Viertes Kapitel. Wer so stirbt, der stirbt wohl!

Inzwischen alles dieses vorging, inzwischen Florentin und Louise bald alle Seeligleiten, bald alle Leiden der Liebe empfanden, inzwischen tausende sich im Vaterlande des braven Landesvaters freuten, welkte unbemerkt, mit jedem Tage mehr eine schöne, vortreffliche Blume.

Fehlgeschlagne Hofnungen, zweimal unglükliche Liebe, Hang zur düstern Schwärmerei, ewiger Harm, bestürmten lange die Gesundheit des liebenswürdigen Fräuleins v. Gülden, die endlich erlag. Ein Heer von Uebeln, eine Kette von Krankheiten schien sich wider das Leben dieses guten Mädchens verschworen zu haben; sie sah ihr nahes Grab, allein ohne Quaal.

Vier Wochen hütete sie schon ihr Krankenlager, abwechselnd mit dem Fieber ringend, und noch hatte sie Florentin nicht ein einziges Mahl besucht. Dies schmerzte ihrem weichen Herzen mehr, als der Abschied von einer Welt, welche doch auch für sie manchen Reiz gehabt hatte. Sie sah kalten Blikkes die ehmahls blühenden Wangen verbleichen, ihre Schönheit verschwinden, ihre Augen erlöschen, und murrte, klagte nicht. Freudenlos sah sie andre um sich her glüklich; ungeliebt, fand sie andre sich liebend; am Rande des schauervollen Grabes schwankend, erblikte sie die Welt noch einmahl in ihrer ganzen Pracht, und so viele Freunde, so viele Freundinnen in ihr, die da heimblieben — und sie blieb ruhig.

Sie sah nicht gern Gesellschafter um sich; am meisten aber waren die Prinzessin Louise und ihr alter, tiefgebeugter Vater, der Herr von Gülden, an ihrem Lager. Am liebsten beschäftigte sie sich aber ausser den Fieberschauern, mit des schönen, geliebten Gustafs halbverwischtem Portrait, oder mit Lavaters Aussichten in die Ewigkeit, welche sie sich vorlesen lies. Aufmerksam hörte sie dann jedes Wort an, und beruhigt und erheitert schwang sich ihr schöner Geist im Gebet vor dem Thron des Allerheiligsten empor.

Wie süs ist doch der Lohn des Weisen oder des Dichters, der einem Scheidenden von diesem Erdeleben die herbe Trennung versüßt, und dem ein Sterbender noch Dank lallet! —

Sie fühlte das Herannahen der lezten Stunde, der Stunde, in welcher ihre unsterbliche Seele einer Welt entsagen sollte, deren sie nur auf einige Augenblikke genossen zu haben schien, eine neue Gegend des Unermeslichen begrüssen sollte, wo ihr vielleicht kein Freund entgegenwandelte, wo nur Gott ihr Bekannter war. Sie verlangte deswegen den Genus des Nachtmahls, und trauernd wurde ihr die Bitte gewährt. Der Herzog, die Prinzessin Louise, der alte Herr von Gülden und einige Freundinnen waren Zuschauer dieser feierlichen Szene. Sie umringten das Bett ihrer gemeinschaftlichen Freundin, und weihten diese heilige Handlung mit ihren Thränen ein.

Der Geistliche bot der Scheidenden alle Trostgründe dar, welche die Religion verleiht; er beflügelte ihre Hoffnungen auf des künftigen Lebens bessre Szenen; lies sie noch einmal einen Heimblik auf die vergangnen Tage richten, und reichte ihr dann das Brod und den Kelch.

Ein Auftritt am Sterbebett ist die schönste Schule für Lebende; darum laßt uns noch einige Augenblikke hier verweilen.

„Warum weinen Sie, Prinzessin?“ sagte Auguste, die sterbende Auguste, und lächelte ihre jammernde Freundin an.

„Sollt’ ich nicht, liebe, beste Auguste?“ schluchzte Louise, und faßte die matte Hand derselben, und drükte sie: „du wirst sterben, o Auguste, du wirst sterben, dich trennen von mir, und Gott, der nur allein die unbekannten Gegenden jenseits des Grabes kennt, Gott nur weiß, ob wir beide einstens uns wiedersehn werden! — — Du warst meine Schwester, meine Gespielin, mein alles; ich sollte nicht weinen, wenn ich das verliere, was mich glüklich gemacht hat? Ich habe dich nicht so glüklich gemacht als du mich.“ — —

„O doch!“ sprach die fromme Sterbende zu ihrer ehmaligen Nebenbuhlerin, mit sanfter, tröstender Stimme.

„Nein, nein, Auguste, so ist es nicht. Ach, vergieb, vergieb! Du verlierst an dieser Erdenwelt nicht viel, eine schönere harrt deiner, da findest du vielleicht den Geist deines Gustaf wieder, da vielleicht alle Seeligkeiten wieder, welche du hier zurükliessest. Aber ich — werde dich suchen, und finde deinen Grabstein!“

„Weinen Sie nicht!“

Auguste. Und wenn Du — wenn Du wüßtest! o Gott!“

„Nein, Prinzessin, wenn ich bitten darf, so schweigen Sie. Ich habe mich losgerissen von allem was irrdisch ist, mein Blik ist auf die Pforten der Ewigkeit gerichtet, meine Wünsche, meine Hofnungen streben nach jenem Jenseits.“

Die Prinzessin schwieg. Auguste v. Gülden sank in einen sanften Schlummer.

Am folgenden Morgen fühlte sie sich so heiter, so erquikt, daß alle ihre Genesung hoften.

„Nein,“ sagte sie: „freut euch nicht; es ist nur das lezte Auflodern des verglimmenden Lebenslichtes.“

Sie lies sich noch einmal zum Fenster hinführen, wo sie eine vortrefliche Aussicht über einen Theil der Stadt und über den ganzen Schloßgarten hatte.

„Nun lebt wohl:“ sagte sie, indem ihr schmachtender, matter Blik bei jeder Staude, jedem winkenden Halme zu verweilen schien: „lebet wohl, ihr schönen glüklichen Gegenden, an deren Reiz ich so oft mit trunkner Seele hing, die ihr mich so oft in angenehme Hofnungen einwiegtet, mich so oft nach Leiden und Thränen beruhigtet! — ja, Gott ist die Quelle des Schönen, darum freue ich mich des gelobten, bessern Lebens nach dem Tode! — — Alles, alles ist schön! alles, alles gut!“ —

Darauf ließ sich die Liebenswürdige zu ihrer kleinen Büchersammlung führen, wo sie fast jedes Buch noch einmal ansah und durchblätterte, dann nahm sie einige Papiere aus dem Schreibepult, liess sich zu ihrem Sterbelager tragen, wo sie denn von mehreren Freundinnen und Freunden den zärtlichsten Abschied nahm, und jedem bei seinem Weggehn mit gebrochner Stimme nachrief: „weinet nicht, denn Gott ist unser, unser ist das Loos der Freundschaft; was bedarf es mehr, um den Traum des Lebens schön zu träumen?“

Ihrem Wunsche zufolge, erschien auch nach einigen Stunden der Graf Florentin von Duur. Sie hatte es so zu veranstalten gewußt, daß niemand ausser ihrem Vater bei dieser Szene zugegen war, und ihn mit den Worten vorbereitet: „Wundern Sie sich nicht, lieber Vater, über das was Sie izt hören werden.“

Florentin trat herein — sie sah den Jüngling, und ihre bleichen Wangen färbten sich unter dem Rosenpinsel der Schaam und Liebe.

Er bat um Verzeihung einen nicht frühern Besuch abgestattet zu haben, aber Auguste selber entschuldigte ihn indem sie lächelnd sagte:

„Sollten Sie jeden Bekannten am Krankenbette besuchen müssen, so würden Sie ja nie heiter werden. Aber mir verzeihen Sie es, daß ich Ihnen vielleicht einige trübe Minuten verursache.“

Florentin. Sie beschämen mich, gnädiges Fräulein; meine Nachläßigkeit, mein Leichtsinn sind mir kaum zu vergeben.

Auguste. Sehr gern zu vergeben, denn ich spielte eine unbedeutende Rolle in der Geschichte Ihres Lebens; allein Sie in der meinigen eine größere, ohne dass Sie darum wußten.

Florentin. Dürft’ ich darum nicht wissen, vortrefliches Fräulein?

Auguste. Nein, so ist es und war es vielleicht besser. Aber ich hatt es mir vorgenommen, Ihnen es einst — und wär es auf meinem Todtenbette — zu bekennen, oder sollt’ ich zu früh aus diesem Leben gegangen, sein, würden es diese Papiere gethan haben.

Florentin. (verwirrt) Gnädiges — — Fräulein — —

Auguste. Ich stehe am Rande des Grabes, getrennt von allen Freuden, allen Leiden dieser Welt, ohne Gram, ohne Sehnen; kein Wunsch keine Hofnung bleibt hier zurük, und deswegen red’ ich offen zu Ihnen, wie ich mirs lange schon vorbehalten hatte.

Florentin. Mögten sie noch lange mit uns bleiben!

Auguste. Nein, so ist es besser; meine Wiedergenesung würde mich nicht glüklich machen können.

Florentin. Vielleicht doch. O, daß ich Sie nicht früher, nicht näher kennen lernte!

Auguste (mit leiserer Stimme) Sehen Sie, Graf, dies war der unglükliche Punkt, welchen zu berühren Sie mir die Mühe überheben. — (mit zitterndem Tone) O Graf! vielleicht daß ich dann nicht hier — nicht jezt — —

Florentin. (mit Thränen) Gott!

Auguste. Nicht izt schon — so früh — —

Florentin. Können Sie mir auch das — auch das vergeben? — — (indem er ihre Hand küßt) Können Sie das?

Auguste. (die Duurs Thränen auf ihrer Hand fühlt) Weinen Sie, Herr Graf? o, zuviel für eine Sterbende, weinen Sie nicht! —

Florentin. Vielleicht — vielleicht bin ich Ihres frühzeitigen Verwelkens — — —

Auguste. Nicht doch! so entwarf die heilige Vorsehung ihren Plan, so mußten Sie handeln, und so mußt ich empfinden. — — Alles unergründlich, mit Leiden verwebt für mich, aber das Wesen, welches für uns eine so planvolle, wunderbare, schöne Welt erschuf, sollte dies Wesen allein planlos in unsern Schiksalen handeln?

Florentin. Ein fürchterlicher, trauriger Plan!

Auguste. Nein, Bester, glauben Sie es nicht! — mir ist freilich noch izt am Ende meiner Tage manches in denselben verworren und dunkel, allein droben, droben erwarte ich Licht; warum sollte der Himmel unsern Eigensinn, unsre Wißsucht zu befriedigen gegen die Ordnung der Natur und des Schiksals sein?

Florentin. Unnachahmliche, Sie — Sie sind meine Trösterin, da Sie selber Trostes bedürfen.

Auguste. Nein, ich bedarf keines Trostes; ich habe meinen Zwek erreicht; Sie sollten mich noch ganz kennen lernen, eh ich die Erdenwelt verliesse, sollten mir Ihr Mitleid gönnen, da ich nicht mehr hoffen dürfte; ich glaubte in dieser gegenseitigen Entdekkung Beruhigung zu finden, und ich fand sie.

Florentin. Daß ich mehr zu Ihrer Beruhigung hätte thun können!

Auguste. Genug gethan! — wollen Sie noch eines, so bitt’ ich Sie, diese Blätter, welche ich zu Anfange meiner Krankheit unter ahndenden Gefühlen des Todes schrieb, an Sie schrieb, mir noch einmal vorzulesen, und hernach, sie keinem andern Ohr und Auge, als den ihrigen anzuvertrauen. — Es sind Träumereien, Schwärmereien, welche Sie als nichts mehr betrachten dürfen. Aber indem ich mich meinen Empfindungen und meiner Einbildungskraft überlies, war ich doch glüklich. — —

Florentin, in die schwermüthigste Seelenstimmung versunken, entsiegelte die Papiere, und begann zu lesen. Oft zitterte, oft brach seine Stimme, aber die Sterbende lächelte holdseelig auf ihn hin, und er fuhr im Lesen fort.

Wer vielleicht aus ähnlichem Hang, vielleicht aus Neugier, oder wider die Langeweile, der liebenswürdigen Auguste Schwärmereien, mit Florentin, zu lesen wünsche, wende sich zum folgenden Kapitel.

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