Florentin schlief seit drei Jahren zum erstenmahle wieder in den väterlichen Zimmern, wo er die Freuden seiner Jugend empfand, als Kind mit der Puppe spielte, als Knabe den Nepos las, und als Jüngling hohe schwindelnde Entwürfe in seinen Träumen realisirte.
Als das Morgenroth durch die zitternden Gardinen seines Fensters spielte, sprang er auf vom Lager, wikkelte sich in seinen Schlafrok und öfnete den Flügel eines Fensters.
Wie schön die Natur nun da ausgegossen lag vor seinen Bliken, erquikt durch das vergangne Gewitter. Eine Sonne emporschwimmend hinter den fernen, blauen Waldeswipfeln; eine Sonne an jedem bethauten Hälmchen! — Jeder Strauch, jeder Baum, jedes Geländer war ein alter Bekannter; jedes Thal, jeder Hügel, jedes umbüschte Bächlein ein Mitkundiger seiner vergangner Freuden.
Nein, denkt er, nirgends scheint doch unsers Herrgotts Sonne,
So mild, als da, wo sie zuerst mir schien.
So lachend keine Flur, so frisch kein andres Grün!
Du kleiner Ort, wo ich das erste Licht gesogen,
Den ersten Schmerz, die erste Lust empfand,
Sei immerhin unscheinbar, unbekannt,
Mein Herz bleibt ewig doch vor allen dir gewogen,
Fühlte überall nach dir sich heimlich hingezogen,
Fühlt selbst im Paradies sich doch aus dir verbann! 2 )
Jezt schmiegten sich an die rosigen Bilder seiner Kindheit die Szenen von gestern. Onkel, Rikchen, und der unbekannte Holder! — Alles alte Bekannte und alte Lieblinge seines Herzens, und ihm izt noch so neu, so lieb, als hätt’ er gestern erst mit diesen schönen Seelen den Liebesbund geschlossen. —
Der Fremde ging über ihm schon auf und nieder; Florentin säumte also keine Minute, zu ihm hinauf zufliegen, und den wärmsten Morgengruß zu grüßen.
Florentin. Sie sind schon früh auf?
Holder. Nicht sehr früh — ich habe seit einer halben Stunde aus dem Fenster gesehen.
Florentin. Nicht wahr, ist es nicht ein schöner Morgen und eine schöne Landschaft?
Holder. Sie haben recht; besonders wenn die Seele so hell, als dieser Morgen, und so erquikt und heiter, als diese Landschaft ist. — Ich empfand sehr viel, als ich die prächtige Natur so in ihrem Erwachen belauschen konnte. — Und dennoch, glaub ich, nahmen meine Empfindungen einen ganz andern Weg als die Ihrigen; — ich bin traurig geworden.
Florentin. Kann Freude die Mutter des Schmerzes sein?
Holder. O wie so leicht, Herr Graf! — Warum, dacht ich, leben in einer so schönen Welt so häßliche Seelen? Warum sind doch mit der größten Vollkommenheit die größten Mängel verbunden! —
Florentin. Eben dies gehört vielleicht mit zur Vollkommenheit — und sind diese Mängel Unvollkommenheiten, nun wohl, so dürfen wir hoffen daß sie, so wie tausend Mängel vor uns, auch noch nach uns ausgemerzt werden. Wir stehen zwischen Tag und Nacht — die Nacht ist vergangen, der Morgen graut schon, und den Genossen des künftigen, spätern Zeitalters ist’s vielleicht aufbehalten den Mittag in vollem Glanze zu sehn. —
Holder. Sie kommen auf die gestrige Idee Ihres gutmüthigen Onkels, da er in Entzükkung rief: o, die glükliche Nachwelt! — Es ist eine angenehme Grille, daß die Bewohner des Erdenrundes sich noch gänzlich ihren Unvollkommenheiten entreissen könnten, — dennoch aber bin ich überzeugt, daß ein Jahrhundert so glüklich und unglüklich, als das andere sein werde, es sei früh, oder spät in der Weltgeschichte vorhanden! — Doch ich bitte, fahren Sie in ihrer schönen Schwärmerei fort Herr Graf!
Florentin. Vielleicht was wir izt Traum, Schwärmerei nennen, daß dieses einst Wahrheit ist! — Dann herrschen gute Fürsten über gute Unterthanen, beide durch einander glüklich gemacht. Die Staaten blühen allesamt, Gerechtigkeit wird gehandhabt, wie sie es werden soll; Richter lassen sich dann nicht vom Golde das Auge blenden, wenn es Schuld und Unschuld erforschen soll. — Fürsten haschen dann nicht mehr nach dem Flitterglanz kriegrischer Ehre; Städte, friedsame Dörfer, lachende Saaten zu verheeren, nennt man Schandthat; wer Länder und Familien unglüklich macht, tausende hinmorden läßt, um einen Titel oder vergeßne Ansprüche der Vorfahren auf einen Strich Erde geltend zu machen, der heißt ein gekrönter Mordbrenner, sein Lohn harrt auf ihn in jenen Tagen, welche jenseits des Grabes dämmern. — Den Landmann seh ich freudig hinter seinem Pflug hertreiben, ohne daß Aberglaube über den Nakken desselben die tirannische Geißel schwingt. — Denk- und Drukfreiheit herrschen, nur von den Schranken gesunder Vernunft begränzt. — Kein neidischer Zensor unterdrükt Schriften, die er, besser zu verfertigen, nicht wagt. — Der Biedre darbt nicht mehr, weil er bieder ist; die Unschuld wird nicht gekränkt, weil sie hülflos dasteht, und dem trauernden Bürger saugen keine Jahrlange Prozesse das Mark aus. — Der Edelmann sucht nicht mehr durch die Thaten der Ahnen zu glänzen, sondern durch sich; schnellt nicht den armen Gläubiger mehr um Hab und Gut, und glaubt nicht geboren zu sein, in diesem und jenem Leben die bürgerliche Kanaille zu scheren. 3 ) — Niedrigdenkende Pfaffen schleichen nicht mehr im Dunkeln umher, sich um Beichtkinder und Seelen zu betrügen, denn ihres Amtes heilige Würde ist ihnen wohlbekannt; über dergleichen Pöbellaster sind ihre Herzen erhaben. — Die Psalmen Klopstoks werden vom heiligen Lehrstuhle gebetet werden; keine tolle Ostergelächter werden fürder das Gotteshaus entweihen; das Volk wird von der Kanzel und Bühne Religion hören. — Wollust, Knabenschänderei und Selbstschwächung werden allgemein verflucht; und Schamhaftigkeit und Ehre eines Mädchens ist Männern und Jünglingen heilger und werther, denn die köstlichste Mitgift. — Leibeigenschaft ist des Staates Fluch; jeder Mensch, auch der ärmste von allen ist reich, denn sein ist der Gottheit goldnes Geschenk — Freiheit! geblieben. — Unbärtige Junker, welche noch oft der Ruthe bedürfen, können nicht mehr den Stoizismus der sklavischen Soldaten mit der Fuchtel ermessen; denn Soldatenstand ist nicht Sklaven- sondern Ehrenstand. — Jünglinge beziehen Akademien und kehren nicht mit Lastern und Seuchen, sondern mit Weißheit bereichert in das Haus der Eltern heim; erhalten Aemter dem Staate zu nützen, die nicht auctionis lege den Meistbietenden verfeilscht werden. — Gelehrte, welche Sanftmuth und ewigen Frieden predigen, zanken sich eben so wenig zum Skandal vom ganzen zuschauenden Publikum über leere Hülsen, als Fürsten privilegirte Diebe, durch Huldigung des Nachdruks, machen! — O Holder! Holder! mein Onkel hat Recht, wenn er ausruft: glükliche Nachwelt!
Holder. (ihm froh die Hand drükkend) Sie sind ein vortreflicher junger Mann, nicht Ihre Schwärmerei, aber das durch diese Schwärmereien hervorschimmernde gute Herz macht Sie liebenswürdig — Graf, bei Gott, Sie verdienen — ich weis Ihren ganzen Lebenslauf, all Ihre schöne Thaten. — —
Florentin. (erröthend zurüktretend) Holder! — schmeicheln Sie mir nicht, ich bin ein junger Mensch! — Könnt ich mir durch schöne Thaten etwas verdienen, so wünscht’ ich die Bewohner der Erde über fünf hundert Jahren noch einmal zu sehn.
Holder. (in glühender Ekstase) Bei dem Ewigen, Heiligen, Verborgnen, schwör’ ichs, — handle schön, handle schön, junger Mensch, und über fünf hundert Jahren siehst Du mich wieder in Deutschland! —
Florentin sah bestürzt den Unbekannten an; sah sein glänzendes Auge hochstarren bei dem fürchterlichen, seltsamen Schwur; sahe seine Lippen beben, seine ernsten Gesichtszüge sich in himmlische Entzükkung verwandeln — und konnte sich nicht erklären, wer dieser Holder sei, ob eine Gottheit in menschlicher Gestalt, oder ein alltäglicher Enthusiast.
Eine unbekannte Simpathie zog beide aneinander; Holder lag um Florentin und Florentin um Holder — die sanfte Morgenstille, das auf beider Antlizzen schwimmende Osten-Roth verfeierlichte die Szene.
Der erste der sich aus dem Taumel der Empfindungen ris, war der Fremde; denn fremder wurde dieser Mann dem Florentin in jeder Minute; je länger er ihn betrachtete, je räthselhafter derselbe erschien. Florentin warf sich auf ein Sofa hin; Holder pakte zusammen und warf sich in seinen Reisehabit.
„Graf, ich habe Dir viel versprochen,“ rief er nochmals dem träumenden Jüngling zu: „aber bei der Wahrheit dessen der da ist und war und sein wird, ich halte mein feierliches Wort, über Jahrhunderte siehst Du mich in Deutschland wieder!“
In eben dem Augenblikke wurden sie beide zum Kaffeetische gerufen.
Sie fanden den Onkel schon bei seiner Tasse, indem er das Morgenpfeifchen mit Behaglichkeit rauchte. Friedrike fast neben ihm, in einem häuslichen Negligée, welches das schlanke Mädchen noch dreimal schlanker machte. — Der Onkel, der den Fremden in Müzze, Pantoffeln und Schlafrok erwartete, verwunderte sich mächtig, als er ihn im weißen Ueberrok, dem runden Hute, gestiefelt und gespornt sah.
„Was Teufel, da fehlte ja wohl nur noch der rothe Mantel, und Sie wären reisefertig! Oho! so haben wir nicht gewettet, Herr Holder!“
„Ich will Ihnen nicht länger beschwerlich fallen!“
„Was beschwerlich fallen? Ein Mann, von dem man sogar in Zeitungen schreibt, der kömmt nicht sobald wieder von mir, wenn er einmal in meiner gräflichen Gewalt ist. — Na trinken Sie!“
Holder trank. Der alte Graf eiferte fort.
„Mit einem Worte, Sie bleiben bei mir, so lange es mir gefällt, und mir wirds lange gefallen, Sie mögen nun wollen oder nicht; Sie müssen!“
„Verzeihen Sie, Herr Graf, ich kann —“
Der Alte ließ Holdern nicht ausreden, sondern stand auf, sezte seine Tasse unausgetrunken nieder, winkte Florentinen, und marschirte stillschweigends mit ihm zur Thür hinaus.
Friedrike. (in einer Weile, nachdem sie bald auf Ihre Tasse, bald auf den Fremden gesehn.) Warum aber wollen Sie uns denn verlassen, Herr Holder?
Holder. (verwirrt) Warum?
Friedrike. (wieder nach einer Pause.) Gefällt es Ihnen bei uns nicht?
Holder. (Rikchens Hand nehmend.) Ach, sowohl! sowohl — aber (mit niedergeschlagenen Augen) ob ich auch Ihnen — Ihnen — und Ihrem Onkel und Ihrem Bruder gefalle! —
Friedrike. Je mein Gott — warum sollten Sie denn nicht?
Holder. (ihr ins Auge blikkend.) Sollt ich wohl, liebes Fräulein!
Friedrike. (von der Seite sehend.) Ganz gewiß!
Holder. Wenn es wahr wäre! wenn es wahr wäre, so wünscht’ ich, wohl ewig hier zu sein!
„Ich glaub es Ihnen leicht!“ erwiederte das unschuldige Mädchen, und über ihr ganzes Gesicht schwamm die liebenswürdigste Röthe.
Mit einemmale hörte man einen fürchterlichen Tumult im Schloshofe; man rannte durch einander her; die Thore wurden zugemacht; ein ewiges, verworrnes Fragen und Rufen, und Klirren der Klingen wie Degenklingen, füllte die Luft.
In eben der Minute trat der Graf mit seinem Neffen sehr ernsthaft herein; er wandte sich zu Holdern und sprach „jezt will ich Ihnen beweisen, daß ich ein Graf bin! kommen Sie her ans Fenster und sagen Sie ob es Ihnen noch gelüstet zu echapiren!“
Sie traten alle ans Fenster — Knechte, Mägde, Hirten und Bauern standen bewafnet da, mit verrosteten Hirschfängern, alten Flinten, Sensen, Stangen, Prügeln und Aexten, und sahn ängstlich bald aufs Schlos, bald auf die verriegelten Pforten, als befürchteten sie eine förmliche Belagerung. Der Verwalter lies sich als Kommendant unter ihnen sehn; er hatte in der Eil den Degen an die rechte Seite geschnallt, und lief in seiner Angst auf und nieder. Ein alter Bauer fragte ihn, was es zu bedeuten hätte, daß sie hier stehn müßten? „Je, mein Gott, rief der Kriegesmann, und klapperte mit den Zähnen vor Bangigkeit: bedenkt nur, ein rother Mantel will zum Thorwege hinaus!“ — Ein rother Mantel? stammelte der ehrliche Bauer: den regiert ja wohl, Gott sei bei uns, der Kobolt! — „Das ist eben der Teufel, ich begreifs selbst nicht!“
Mit Wohlgefallen lächelte der alte Graf auf sein Kriegesvolk hinab, und ließ dann Holdern ein forschendes Nun hören.
„Herr Holder bleibt — gern bei uns, Onkelchen!“ sprach Friedrike und schmiegte sich freundlich an den Alten.
„So bald mich nicht fremde Verhältnisse zu einem andern Vorsaz hinzwingen,“ sezte Holder hinzu: „bleib ich, so lange Sie mir erlauben!“
„Nun das war doch ein Wort;“ entgegnete der Alte, mit einem herzlichen Händeschütteln: „so muß man’s machen wenn man was erpressen will! — Allons, ihr tapfern Kriegesleute da unten, macht die Thore auf, und geht in eure Ställe mit Frieden; der Rothmantel kömmt nicht!“