Zweites Kapitel. O, der glüklichen Nachwelt!

Hier war eine kleine, angenehme Gesellschaft vorhanden welche voller Ungedult auf den braven von Duur wartete. Nun trat er herein, und mit einem wilden: „O, mein Onkel!“ stürzte ein schlanker Jüngling ihm um den Hals, indessen der Alte freudelallend tausendmahl stammelte: „Mein Florentin!“ — Fräulein Friedrike war mit den andern Gesellschaftern näher getreten; stillschweigend standen sie alle um die Gruppe des Onkels und des Neffen, die lange unbeweglich in eins zusammengekettet blieben. Dem Jüngling flossen einige Thränen vom Auge; der Alte fühlte es, ihm brach das Herz, und er weinte; die Zuschauer wurden gerührt.

„Nehmt’s mir nicht übel,“ hub der Greis an, indem er die grauen Wimpern troknete, und sich zur Gesellschaft wandte: „nehmt’s mir nicht übel, alte Leute sind so leicht, als Kinder zum Weinen zu bewegen. Ich hab’ den Jungen nun seit drei Jahren nicht gesehn; hab ihn nicht früher sehn wollen, um meine Freude zu vergrößern — aber nun, wahrhaftig nun ist sie zu gros.“

Worte machen das Herz leicht und Thränen; man sah ein, daß es nicht wohl anging den ganzen Abend in dieser Attitüde zu verbleiben — also wurden einige Komplimente gewechselt und Entschuldigungen hervorgebracht.

„Unser freundschaftlicher Kreis ist unvermuthet heute vermehrt worden,“ sagte nachher der Graf, und trat zu dem Fremden, der indes still an der Thür stehen geblieben war: „Seht hier Kinderchen, einen neuen Gast, einen Reisenden, den ich unterwegs im Donnerwetter, oder vielmehr, der mich antraf, und so brav dachte, mir altem Manne seinen Mantel aus freien Stükken anzubieten, um mich wider den Sturm zu schüzzen. Es ist, mein Seel, brav gedacht!“

Der Fremde trat näher unter einigen modischen Verbeugungen, und stammelte seine Entschuldigungen. Es war, beim Lichte betrachtet, ein edelgebauter, sogar schöner, junger Mann von ohngefähr sieben und zwanzig Jahren. Sein Anstand verrieth Erziehung, seine Sprache Geist und Welt. Ein unvergänglicher Ernst wohnte auf seiner Stirn, schimmerte selbst durch sein freundlichstes Lächeln. Friedrike meinte, es wäre Melankolie.

Gemach wurde der Ton lebhafter, die Gesellschaft gemischter: den Fremden nahmen zwei ältliche Damen in ihre Mitte, Friedrike hing an ihrem Bruder Florentin, und der alte Papa kapitulirte scherzend mit dem Herrn von Bastholm wegen des Tokaiers.

„Nun, und was haben Sie denn geschossen, Herr von Bastholm zu Bastholmshausen? Ha, ha, ha!“

„Immer doch mehr, gnädiger Herr Graf von Duur zu Duurshausen, ha, ha, ha, doch immer mehr, als Sie!“

„Nun, mein Seel, ich hab’ ja keinen Mükkenflügel geschossen — und das Gewitter — —“

„Den Tokaier aus dem Keller!“

„In Ernst, Brüderchen, sag mir doch, was hast Du denn ergattert?“

„Wie gesagt, immer mehr, als Du. — Sieh doch her — eine Schnepfe! ha, ha, ha!“

„Ha, ha, ha, ha! ja, dann hab ich freilich die Wette verlohren!“

Beide lachten sich beinahe ihrer Wette und Jagd willen krank. Inzwischen war die Tafel gedekt; man sezte sich und as.

„Apropos,“ fing der alte Graf an, dem nichts lästiger war, als lange schweigen: „der Postmeister hat doch die Zeitungen schon herübergeschikt, Rikchen?“

„Ja. Nur gelesen hab ich sie noch nicht.“

„Höre Bruder Bastholm, der Erbprinz ist total kurirt, reitet schon wieder aus und manövrirt mit seinen Soldaten!“

„Weis wohl, lieber Graf; aber daß die dasigen Aerzte sich durch einen vorbeireisenden Fremdling mußten beschämen lassen, das ist doch ’ne schrekliche Blame für sie.“ —

„Nicht so sehr Blame,“ flüsterte ein junger Landedelmann über die Tafel herüber: „Wenn die Ärzte schon das meiste gethan hatten, konnte der Reisende wohl sein Heil versuchen.“

„Um Verzeihung,“ rief der Graf: „der Prinz verschlimmerte sich täglich, und die Mediciner gaben, laut den Zeitungen, schon sein Leben auf. Und dazu kömmt noch, daß der Heiland des Prinzen sehr jung gewesen sein soll!“

„Ein alter, steinalter Mann war’s,“ flüsterte jener: „ich hab’s aus Briefen. Er heißt Ludwig Holder. Sie sehen, ich weiß es genau.“

„Oho!“ fing eine der ältlichen Damen an, „ein Bürgerlicher, der Sr. Durchlaucht kurirte? unmöglich, daran sieht man’s! wenns die Hof- und Leibärzte, der Herr von G**, der Herr von F** nicht im Stande waren — —“

„Ganz recht, gnädige Frau,“ brummte eine Basstimme von der andern Seite des Tisches; „ganz recht! überhaupt, sollte man solchen herumstreichenden Quaksalbern nie das Leben einer fürstlichen Person anvertrauen, und die Renommée der übrigen Aerzte verderben lassen. Wenn ich Herzog wäre, so — —“

„So würden Sie lieber sterben,“ fiel Florentin der Basstimme ins Wort: „als sich von einem unanseßigen Arzt retten lassen! da thäten Sie, wenn Sie Herzog wären, sehr wohl daran!“

Alle lachten, der Baßist selbst lachte, auch der Onkel, der den bittern Scherz gern mit einem drohenden Finger bestraft hätte, wenn ihm nicht der Junge noch zu lieb und zu neu gewesen wäre.

Man stand auf. Die Spieltische wurden vorgerükt; die Pfeifen angezündet; das Fortepiano geöfnet. Jeder suchte seinen Gesellschafter: alles mischte sich von neuem durch einander. Florentin unterhielt einige Damen mit städtischen Moden, und sezte sich zugleich zum L’Hombre nieder; Bastholm und der Onkel spazierten auf und ab; Friedrike spielte ein Lied von Reichard, und der Fremde stand horchend hinter ihr auf den Stuhl gelehnt. — Kaum war der lezte Silberton des Gesanges verhallt: so lispelte der Unbekannte ihr ein: „Sie spielen vortrefflich!“ zu. Das gute Mädchen, das Modell zu einem weiblichen Bilde der Unschuld, erröthete, und erwiederte sehr naiv das Kompliment. Der Unbekannte bat sie weiter zu spielen, und das Mädchen konnt’ es ihm nicht versagen.

„Er ist ja fremd,“ dachte sie bei sich: „und blos, weil er fremd ist, darf ich ihm nichts abschlagen, warum er mich auch bäte.“ Sie spielte; alles wurde still im Zimmer; die mehrsten, welche in kein L’Hombre verflochten waren, umringten den Fremden und die Fortepianospielerin. Die Blike des Fremden ruhten auf des Mädchens Angesicht, und der alte Onkel beantlizte indessen sehr gemächlich den neuen Gast.

„Hören Sie,“ sagte der Greis, da Friedrike ausruhete: „hören Sie, Sie müssen mir die Neugier nicht böse deuten: — darf ich fragen, wie Sie heißen?“

Der Fremde ward verlegen und stokte.

„Sehen Sie nur, der Himmel hat uns so wunderbar durch den rothen Mantel einander bekannt und verbindlich gemacht, daß es unverzeihlich wäre wenn ich nicht einmal nach Ihrem Namen fragte. — Na, ich bitte Sie, wie beißen Sie?“

„Ludwig Holder.“

„I, Mordhimmeltausend noch einmahl! Ludwig Holder? Sie sind doch nicht — —“

„Ich bins.“

Alles war nun in eben der Minute aufgeflogen und um den Fremden gedrängt.

„Um Gotteswillen!“ rief Florentin in eben dem Moment: „laßt mich durch, er ists! eben der Holder ists, der mir das Leben gerettet hat!“ sprachs, und hing dem erstarrten Fremdling am Halse.

„Der Teufel, was ists denn?“ rief die bewußte Basstimme, und kam näher heran.

Jeder stierte mit Augen der Verwunderung den Unbekannten an — alle standen groß und klein in einem Kreise um ihn gedrängt, und man konnte auf den Lippen eines jeden ein Duzzend bescheiden unterdrükter Fragen lesen.

„Nun was hast Du denn mit Herrn Holder zu schaffen gehabt? — das Leben, sagst Du, hat er Dir gerettet?“

„Das hat er:“ gab Florentin dem Onkel zur Antwort: „und hören Sie nur, wie? — Im Winter vor zwei Jahren lokten mich einige gute Freunde auf das Eis hinaus, um in ihrer Gesellschaft auf Schlittschuhen den zugefrornen Fluß hinunter nach einem benachbarten Dorfe zu laufen. Ich schlug es nicht ab, allein eben dieses gefährliche Vergnügen, welches so mancher Jüngling schon mit seinem Leben bezahlt hat, kostete auch mir das meinige beinahe. Als die andern schon ins Dorf gegangen waren, kreuzte ich nur allein noch auf den Spiegelflächen des Eises umher, bald links bald rechts. — Mit einemmahle fühlte ich das Eis unter mir einbrechen, und sah ich von allen Seiten durch die Spaltungen das Wasser hervorquellen. Ein Schauder überfiel mich, meine ganze Besinnungskraft war verlassen — ich sah ängstlich nach Rettung umher, und gewahrte in der Ferne einen Menschen auf dem Eise, — ich wollte ihm zuwinken, ihn um Hülfe anrufen, aber ich war schon untergesunken und in dem Augenblik bewußtlos. Und dieser Holder sah mich sinken, mit der Gefahr seines Lebens erhielt er das meinige; kaum hatte er aber dies gethan, als er sich entfernte, dem Dank auszuweichen. Aber izt dank ich ihm in der Mitte meiner Verwandten, die mich durch ihn, zurükempfangen.“

Der Onkel sprachlos vor Erstaunen und Freude umarmte den wohlthätigen Unbekannten, jeder folgte ihm darin nach, die Damen lispelten ihm etwas Verbindliches und Rikchen drükte ihm sogar die Hand.

„Nu, was zu bunt ist, ist doch zu bunt!“ rief der alte Graf, nachdem der erste Taumel vorüber war. „Wir müssen mehr davon plaudern; allons, Stühle zusammengerükt und die Pfeifen wieder angezündet! — I, i, in aller Welt, wie hätt’ ich mir das träumen lassen können!“

„Mich wundert’s nur,“ sagte die ältliche Dame; „daß Sr. Durchlaucht den Herrn Holder, wegen der glüklichen Kur, nicht in den Adelstand zu erheben geruht haben.“

„Ja wohl,“ sprach der Onkel treuherzig: „in den Grafenstand hätt’ ich den wohl erhoben, der mir das Leben gefristet hätte. Das nenn’ ich mir doch Undankbarkeit!“

„Was und wozu Adel- und Grafenstand?“ rief Florentin enthusiastisch dazwischen: „all das Flittergepuz kann doch den Mann von Talenten nicht um ein Haar größer machen. Ich gäbe meine gräflichen Insignien mit tausend Dank obendrein hin, wenn ich mir auf solche Art Welt und Nachwelt verpflichten könnte. Holder fühlt sich gewiß schon darum belohnt, weil er, und kein andrer, Holder ist. Und was es am Grabe unaussprechlich süß sein muß wenn man sagen kann: die Welt ist mir mehr, als ich ihr schuldig! —“

„Wie der Junge nun da schwärmen kann!“ fing der Onkel an: „aber trösten Sie sich, Herr Holder, die Welt anjezt ist einmal so undankbar, so arg — wir machen uns bei der Nachwelt Schande über Schande. Nicht dumm, nicht eigensinnig war das XVIII. Jahrhundert, werden unsre Nachkommen sagen: sondern schnurgeradehin toll war’s. Wenn ich’s so recht bedenke, mein Seel, so ärgert’s mich, daß ich nicht vier, fünf hundert Jahre später lebe — dann muß es doch alles ganz anders geworden sein. O, die glükliche Nachwelt!“

So schwazte man den Abend hin; bis die Gesellschaft aus einander schied, und jeder sich in die weichen Arme des Schlafes warf.

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