

Dieser leere Raum, von dem er mit ironischer Anpassung an des Parmenides »ἔστι γὰρ εἶναι, μηδὲν δ΄ οὐκ ἔστι« (Es gibt ein Sein, ein Nichtsein gibt es nicht) sagt, dass er das Nichts ist, ermöglicht alles wirkliche Sein der Aussenwelt. Aristoteles, Metaph. I, 4, 985b: Λευκιππος δε και ὁ ἑταιρος αυτου Δημοκριτος στοιχεια μεν το πληρες και το κενον ειναι φασι, λεγοντες τι μεν ον το δε μη ον, το 'των δε τι μεν πληδες και στερεον το ον, το δε κενον γε και μανον το μη ον, αιτια δε των οντων ταιτα ως ὑλην. Leukipp und Demokrit, sein Genosse, erklären das Volle und das Leere als die Elemente und nennen jenes das Seiende, dieses das Nichtseiende, und diese beiden sind die Ursache, der Stoff, alles Wahrnehmbaren. Ja mit bewundernswerter Kühnheit der Spekulation sagt Demokrit: »το δεν ον μαλλον εστι η το μηδέν.« Das Nichts ist ebenso existenzberechtigt als das »Ichts«.

Wie das Atom nichts anderes ist als das Differential, der Ursprung der Masse, so ist dieses »μηδέν« nichts anderes, als das Differential, der Ursprung des Raumes. Dass dies keine leere Vermutung ist, dass Demokrit als der erste erreichbare Urheber der Differentialrechnung anzusehen ist, dafür haben wir jetzt einen Beweis in dem 1907 von Heiberg aus dem Palimpsest entzifferten »εφόδιον« (so viel wie Methode) des Archimedes, welche H. Zeuthen übersetzt hat. Die Formel für das Volumen der Pyramide und des Kegels, die nach der Angabe des Archimedes von Eudoxos streng d. h. euklidisch bewiesen, die habe, steht im Ephodion, Demokrit gefunden aber nicht bewiesen d. h. nicht streng, grade so wie Archimedes seine mit Differentialrechnung gefundenen Formeln nur für wahrscheinlich aber nicht für streng bewiesen erachtet. Das Verfahren des Demokrit kann kein anderes gewesen sein als das des Cavalieri, das Volumen ist das Integral, die Summe der unzählig vielen unendlich kleinen Prismen, deren Grundflächen die veränderlichen Querschnitte sind. Man vergleiche dazu die Angabe Plutarchs, Diels Fragmente 155 (auch Anmerkung S. 723): »Es machte ihm nämlich die Frage Schwierigkeiten, ob, wenn man einen Kegel parallel der Basis durchschnitte, die so entstehenden Schnittflächen einander gleich seien oder nicht. Schon Aristoteles hat darauf hingewiesen, wie stark mathematisch durchtränkt die Lehre des Demokrit gewesen, der sich, Plutarch zufolge, rühmte, selbst die Ägyptischen Harpedonapten in der Reisskunst zu übertreffen. Bisher schwebte diese Angabe in der Luft, jetzt ist sie durch den Palimpsest bestätigt worden. Ich mache auch auf den uns erhaltenen Titel der Schrift: περι διαφορης γνωμης η περι ψαυσεως κυκλου και σφαιρας und auf seinen Einfluss auf Archimedes und dadurch auf Galilei aufmerksam. Dass sich Demokrit eingehend mit dem Problem der Kontinuität beschäftigt hat geht aus dem erhaltenen Titel der verlorenen Schrift: περι αλογων γραμμων και ναστων (über irrationale Strecken und das Kontinuum) hervor.

Demokrit ist von Grund aus Naturforscher im Gegensatz zu Platon, dem Dichter und Metaphysiker, er hat zum ersten Male versucht ernsthaft eine mechanische Welttheorie durchzuführen. Seine Wirbelbewegung treffen wir bei Descartes wieder, wie auch seine Unterscheidung der primären Qualitäten (Schwere, Härte, mathematische Gestalt etc.), der Eigenschaften der Atome, von den sekundären, wie Farbe, Geschmack etc. Die Zahl und die Figur der Atome ist es, welche die wesentliche Verschiedenheit der Dinge bewirkt, mit der Trias, Atom, leerer Raum, Bewegung haben Leukipp und Demokrit die mathematische Naturerkenntnis geschaffen. Das Atom sowohl wie der leere Raum sind Ideen, das Wort rührt von Demokrit her, und an Demokrit knüpft die Platonische Ideenlehre an. H. Cohen zählt in seinem vorzüglichen Marburger Programm Demokrit mit vollem Recht zu den Idealisten und zum recht eigentlichen Vorgänger von Platon. Wie dieser bezeichnet er die Sinneswahrnehmung als dunkele, die logische als klare Erkenntnis; W. Kinkel sagt, es ist schwer begreiflich wie man ihn hat zum Materialisten stempeln können. Ich möchte aber bemerken, dass der Idealismus sowohl des Demokrit als der übrigen idealistischen Philosophen im Grunde eine Doppelnatur besitzt, eine skeptische, insofern er die Realität der Sinneswahrnehmung leugnet, und eine supranaturalistische, insofern er die Realität des Geistigen lehrt. Daher ist es ganz begreiflich, dass von Demokrit eine Schule der Materialisten ausgehen konnte, wie von Platon Skeptizismus und insbesondere Mystizismus (Plotin, Augustin). Jedenfalls ist die »tyche« D.'s nicht der blinde Zufall, sondern das Schicksal als eine durchaus vernünftige Gesetzmässigkeit des in Erscheinung tretenden (der Phänomena). Nicht bloss auf metaphysischem Gebiet ist Demokrit ein Vorläufer des Platon, sondern auch auf ethischem Gebiet, in der Auffassung des Menschen als μικρόκοσμος — das Wort ist demokritisch — in der Wertung der Erziehung berührt er sich mit Platon. Ich nenne hier ausser Zeller und Kinkel noch P. Natorp, Forsch. z. Gesch. des Erkenntnisproblems im Altertum; G. Hart, Zur Seelen- und Erkenntnislehre des Dem., Progr. Mühlhausen (im Elsass) 1886; P. Natorp, Die Ethik des Dem., Marburg 1893.

Platon.

Platon, der Göttliche, wie ihn Schopenhauer bezeichnet, ist im Todesjahre des Perikles 429 aus vornehmster Familie geboren, mit ihm erreicht die Hellenische Philosophie ihren Höhepunkt. Wie in einem Brennpunkt fasst er alle bedeutenden Gedanken seiner Vorgänger, der Pythagoräer, der Eleaten, des Heraklit und vor allem des Demokrit zusammen, um sie als Bausteine seiner Theorie des Erkennens zu verwenden. Es ist das Kennzeichen der Allergrössten, dass sie über den Parteien stehen, oder richtiger, wie Lange in der Geschichte des Materialismus sagt, dass sie die Gegensätze ihrer Epoche in sich zur Versöhnung bringen. Er ist mit Kant der grösste Idealist aller Zeiten, und keiner hat auf Kant solchen Einfluss geübt, nicht einmal Hume, wie Platon.

Ich verstehe aber unter Idealismus in der Philosophie diejenige Weltanschauung, welche die Welt der Dinge nur insofern als seiend auffasst, als sie Gegenstand oder Objekt der Erkenntnis eines erkennenden Subjektes ist. Sagt doch Platon oft gradezu (z. B. Rep. 529, Phaed. 833, Tim. 513) das Seiende ist das Unsichtbare, das von uns nicht Wahrnehmbare, sondern nur Gedachte, das was das Bewusstsein selbst bei sich selbst sieht. Unter Realität der Erscheinung versteht man im idealistischen Sinne diejenige Eigenschaft derselben, vermöge derer sie zu in Zeit und Raum geordneten Gegenständen der Erfahrung werden. Es ist Platons ewiges Verdienst, dass er das Problem des Erkennens als das eigentliche Grundproblem der Philosophie in diese Wissenschaft eingeführt hat, die er mit der Frage τι εστι επιστήμη, was ist Wissen, eigentlich erst als Wissenschaft geschaffen hat.

Kant trifft auch darin mit Platon zusammen, dass beide für ihre Erkenntnistheorie von der Frage nach dem Erkenntniswert der Mathematik ausgingen. Ich nehme hier Gelegenheit den Dank auszusprechen, den ich für das Verständnis des Philosophen Platon der trefflichen Jugendschrift H. Cohens, Plato und die Mathematik, Marburg 1878 schulde. Platon den Dichter und Gottsucher schildert eine Broschüre Windelbands in hervorragender Weise.

Viel schuldete er seinem Lehrer Sokrates, sowohl in bezug auf das Interesse an der Ethik, an den sittlichen Gesetzen und Idealen der Menschheit, als besonders hinsichtlich des Bestrebens die einzelnen Begriffe scharf zu definieren. Nach dem Tode des Sokrates floh er aus Athen, und brachte etwa 10 Jahre auf Reisen zu, überall den Verkehr mit den geistigen Grössen suchend. In Cyrene hat er beim Pythagoräer Theodoros, dessen wir schon bei Gelegenheit des Theätet gedacht haben, sich das mathematische Wissen der Pythagoräer angeeignet, in Unteritalien den grossen Archytas von Tarent kennen gelernt, und in Sizilien ebenfalls viel mit Pythagoräern verkehrt; dass er von Sizilien aus Ägypten besucht hat, ist sehr wahrscheinlich.

Nach Athen zurückgekehrt, gründete er dort den Freund- und Schülerbund der Akademie, ein Gymnasium bei Athen, nach dem attischen Heros Ακάδημος benannt, wo Platon ein Landgut besass. Ein glücklicher Zufall hat uns das Testament des Platon erhalten, es findet sich bei Diogenes Laertios und ist von U. v. Wilamowitz und Kiessling Phil. Unters. IV. ediert.

Schon 2000 Jahre vor den Amerikanischen Multimillionären hat hier ein Privatmann aus seinen Mitteln eine Universität gegründet, die Universität Athen, die bedeutendste des Altertums, an der Euklid und Cicero studierten, welche etwa 900 Jahre blühte, bis sie Justinian 529 n. Chr. aufhob, teils um sich ihren Besitz anzueignen, teils weil die Professoren auf Seiten der Gemahlin des Kaisers, der Theodora, standen, und das Heidentum oder richtiger den Neuplatonischen Mystizismus unterstützten, während der Kaiser das Christentum oder das Gottesgnadentum des Monarchen als Staatsreligion durchführen wollte.

Eine zweite Reise nach Sizilien 367 ist wohl von Dion, dem Freunde des Platon und Schwager des Dionys I., der s. Z. Platon seiner Freimütigkeit wegen als Sklaven verkaufen liess, veranlasst. Platon sollte den jungen Dionysios II. nach den in der »Republik« niedergelegten ethischen und politischen Prinzipien erziehen.

Aber wie fast alle Theoretiker der Pädagogik war er kein glücklicher Praktiker. Noch einmal 361 unterbrach eine zugunsten des Dion unternommene Reise seine im höchsten Grade erfolgreiche akademische Lehrtätigkeit, die bis zu seinem 347 im 80. Jahre eingetretenen Tode angehalten haben soll.

Was nun Platon als Mathematiker von Fach betrifft, so ist die Legende von Platons Leistungen in der speziellen Problemmathematik schon von C. Blass in seiner Dissertation »de Platone mathematico«, Bonn 1861, zerstört worden; als reinen Mathematiker haben ihn seine Zeitgenossen Archytas, Theätet und besonders der grosse Eudoxos von Knidos sicher weit übertroffen, er ist von der Philosophie zur Mathematik gekommen und nicht umgekehrt. Platon hat nicht die Philosophie der Mathematik geschaffen, wie M. Cantor sagt, — das würde weit eher auf Demokrit und Eudoxos passen —, aber was eben so wertvoll ist, er hat die Bedeutung der Mathematik für die Philosophie erfasst, und es bedarf nicht des seit Melanchthon immer wieder zitierten μηδεις αγεωμετρητος εισιτω μου την στεγην, »Kein der Mathematik Unkundiger betrete meine Schwelle«, aus der zweifelhaften Quelle des Tzetzes, um uns darüber zu belehren. Platon erkannte, dass die Mathematik für die Philosophie dieselbe Bedeutung als Hilfswissenschaft hat, welche der Physik für die Mathematik zukommt. Einerseits liefert sie für die Logik die einfachsten und schlagendsten Beispiele, wie uns denn Aristoteles den Beweis der Pythagoräer für die Irrationalität der Wurzel aus 2 als Beispiel eines indirekten Beweises erhalten hat, andrerseits liefert sie für die Erkenntnistheorie die Probleme, an deren Lösung sich die Philosophie entwickelt hat. Und Platon gab mit der Betonung dieser Bedeutung der Mathematik den mächtigen Impuls, der die Blütezeit der Hellenischen Mathematik im 3. Jahrhundert herbeiführte. Ganz besonders sind die erkenntnistheoretischen Probleme, welche die inkommensurabeln Streckenbrüche geben, von Platon und seinen Schülern und Mitarbeitern, von Theätet und insbesondere von Eudoxos bearbeitet worden.

Platon und die Mathematik.

Und noch in einer zweiten Richtung sind wir Platon den grössten Dank schuldig; ohne ihn und die scharfen Worte, mit denen er den gewaltigen Wert der Mathematik für die Bildung der Jugend dargelegt hat, würde wahrscheinlich die Mathematik ihre Stellung als Hauptfach in unseren Gymnasien weder erhalten noch behauptet haben. In seiner Schrift vom Staate, der »πολιτεια«, der bedeutsamsten Utopie, die je geschrieben, in der er als der Erste den grossen Plan einer idealen staatlichen Erziehung der Jugend ins Einzelne durchgeführt, entwirft, sogar bis auf die Schulzimmer, vergleicht er die Bedeutung, welche die Mathematik in seiner Zeit hat, mit der, welche sie haben sollte. Er geht in seiner Wertung der Mathematik als Bildungsmittel von dem Fundamentalsatz aus: die Wahrnehmungen zerfallen in zwei Klassen, die einen finden eine Ergänzung durch das reine Denken, die andern nicht. Politeia 523 heisst es: »Ich zeige dir also, wenn du es (ein)siehst, einiges was gar nicht die Vernunft herbeiruft, es wird schon durch die Wahrnehmung hinlänglich beurteilt, andres hingegen, was auf alle Weise die Wahrnehmung zu untersuchen auffordert. (Ähnlich Timäos § 46.) Und diese Untersuchung der Wahrnehmung, welche sie umprägt in Erfahrung im Kantischen Sinne, bewirkt in erster Linie die Mathematik. Sie ist ihm der »Paraklet«, der Wecker der reinen, vernünftigen, der wahren Erkenntnis.

Zunächst die Arithmetik, d. h. nicht die praktische Rechenkunst, die Logistik, sondern die wissenschaftliche Zahlenlehre, deren Hauptteil die Lehre von der relativen Zahl, von den Verhältnissen, bildet, die »θεά«, die innere Schau, der Zahlenverhältnisse. Und dasjenige in der Wahrnehmung, was solche Verhältnisse liefert, das ist dadurch, das es uns veranlasst, über die Gründe dieser Verhältnisse nachzudenken, der Herbeirufer, der Paraklet, der reinen Vernunft. Die Betonung der dritten Quelle, aus der unser Zahlbegriff fliesst, der Kategorie oder Konstituente des Bewusstseins Relation, bildet ein grosses Verdienst Platons um die Begriffsbildung in der Mathematik. Aus zahlreichen Stellen (man vgl. auch Theon Smyrneus trad. du Grec en Français p. J. Dupuis 1892) geht hervor, dass ihm die Zahl vorzugsweise relative Zahl oder Masszahl ist, auf der alle Erweiterungen des Zahlbegriffs beruhen, da die Cardinalzahl, die Vieleinheit, und die Ordinalzahl, die Reihungszahl, eine Begriffserweiterung nicht zulassen.

Die gleiche Bedeutung wie der Arithmetik erkennt er der Geometrie zu. Er weiss sehr wohl, dass ihr Ursprung, der Veranlassung nach, die Wahrnehmung, d. h. der sinnliche Eindruck ist, und spricht dies nicht nur in der Republik, sondern auch im Timäos ganz unumwunden aus. Aber, sagt er, der Begriff des Gleichen, die Idee Gleichheit, steckt nicht in der Wahrnehmung gleicher Steine, obwohl wir ihn ohne diese Wahrnehmung nicht hätten. [Die gleichen Steine dienten als Rechenpfennige, daher ψηφιζειν lat. calculare für »rechnen«.] Und er warnt nachdrücklich davor, die Wertung der Geometrie von ihrem Nutzen für die Praxis abhängig zu machen, sondern sie lehrt und erleichtert uns die Erkenntnis »του οντως οντος« des Wahrhaft-Seienden, der Idee, ja sie bewirkt, dass die höchste Idee, die Idee des Guten leichter geschaut werde.

Platonische Ideen.

Da es Platon ist, der zuerst die Bedeutung der Idealisierung für die reine Geometrie erkannt hat, wird es nötig auf die so viel umstrittene Platonische Ideenlehre näher einzugehen. Sie ist der Grundstein seiner Philosophie, und zugleich von Anfang an grade durch seinen bedeutendsten Schüler, durch Aristoteles missverstanden, verspottet und entwertet worden. Nur aus dem Verständnis der Platonischen Idee lässt sich einsehen wie viel Kant für seine transzendentale Ästhetik des Raumes aus Platon entnommen hat. Über die Beziehung zwischen Kant und Platon verweise ich auf einen kleinen Aufsatz in den Philos. Arbeiten, her. von H. Cohen und P. Natorp Bd. 2 Heft 1 1908 »Über Mathematik«.

Vom Sokrates nahm er die Betrachtung, dass dem allgemeinen (Gattungs) Begriff jeder einzelne Gegenstand, von dem er abstrahiert wird, zukommt. Von den Pythagoräern das Interesse für die geistigen Prozesse der Mathematik, von den Eleaten den Grundgedanken, dass nur dem durch die Vernunft erkannten bleibendes Sein zukommt, von den Atomikern die Erkenntnis, dass die Zahl- und Raumbegriffe, grade weil sie vom sinnlichen Standpunkt aus Nichts sind, das wirkliche Sein repräsentieren und schmolz alles zusammen in seiner Idee. Durch eine wahrhaft göttliche Eigenschaft der Vernunft wird dieselbe, und zwar am leichtesten durch Vermittlung der Mathematik, angeregt, in den einzelnen Erfahrungen, die das Daseiende (τὰ όντα) liefert, das dauernd Seiende (το οντως ον), die Urbilder, die Ideen zu erschauen, Hypothesen oder Grundlegungen der reinen Vernunft. Von ihnen als dem ewig Seienden, obwohl in keiner einzelnen Erscheinung verkörpert, empfängt das Daseiende sein Sein, seine Essenz, seine Substanz.

Sind die Ideen wie die des Gleichen, des Schönen, des Wahren, und die höchste Idee, welche alle andern trägt, die des Guten erschaut, denn Idee, ἰδέα, kommt von ιδείν (schauen), so werden ihnen die Erscheinungen untergeordnet, und nun wird im einzelnen die Idee geschaut, im breiten Strich die Gerade, im Ball die Kugel etc. Beim reifen Menschen geht die Idee der sinnlichen Erscheinung voraus. »Ehe wir also anhuben zu sehen und zu hören und die Aussenwelt wahrzunehmen, mussten wir in uns, irgend woher genommen, die Erkenntnis des Gleichen angetroffen haben, das, worauf wir die aus den Wahrnehmungen stammenden Gleichheiten beziehen können« (Phaedon p. 758, Theätet p. 186 c). Die Platonische Idee nähert sich, wie aus dieser Darstellung hervorgeht, der (idealistisch aufgefassten) Kategorie der Substanz einerseits, und berührt sich andererseits mit dem Begriff der Kraft, denn z. B. die Idee des Guten ist die Ursache aller Vollkommenheit, sie ist gradezu die göttliche schöpferische Vernunft. Die Idee, wie z. B. Sophist 248 A beweist, hat Bewegung, Leben, Seele, wie die Leibnizsche Monade, sie wird öfters gradezu ἑνας oder μόνας, Einheit genannt.

Die Stellung, welche Platon der Mathematik anweist, erinnert unwillkürlich an Kant, auch bei Platon hat die Mathematik eine Zwischenstellung zwischen Sinnlichkeit und Logik, auch bei ihm ist sie »reine Sinnlichkeit a priori«, die in das Objekt der sinnlichen Wahrnehmung, Zahl und Gestalt hineinsieht und als Ewig-Seiendes, die »im barbarischen Schlamme der Sinnlichkeit« steckende Seele hinleitet, im Abbilde das Urbild das wahrhaft Seiende zu sehen. In der Republ. 529 D, 520 C, im Timäos 28 heisst es: Das, was ihr Wirklichkeit nennt, die bunten Gestalten am Himmel und auf Erden, sind nur die Abbilder von den Urbildern in der Erkenntnis und dem Bewusstsein. In seiner Lehrtätigkeit, welche der Hauptfaktor seines Einflusses auf seine Zeitgenossen war, unterschied er Empfindung; Anschauung; Hinzuziehung von Mass und Zahl — διάνοια; und Hinzuziehung der Idee, die transzendentale Erkenntnis, die νόησις.

Raum bei Platon.

Platon hat das Kategorische des Raumbegriffes oder besser die Idealität des Raumes, die ja schon die »richi« der Inder empfunden haben, scharf hervorgehoben, während er Zeit und Bewegung nicht hinlänglich geschieden hat. Die bekannteste Stelle findet sich 50–52 des Timäos, des schwierigsten Dialogs, welcher beweist, wie völlig Platon im Alter unter den Bann pythagoräischer Gedankenkreise geraten war (vgl. den zitierten Aufsatz von 1908). Es heisst da: Der Raum ist die aufnehmende Mutter, die Idee, das reine Erzeugnis der Vernunft, der Vater der Gegenstände der Wahrnehmung der Natur (50 D). Er bildet die 3. Art der Erkenntnis, der ewige unvergängliche Raum (52 B), der uns durch nichtsinnliche Wahrnehmung (μεθ' αναισθησιας) durch eine Art von unechter Vernunfttätigkeit mühsam klar wird, den wir mit offenen Augen träumen. Das ist nichts anderes als der ideale Raum Kants, die reine Form des äusseren Seins für das erkennende Bewusstsein als solches, losgelöst von aller Individualität.

Seit Aristoteles und durch Aristoteles ist die Meinung verbreitet, dass Platon Raum und Materie identifiziert hat, und Fr. Ast hat dies 1816, Plat. Leben und Schriften Note p. 362 in feiner Weise aus dem Gedankengang Platons abzuleiten versucht. Dass ich anderer Meinung bin, habe ich schon in dem erwähnten Aufsatz der Marburger philosophischen Arbeiten von 1908 gesagt, es handelt sich bei der Ableitung der Körperwelt im Timäos im wesentlichen um eine Kombination Pythagoräischer und Demokritischer Gedanken. Auf Demokrit weist auch die so wichtige Auffassung des Punktes als Streckendifferential, als »αρχή γραμμής«, Ursprung der Linie. Proklos (Friedlein S. 88) sagt, »aber es liegt in ihm verborgen eine unbegrenzte Macht Längen zu erzeugen.«

So hoch das Verdienst Platons um die erkenntniskritische Untersuchung des Raumbegriffs zu veranschlagen ist, so muss doch auch die Sage von Platon als dem Erfinder stereometrischer Sätze als unbegründet zurückgewiesen werden. Er hat dies selbst, so drastisch als man es nur wünschen kann, getan. In der bekannten Stelle der Republik heisst es: »Ausserdem aber legen sie (die Griechen) hinsichtlich der Messung von allem was Länge, Breite, Tiefe hat eine bei allen Menschen vorhandene, eben so lächerliche als schmähliche Unwissenheit an den Tag.«

Kleinias fragt: Welche und wie beschaffene meinst du?

Sokrates-Platon: Mein lieber Kleinias, habe ich doch selbst erst spät davon gehört, wie es mit uns in dieser Hinsicht bestellt ist, nämlich meiner Ansicht nach, nicht wie es sich für Menschen gehört, sondern für Schweine.

Wie es mit den Griechen in dieser Hinsicht bestellt war, erfahren wir aus Thukydides, wo die Griechen den Inhalt einer Insel dem Umfang proportional setzen. Platon ist sicher kein Erfinder stereometrischer Sätze gewesen, sein Verdienst ist auch hier ein methodisches. Durch seinen Umgang mit Archytas und Eudoxos hat er die Bedeutung der Stereometrie erkannt, und die ihm zuteil gewordene Anregung auf seine Schüler übertragen, die denn auch nicht ermangelten die Stereometrie zu fördern.

Platon als Mathematiker.

Eben so falsch ist es, dass Platon die sogen. Analysis zur Lösung der Konstruktionsaufgaben erfunden habe. Dass Platon die analytische Methode gekannt hat, geht unwiderleglich aus Menon S. 87 bei der Frage, ob ein gegebenes Dreieck in einen gegebenen Kreis eingetragen werden könne, hervor. Proklos p. 58: Sie überlieferten die trefflichste Methode, und zwar die, welche durch die Analyse das Gesuchte auf ein anerkanntes Prinzip zurückführt, welche auch Platon, wie sie sagen, dem Laodamas hinterliess, mit der dieser vieles in der Geometrie gefunden haben soll, dann aber auch jene, die auf genauer Einteilung beruht, welche Platon ebenfalls stark betonte. (Für letztere Methode denke man an die Untersuchungen über die Beziehungen zwischen Gerade und Gerade, Gerade und Kreis etc.) Bei Diogenes Laertios III, 25 heisst es:

Πρωτος ὁ Πλατων τον κατα την αναλυσιν της ζητησεως τροπον εισηγησατο Λεωδαμαντι τω Θασιω

Aber Pappos, der im Buch VII seiner Kollektaneen, diesem Inventar Hellenischen Könnens, sehr ausführlich über die Analysis gehandelt hat, erwähnt mit keinem Wort des Platon. Die Sage liebt es eben, alle Heldentaten auf das Haupt des Haupthelden zu häufen.

Aber die Sache ist an sich klar, in dem oben erwähnten Überrest der Arbeit des Hippokrates ist die analytische Methode angewandt, und jede Gleichung ist ein Beispiel derselben, die Verwandlung des Rechtecks in ein Quadrat bei den Indern (S. 159) ist ohne Analyse unmöglich, und im Grunde verfährt jeder Künstler analytisch. Erst muss das Kunstwerk, der Plan des Architekten, im Kopfe fix und fertig sein, ehe der erste Pinselstrich, der erste Spatenstich erfolgen kann. Die Definition von Analysis findet sich Euklid XIII, 5 und sie rührt, wie Bretschneider, Geometrie und Geometer vor Euklides, bemerkt hat, von Eudoxos her: Analysis ist die Annahme des Gesuchten als zugestanden durch die Folgerung hindurch bis zu einem als wahr Bekannten.

Platon hat als Philosoph auf die Bedeutung der analytischen Methode für die Konstruktion und als Beweismittel in jeder Wissenschaft aufmerksam gemacht und grade an der angeführten Stelle Menon S. 87 wird die mathematische Anwendung als Beispiel gebraucht, weil sie besonders einfach ist und Plato sagt selbst: Ich brauche den Ausdruck »Aus der Voraussetzung« so, wie oft die Geometer argumentieren. Ebenso apokryph ist die unter Platons Namen gehende Lösung des Problems der Würfelverdoppelung. In meinem Urteil über Platon den Mathematiker schliesse ich mich völlig Blass an, der seine Dissertation de Platone Mathematico also beendet: nam si amicus Plato, amicior tamen veritas: et is quoque, qui scientiae amorem aliis iniecit, de scientia bene est meritus.

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