Viertes Kapitel. Und — das ist Liebe! — — —

Holder blieb nun. Je länger man seines Umgangs genoß, je interessanter wurde der Mann, je mehr man ihn kennen lernte, je weniger wußte man sich aus ihm zu finden.

Er bat sich auf seinem Zimmer Schreibmaterialien aus; er erhielt sie. Mit frühstem Tagesanbruch saß er schon in Papieren vergraben; zuweilen arbeitete er in der Nacht; keiner aber erfuhr woran, oder worin! Er schikte viel Briefe ab; und erhielt noch mehr zurük. — Florentin fand einst ein zerrißnes, von seiner Hand beschriebnes Blättchen, aber die Schriftzüge darinnen waren ihm unbekannt.

Den Tag über unterhielt sich Holder mit dem alten Grafen bald, und bald mit Florentin, oder dessen Schwester. Bisweilen durchirrte man Arm in Arm die Saaten; sah den geschäftigen Landleuten in ihrer Arbeit zu; — oder man ging in den Wald, oder auf einen benachbarten Hügel, von welchem sie oft alle viere der Sonne prächtiges Untersinken anschauten. In trüben, regnichten Tagen saßen sie in einem Zimmer beisammen; Florentin oder Holder lasen vor. Die Bücher gehörten meistens in Friedrikchens Bibliothek, die sie von ihrem Bruder während seiner Universitätsjahre erhalten hatte. —

Bald las man Wielands Simpathien; bald schwärmte man in den neblichten, wilden Thälern der alten Schotten umher, und hörte Ossians Harfe zu Fingals Thaten tönen; bald war Kronegk, bald Gellert, bald Klopstok oder Geßner ihrer Unterhaltung Stof.

Nach einigen Wochen mußte sich der junge Florentin von diesem liebenswürdigen Zirkel trennen, an welchem sein ganzes Herz hing; mußte die benachbarten Edelleute, entlegen wohnende Tanten und Basen besuchen, welche ihn nun wieder einmal nach drei Jahren zu sehen wünschten.

Man pakte alles Nothwendige für ihn ein; Rikchen stekte in jedem leeren Winkel seines Mantelsaks kleine Naschwaaren, von welchen sie wußte, daß Florentin sie gern hatte; der Onkel beschwerte sein Gedächtniß mit hundert Grüßen und beiläufigen Bestellungen an Verwandte und Bekannte, und Holder ermahnte seinen Freund eingedenk jenes schönen Morgens zu sein, und eingedenk der Worte: „handle edel!

Es war ein dunkler, trüber Morgen, als Florentin von seinen Freunden schied. Alle standen um ihn her in geheimer Wehmuth; jeder sah den guten Jungen mit feuchten Augen an — es war, als schwebte um ihnen eine dumpfe, verborgne Ahndung. — Holder konnte sich lange nicht von dem liebenswerthen Jüngling trennen, „leb wohl! lispelte er ihm, nach einem Kusse, leise ins Ohr: vielleicht findest du mich nicht mehr, wenn du zurükkömmst!“

Florentin selber wurde zulezt weichmüthig. Er stieg mit Thränen auf sein vorgeführtes Pferd, und ritte mit seinem Knecht von hinnen. Noch, da er schon funfzig Schritt entfernt war, rief er mit gebrochnen Tönen zurük: „Ihr Lieben, laßt mir Holdern nicht fort — ich muß ihn wiederfinden!“ —

Alle riefen ihm ein lautes Ja nach, und in dem Augenblikke verschwand er aus ihren Blikken.

Jeder schlich bis in das Innerste bewegt zurük; dem Onkel schmeckte den ganzen Vormittag das Pfeifchen nicht; Rikchen konnte nicht strikken, nicht lesen; — Holder wühlte in den dumpfen Molltönen des Fortepiano’s. —

Das Mittagsessen schmekte nicht; mismüthig sezte man sich zum Kaffee nieder.

„Aber sagt einmal,“ hub endlich der Onkel an; „sind wir nicht recht große Narren, daß wir da kopfhängrisch, jeder in seinem Winkelchen, sizen? Der Junge kömmt ja in vier, sechs, acht Wochen wieder, und die vergehen bald; wozu denn nun gemault? — Was wird nicht endlich dann geklagt, geseufzt, geeinsiedlert werden, wenn ich ihn auf Reisen schikke? ’s mus doch so sein!“

Die Vorstellungen des Alten gewannen Eingang bei den jungen Leuten; man suchte sich zu zerstreuen, die Gesichter und Seelen wieder aufzuklären.

„Ich verliere;“ fuhr der Onkel fort: „ich verliere bei seiner kurzen Abwesenheit so wenig, als ihr. Kömmts auf einen seelenvollen Discours an, je nun, so hab ich einen Mann, von dem die Zeitungen sogar reden. Und will sich Herr Holder nicht mit einem alten Manne länger unterhalten, so sucht er Rikchen, und du, Rikchen, und du, wirst, denk ich, mit uns beiden auch wohl zufrieden sein dürfen. Nun also, was verlangt ihr mehr?“

Holder und Rikchen warens zufrieden; sie stimmten völlig dem Onkel bei, und wünschten dem Bruder Florentin eine glükliche Reise.

Holder hatte in der Zeit, welche er auf dem Duurschen Schlosse zugebracht hatte, das unschuldige, schöne Mädchen genug kennen gelernt, um sie — zu lieben, und Rikchen war dem Herrn Holder, troz seines immer ernsten Gesichts, schon in den ersten paar Tagen nicht böse gewesen. Also? — —

„Ach,“ sagte Rikchen in der Dämmrungsstunde des Abends, da ihr Oheim noch, wie gewöhnlich, auf der Jagd war: „ach, Herr Holder, warum hat Sie das Ohngefähr nicht früher zu uns gebracht! Sie glauben gar nicht, wie mir doch manchmal die Zeit lang, und alles so leer, so unangenehm geworden ist?“

Und izt nicht mehr, liebes Fräulein?

„Gewiß nicht mehr. Es ist mir, als hätte sich alles, alles hier, seit Ihrer Ankunft, verwandelt. Jedes Zimmer, jeder Spaziergang, jede Tageszeit ist mir izt angenehmer. Man sollt es sich nicht vorstellen, wie es möglich wäre, daß eine neue Gesellschaft auch alle Gegenstände verneuen könnte!“

Holder wurde roth, er laß in dem Herzen des Mädchens; sie aber bemerkte es nicht, denn es war dunkel.

„Und wie das Ohngefähr so sonderbar spielt! just der rothe Mantel mußte Sie zu uns bringen.“

Dafür ich dem Ohngefähre nicht genug danken kann.

„Ist das Ihr Ernst?“

Mein vollkommner Ernst.

„Ach, wenn das wäre! aber Sie sagen das gewis nur aus Höflichkeit. Denn was könnten Sie bei uns Intressantes antreffen, was Sie, ich sage, ein Herr, wie Sie, nicht allenthalben antreffen sollten?“

O doch, Fräulein, doch manches, was ich nicht allenthalben gefunden habe.

„Zum Beispiel?“

So gute, liebenswürdige Karaktere — eine solche schöne Freundin, wie — Sie.

„Wie mich? Sie scheuen; haben Sie noch gar keine Freundin gehabt?“

Gehabt? o ja, gehabt! aber eine Freundin, von der ich wünschte, daß sie immer die meinige wäre, noch nie!

„Wünschen Sie das auch im Ernst?“ Holder nahm Rikchens Hand in die Seine, und drükte sie schüchtern; Sollten Sie zweifeln können?

„Nun gut, so — so will ichs sein, aber“ — —

Aber?

„Aber ich wünsche auch, daß Sie immer mir — Freund blieben.“

So wahr ein Gott über uns waltet, ja, ich werd es bleiben! — — O Fräulein — o Rikchen — doch werden Sie auch nicht böse, wenn ich Sie so vertraulich nenne?

„Wer über solchen Namen böse wird, ist gewis noch nicht gut gewesen.“

Sie lieben — lieben mich also? ist es gewis?

Rikchen erschrak bei dem Worte lieben. Ihr Onkel hatte ihr oft gesagt; Rikchen, liebe keine Mannsperson, ohne mein Vorwissen, oder du machst dich unglüklich. Freundin kannst du jedem, nur nicht jedem Geliebte sein! Dabei malte der alte Mann ihr das Ding Liebe mit so fürchterlichen Farben vor, daß das unschuldige Mädchen mit Hand und Mund gelobte, nie die Sünde der Liebe zu begehen.

„Lieben?“ stammelte sie Holdern, und wollte das Händchen zurükziehn, und konnt es nicht.

„Und — das ist Liebe?“ — — —

Verzeihen Sie, Fräulein, ich habe Sie beleidigt, mit ahndet es — verzeihen Sie mirs! sagte Holder, ließ ihre Hand selber loß, stand auf, und wollte fortgehen.

Rikchen lief hinter ihm her, faßte ihn mit beiden Armen um, ihn festzuhalten, und freilich, solche Banden waren zu fest für ihn, als daß er sich so leicht hätte loßreissen können.

„Was wollen Sie denn? Sie haben mich ja nie beleidigt, aber wenn Sie von mit gehn, so“ — —

Ich bleibe.

„Und sind doch nicht böse?“ sagte sie in langsamer, bittendem Tone, indeß sie ihn noch immer in der Umarmung festhielt.

Nicht böse! — gab er zur Antwort und sank an ihren Hals. Sein Herz pochte in süßer Angst; seine Hände zitterten, welche das Heiligthum umfaßten; seine ganze Seele war Gefühl der Liebe. Seine Stirn ruhte auf ihrer Achsel, und ihr Mund war seiner Wange zu nahe, um nicht einen leisen Kuß auf dieselbe drükken zu sollen.

Holder fühlte auf seiner Wange die Lippen des Mädchens; er bog sich zurük, begegnete ihrem Munde — die Dämmrung des Abende, die Stille der Einsamkeit machten ihn kühn — er küßte, wurde wieder geküßt, und seine Seeligkeit begränzte die Seeligkeit der Engel.

Unter den tausend unglüklichen Schiksalen welche das menschliche Leben verherben, weiß ich keines das traurigste von allen zu nennen, aber von den hundert frohen Loosen, welche wir aus der Urne des Fatums ziehen, ist das schönste das Loos der Liebe, die Anzahl der Leiden ist groß, aber die geringere Anzahl unsrer Freuden überwiegt dennoch jene am innern Gewicht!

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